Peter Neumanns Gedichte aus dem Nordland
Eines ist vorweg vorsorglich zu sagen: Peter Neumann ist ein unwahrscheinlich guter Dichter. So viel zur Stimmung. Allerdings leidet der 1987 geborene Norddeutsche, wie viele dieser Generation, am Weh der Nostalgie: jene giftige, jegliche empfindsame Erinnerung mit Aspik überziehende Pestilenz.
Gleichsam zeigt uns Peter Neumann, Förderpreis des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen (2008) und Kandidat fürs Arbeitsstipendium des Freistaates Thüringen 2012, Wege aus der verhuschten Verklemmung, die Lord Tennyson schon so unerträglich gemacht hatte, insofern wir bereit sind aus den polierten Schaufelstühlen der wurzelholzverliebten Biedermeier aufzustehen und ins Offene zu kommen.
Nach seinem Debütband »Schonung« (2009) hat Peter Neumann fünf Jahre lang geschwiegen. Nun legt er erneut einen Gedichtband vor. Dieser heißt »geheuer« (edition AZUR, 2014). Eigentlich ist Neumann Philosoph. Trotzdem sind seine Gedichte Gefühlspoeme, die reflektierend voranschreiten, aber keineswegs dabei zu verkopften Ungeheuerlichkeiten mutieren.
Emblematisch für Neumanns Haltung scheint mir das Gedicht mit dem Titel »barfuß«, was uns nicht an den ebenso betitelten chick-flick mit Til Schweiger (2005) in der Hauptrolle erinnern muss: »während das mädchen / im haus gegenüber // aus dem wohltemperierten klavier zu spielen beginnt // achte ich nur auf den regen, der einsetzt, als du / kommst, die hacken // hoch, über das handgeschlagene katzenkopfpflaster«.
Das wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach ist das Brevier für Höhere Töchter, die Insignie für das Höhere-Töchtertum – die Dressur zu einer artigen, gefälligen Kultivierung. Neumann konfrontiert hier aber Kultur mit Natur, mit dem »handgeschlagene[n] katzenkopfpflaster«, also mit einem aus Naturstein gelegten Pflaster, daran die Hände der Menschen nur das Notwendigste tun, um es für den Weg zu fügen.
Die Fingerbeeren der Pianistin (dem »mädchen«) gegen die bloßen Fersen einer Geliebten, die im einsetzenden Regen kommt.
Das Naturerlebnis aber wird akustisch vom Regen initiiert, denn darauf achtet das »Ich« des Gedichts ausschließlich. Im Regen erst begreift das Bewusstsein die seltsame Opposition zwischen der Pianistin und der Barfüßigen, dort erst werden die beiden implizierten weiblichen Figuren zu Optionen – die Musik der einen wird aber zu Gunsten der nackten Schritte der anderen stummgestellt bzw. verschwindet aus dem Gehör.
Das Gedicht entwickelt also ein Werturteil. Am Ende des Gedichts steht es 1:0 für die natürliche Einfalt.
Solche Konfrontation scheint überall in »geheuer« zumindest implizit stattzufinden. Durchflutet sind Peter Neumanns Texte von dem Ideal der Natürlichkeit, sodass darin Anlehnungen an die Intention und die Form des Idylls aufzuspüren sind, wie wir es z.B. bei Coleridges Kubla Khan haben, oder vom späten Goethe paradigmatisch kennen, dem Idyll, wie es William Wordsworth in z.B. »The Solitary Reaper« entwarf oder Richard Wilson oder Hans am Ende unaufhörlich großformatig malten.
Daher schlage ich vor, Peter Neumanns Gedichte im Sinne einer Neoidyllik zu durchdenken: 1) hinsichtlich der Atmosphäre und Topik des Neoidylls sowie hinsichtlich 2) einiger formaler Aspekte.
Atmosphäre und Topik des Neoidylls
In »haus mit herz« heißt es »das herz auf augenhöhe, wenn die nacht / wieder einmal austreten musste // ein bulle im stall, der schon nicht mehr da war / nur noch der schmiedeeiserne // ring in der mauer … gesicht zur wand / wenn ich mit dir rede … raufasertapete, ohne // abendbrot, endlich die herzförmige / aussicht auf den moränenrücken der nacht«.
