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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Zwei deutsche Leben

Per Leos Roman „Flut und Boden“ schlägt einen großen Bogen
Hamburg

Die Assoziation des Titels mit dem Nazislogan „Blut und Boden“ ist natürlich gewollt und weckt bestimmte Erwartungen. Tatsächlich geht es in der Geschichte primär um den Großvater des Autors, Friedrich Leo, der Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungsamt des  NS-Staates und ein überzeugter Nazi war. Um die Frage zu beantworten, „warum der Alte so geworden ist, was ihn zu dem gemacht hat, der er war“, holt der promovierte Historiker Per Leo weit aus. Er zeigt den Großvater im Zusammenhang seiner gesamten Familie. Wir erfahren nicht nur seinen Lebenslauf, sondern von der Urgroßmutter bis zu Per Leos Tochter lernt der Leser unzählige Familienmitglieder kennen. Für seine Recherche hatte der Autor nicht nur den „Giftschrank“ seines Großvaters zur Verfügung, sondern auch den Nachlass seines Großonkels Martin, der sich  in diesem Umfeld völlig anders entwickelt hat.

„Es gibt meine Familiengeschichte nicht ohne ihn. Das war aber nicht immer so. Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes.“

Damit nicht genug. Denn Friedrich und Martin sind geprägt von den Zeitläufen und den geistesgeschichtlichen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts.  Dass es dem Autor gelingt, bei der Fülle der Themen bei seiner eigentlichen Erzählung zu bleiben, ist eine Stärke dieses Buches, das zwischen literarischer Biografie und Roman changiert. Denn er nutzt die essayistischen Einschübe, um den Charakter und die Entwicklung seiner beiden Protagonisten zu vertiefen.

Beide Brüder besaßen das Buch „Handschrift und Charakter“ des damals bedeutenden Graphologen Ludwig Klages. Dies nimmt der Autor beispielsweise zum Anlass ein ganzes Kapitel über Klages, der schon Thema seiner Dissertation war, zu schreiben, kommt aber auch da letztlich wieder auf Friedrich und Martin zurück.
„Wer war dieser Martin?“ Er war ein zartes Kind, hat die bessere Schul- und Ausbildung als sein Bruder, wird kein Nazi, kein Blut-und Bodentyp, sondern jemand, der schon mit sechs Jahren auf dem Turm des elterlichen Hauses erfahren hat, „was es bedeutet, sich zu bilden.“ Wie häufig in dem Roman belässt Per Leo es hier nicht bei der Beschreibung einer kindlichen Begeisterung, sondern die Tatsache, dass der Junge sich vom höchsten Punkt des Hauses aus im Anblick der Flusslandschaft der Weser verliert, nimmt er zum Anlass von Goethe, Hegel und Karl Philipp Moritz kommend über den Zusammenhang von Nähe und Ferne nachzudenken.

1938 bekam „Dr. Martin Leo“ wegen seiner Krankheit Morbus Bechterew  von den Nazis eine Vorladung zur Sterilisation.  „In Berlin wird zur gleichen Zeit der Papierkram für Friedrich Leos Aufnahme ins Rasse-und Siedlungshauptamt erledigt.“ An keiner anderen Stelle im Buch wird der Unterschied zwischen den Brüdern so deutlich wie hier.

Für Friedrich kommt dieser Abschnitt in seiner Karriereleiter gerade noch rechtzeitig. Denn bisher galt er innerhalb der Familie als Versager: Er hat die Schule ohne Abitur verlassen, macht eine Forstlehre, kann aber kein Förster werden, wird arbeitslos. „Er hat alle Erwartungen seiner Familie enttäuscht.“  Rettung bringt die Ideologie der Nazis: „er will ein deutscher Siedler werden, ein Bauer neuen Schlags, mit völkischem Bewusstsein“. Per Leo beschreibt plastisch welche, Bewegungen, angefangen von den Pfadfindern bis zu dem völkischen  Bund der Artamanen, seinen Großvater beeinflusst haben. Interessant bei dem Vergleich der Geschwister ist, dass Friedrich teilweise die gleichen Bücher gelesen, den gleichen Pfadfindern gefolgt ist und sich dennoch anders entwickelt hat. Warum einer Nazi wurde und der andere nicht, ist letztlich doch nicht gänzlich erklärbar.

Ein sehr interessantes Kapitel ist das über die Religion. Die Leos sind seit Jahrhunderten Protestanten, haben eine Reihe von Pastoren aufzuweisen und doch gehen die Brüder in Bezug auf ihren Glauben seltsame Wege. Dass Friedrich die Amtskirche ablehnt, sich als „gottgläubig“ bezeichnet, nicht kirchlich heiratet und bei seinen Kindern keine Taufen,  sondern Namensfeiern durchführt, passt  zu seine Mitgliedschaft in der SS.  Vielleicht ist es auch folgerichtig, dass er nach dem Krieg dann doch nicht ohne kirchlichen Beistand aus- kommt und bei den Unitariern landet „weil es dort von alten Kameraden nur so wimmelte.“ Aber auch Martin bleibt nicht beim Protestantismus, sondern er hängt der Anthroposophie an und wird später Mitglied der „Dessauer Christengemeinschaft“.
Mehr als alle geistesgeschichtlichen Erklärungen über Friedrichs Charakter erfährt der Leser allerdings durch die Szenen, die  Friedrich im Zusammenhang mit seiner Familie zeigen. Wie seine Ehefrau Trina nach dem Krieg darum kämpfen muss, durch Teilnahme am Gottesdienst als Schneiderin in der Dorfgesellschaft anerkannt zu werden und  wie er seine Kinder in einem selbstgeschaffenen „Wehrdorf“ tyrannisierte. Überhaupt ist das vorletzte Kapitel, in dem die Söhne ihren Vater beschreiben, für mich das stärkste. Nur schade, dass der Autor seinem Vater und seinen Onkeln und Tanten keine Namen gibt, sondern sie nur bei ihrem Geschlecht und Geburtsjahrgang nennt (M 42/ W 36). Davon abgesehen, dass man als Leser dabei manchmal den Überblick verliert, suggerieren die Abkürzungen eine Distanz, die nicht dem Inhalt entspricht. Denn vor allem bei M 41 wird deutlich, dass der Autor sich seinem Onkel nahe fühlt.

Per Leos Roman ist kein Buch, das man so nebenbei lesen kann.  Es gibt auch keine endgültigen Antworten auf die Frage, warum sein Großvater zum Nazi wurde und dessen Bruder nicht. Aber dadurch, dass der Autor die Biografien in den historischen und geistesgeschichtlichen Kontext stellt, bietet er überraschende Einsichten.

Per Leo
Flut und Boden
Klett - Cotta
2014 · 350 Seiten · 21,95 Euro
ISBN:
978-3-608-98017-2

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