Das Gedicht überlagert mehrere Themen: zunächst das Bild des Bullenstalls der in der spätindustrialisierten Welt einfach leer steht, darin aber noch der »schmiedeeiserne // ring« existiert, womit die Tiere gefangen gehalten worden sind; das zweite Bild eröffnet die Metapher der »mauer«, wodurch die DDR zum Ort der unfreiwilligen Festsetzung der Bevölkerung wird, darin die kursiv gestellte Rede der Polizei (auch Bullen) brutal wirkt; das dritte Bild gehört in den Bezirk des Familienlebens und wird von den Begriffen »abendbrot« und »raufasertapete« getragen.
All diese Dimensionen konvergieren in der Chiffre der Nacht, wie sie am ersten und letzten Vers jeweils an exponierter Schlussposition steht. Infolgedessen werden die Themen situiert im Reich der Träume, der wachlosen Zeit numinoser, verschwimmender Erinnerung.
Alles ist ein bisschen traurig; alles ist weg, verschwunden und vorbei, was aber das Verschwinden auch ambivalent stimmt – sowohl das der DDR wie auch dem der Bullen im Stall bzw. das Verschwinden der Welt der Kindheit, darin das »abendbrot, endlich die herzförmige« Schlusszeremonie des Alltags darstellte.
Neumann enthält sich hier dem Urteil. Die Themen stehen einfach nebeneinander. Gleichwohl ist dieser Stall, ist dieses Abendbrot, sind all diese Themen doch auch offen für eine retrospektive Verhandlung des Ichs im Jetzt der poetischen Rede.
DDR-Idyll und Familienidyll. Landschaftsidyll und beunruhigte Orte. Man ist an zeitgenössische Inszenierungen von Ödön von Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald« (1931) erinnert: Die reizende Welt der Donaumonarchie schimmert noch kurz auf, nur um bei klarem Verstand durchzittert zu sein von den Schatten, die das Hitler-Reich ankündigten und überall im Stück spürbar sind.
Neumann konfrontiert uns also nicht mit naiven Idyllen. Er spart das Ungeheuerliche nicht aus in seinen poetischen Stillleben. Er hat auch eine lange Tradition, von der er lernen konnte. Sein Idyll reagiert auf eine komplexe Welt, ohne in die Verklärung flüchten zu können.
Während das antike Idyll die arkadische Frische feierte, also die Ursprungswelt exponiert1 und während im Idyll des Barocks bis ins frühe 19. Jahrhundert noch ein ungeniert verklärtes Verhältnis zur unschuldigen Antiquiertheit des ländlichen Lebens besteht,2zeigt uns Peter Neumann hier eine Idylle nachdem alle Idyllen geschändet worden sind.
Man könnte also sagen, ein retuschiertes, auch in die Reflexion aufgenommenes Moment der Schändung und des Ungeheuerlichen gehört zur Neoidyllik Neumanns, wie auch in dem Gedicht »aal in öl«: »herabrauschende rolläden, aus / allen richtungen, der sound von neustrelitz / in den häusern hängen // bilder, animierte fische schwimmen / über ein nachkoloriertes riff / auf dem tentakel einer blauen koralle, müde // arme, im abschiedsmodus / winken, tausende polypen, vom eisigen / nachlassenden licht durchspült«.
Warum rührt uns dieses Bild? Auch hier finden wir uns inmitten der gemütlichen Häuslichkeit einer norddeutschen Welt – es gibt »rollläden«, die dekorativen Bildnisse weisen auf eine kleinbürgerliche Wohnung, darin Drucke mit maritimen Sujets in verzogenen Rahmen die Wände zieren.
Es scheint fast, als sei es eine ohnehin schon mühsam aus den Grautönen aufgehübschte Welt (»nachkoloriertes«). Was sich in den ersten Versen andeutet, bricht mit dem Begriff »abschiedsmodus« auf der Ebene der Reflexion durch, sodass eine Relektüre die Vorboten klar begreifen macht: »herabrauschende rollländen«, selbst die nachkolorierte Druckgrafik zeigt sich als Symbol einer untergehenden, von Tentakeln in die Tiefe gezogene Welt, also ein verblassendes Bild im statischen Wortbild des Gedichts.
Es ist aber nicht nur die Landflucht, die diese Welt unbewohnt zurücklässt; es ist auch eine Kindheitswelt, der das Subjekt des Gedichts schlichtweg entwachsen ist, sodass dieser erwähnte Sound von Neustrelitz auch im Klang der Eigenständigkeit dissonant wirkt. Will sagen: Es ist nicht notwendig, diese Gedichte als depressive Poeme über ein depressive Phänomene zu lesen, die in allen ländlichen Bereichen der entwickelten Welt geschehen. Vielmehr spiegelt sich in dem Gedicht auch eine perspektivische Verschiebung des vorübergehenden Heimkehrers.
Hatte bisher ein gewisser Vitalismus die Pastorale gekennzeichnet, vermischt sich das Naturerlebnis hier mit einem gewissen Nihilismus, den wir vielleicht aus Theaterstücken von Ernst Barlach kennen.
Allerdings zeigen Neumanns Gedichte, wie sehr wir noch arbeiten müssen, bis die Moderne überall angekommen ist, denn offenbar gibt es noch solche Wehmut der Landflüchtigen auch in einer Zeit, darin die Grenzen zwischen Urbanität und Hinterland sich nicht verstärken, sondern verschwinden.
Gäbe es die Gattung »Sommerferien-Gedicht«, so müsste man eine Reihe dieser Gedichte darunter subsumieren. Ein Beispiel dafür ist der erste Text im Band mit dem Titel »norden«. Es ist ein wunderbares Gedicht; nur bleibt es stark retrospektiv:
»über die dürre des sommers, du schliefst
sind die zitronen (gewächshaus) vertrocknet
ich, geübter im blattabwurf, konnte
im kühlen treppenhaus, unter dem nordfenster, wind
kam vom dachfenster her (auch norden)
ja nicht die luft, eine nordische list,
zuerst die stängelfäule, dann das
kratzen im rachen, mit sich verzweigender
furchung und weißlichem saum auf der zunge
um nachsicht bitte, zum trost
streust du mir brausepulver (ahoj) auf die zunge«
Das Gedicht simuliert den Gang der Erinnerung durch ein Bündel an Assoziationen, die uns in anmutigen Momenten befallen mögen: Die Reverie wird fragmentiert – z.B. durch die Apposition eines Gedankens, der die Syntax unterbricht (etwa im ersten Vers »du schliefst«) oder durch die in Klammern gesetzten Begriffe und Phrasen, die wie nachträgliche Epiphanien wirken, die einem erst beim Überdenken einer Sache merklich werden. Interessant aus der letzteren Art ist, dass Epiphanien nicht immer eine eindeutige Referenz im vorausgegangen Text besitzen müssen wie »(auch norden)« - worauf bezieht es sich? Auf das »dachfenster«, das wie das »nordfenster« auch nach Norden offen steht, oder auf »wind« als ein besonderes Feature im Nordland, weil »eine nordische list«, oder bezieht es sich auf alles, was darin gesagt wird, weil als typisch nordisch assoziiert aus der erinnernden Perspektive des lyrischen Ichs, das längst seinen gesamten Kosmos danach einteilt, ob etwas nordisch (also gewohnt) ist oder nicht (also fremd).
Und, ach weh, hätte der Autor der Idilli Giacomo Leopardi (1798-1837) ebenso viel Ergriffenheit gezeigt und ausgerufen: »il naufragar m'è dolce in questo mare« (Schiffbruch ist lieblich mir in diesem Meer.) bei diesen Versen aus den Nordland?
Was wir dem gesamten Gedicht oben noch entnehmen können, ist ein gewisser Hang zur Unschuld: »zum trost / streust du mir brausepulver (ahoj) auf die zunge«. Das Kinderspiel mit einer Brause, die auch nur für den Konsum von Kindern chemisch hergestellt wird, ist wohl Vorzeichen dieser urigen Primärerfahrung.
Das heißt, es gibt zwei Gruppen an Gedichten, die auf unterschiedliche Weise zur Landschaft des Nordens gestellt sind: Es sind einmal die Heimkehr-als-Erwachsener, die das Alte neu erblicken lassen, und es sind sodann die Retrospektiven, die Heimweh-nach-der-Kindheit, die das Alte als Quelle der Herkunft bewusst machen.
Einerseits die Rückkehr Moglis in den Dschungel und andererseits Wendy Darlings Sehnsucht nach Peter Pan. In beiden Gruppen gibt es einen Bruch.
»Il naufragar m'è dolce in questo mare«
Dann gibt es eine weitere Gruppe. Die Gruppe sagt: Uns geht's gut. Sie nimmt das Motiv der Zufriedenheit auf und verortet es in konkreten Szenen, die im Modus des Erinnerns präsentiert werden wie die beiden letzten Verse des Gedichts »zwischen den barschen, dein fuß«: »bis an den buhnen, auf denen wir / sitzen, zwischen den barschen, dein fuß«.
Es dominiert eine gewisse Sehnsucht nach Einfalt, Natürlichkeit, einer Ruhe, gebrochen nur vom ersten Vers, der eine potenzielle Verdüsterung vorwegnimmt: »wie der himmel bedeckt ist das wasser«. Augenblicklich jedoch befinden wir uns in einem Interregnum zwischen Sturm und Sturm.
Oder im Gedicht »spanische oliven«: »die olivenkerne kamen / ganz sauber, halb edelstein / aus deinem mund / der tag verwandelte sich / in glühendes tartan / italienische arien gab es / zum frühstück, die blanken / steine spiegelten / uns kopfüber ins wasser«.
Diese Gedichte feiern die kleinen, nebensächlichen Momente, die Marginalien des Werktages, die wohl als Zeichen der Selbsthabe, des eigentlichen, wertvollen Lebens, des genossenen Lebens ins Spiel gebracht werden, darin jeder Olivenkern kostbar ist wie ein seltener Edelstein.
Peter Neumann errichtet hier privatistische Mikroutopien, die er vermutlich in Stellung bringt gegen eine harte, komplexe, urbane Welt.
Flankiert wird dieser Gegenentwurf zur aushöhlenden Konsumwelt mit einem ganzen Inventar an Dingen von Ehedem: die Geburt von Johannes dem Täufer (Johannisfest), ein alter Kutter namens »peene queen«, der VEB Kranbau, Delfter Porzellan, Leuchterweibchen (ein kurioser Deckenleuchter aus Hirschgeweih und einer Ton- oder Schnitz-Plastik in Form einer Jungfrau), eine Orangerie, eine Milchbar.
Das Lexikon aus Begriffen, die man wohl der norddeutschen Landschaft zurechnen mag, hält auf magische Weise dieses gesamte Bündel an Texten zusammen. Sie verklammern die in etwa Zweidrittel der Texte aufgenommenen Momente und geben ihnen eine lokale Referenz, sodass man tatsächlich sagen könnte, sie sind der Landschaft entsprungen – wie vielleicht diese Erinnerung an einen Freund oder eine Freundin: »wenn wir uns einige tage nicht sprachen / lief ich mit halbem wind aus / der war nicht gut zu binden, woran auch«.
Neumann reagiert hier sicherlich auch auf die sterile Sachlichkeit der Dichtung der 70er-Jahre, auch auf die Hyperaktive politische Lyrik mit ihrer aggressiven, zynischen Kakophonie, oder auf die mehr von der Linguistik als von der Poetik inspirierten experimentellen Lyrik der 1990er-Jahre.
Man sollte nicht eine Art der Dichtung gegen eine andere Art ausspielen. Unterschiedliche Bewusstseinszustände verlaufen in pluralen Gesellschaften synchron. Peter Neumann ist beim Dichten nicht auf Opium, sondern ein stilles Wässerchen; Peter Neumann ist nicht ein lauter Aktivist, sondern barfüßig in der Hängematte – etwa im Gedicht »buchort«: »in den buchten ists / hell, ein schatten streunt / träge, glatt / brennt der see mir / im aug / lose verteilen sich / boote, kanuten / im schilfgürtel, mutter / acht töchter / allein«.
Lou Andreas-Salomé wäre mit diesem Dichter gewiss im Frühlicht barfüßig durchs taunasse Küstengras gestapft.
Was Neumanns Arbeit auszeichnet, ist ein Verzicht darauf, die darin aufgeworfenen Bilder – die teilweise durchaus wie Film-Stills betrachtet werden können – in den Bereich einer überzeitlichen Emblematik einzufügen. Er verzichtet auf die Mythologeme der Klassik. Sooft er beispielsweise eine Anspielung auf ein polnisches Kloster, ein Möbelstück der Renaissance oder ein Fest aus dem Kirchenkalender unternimmt, bleibt das Bild stets konsequent diesseitig. Nirgends geheuchelte Transzendenz. Infolgedessen könnte man sagen, dass diesen Neoidyllen eine impressionistische Qualität zukommt. Die Aufladung geschieht höchstens durch eine Psychologisierung der Landschaft.
Zur Struktur des Neoidylls
Daniela Danz, die ein kluges Nachwort zu diesem Werk beigesteuert hat, bemerkt die »Vokaltendenz«, womit sie wohl die gut komponierten Assonanzen meint, »wobei es nicht nur um Assonanzen und das ganze Arsenal der lyrischen Freuden in postreimender Zeit geht«.
Und es ist in der Tat so, dass Peter Neumann äußerst behutsam am harmonischen Klangbild seiner Gedichte arbeitet. Es gibt kaum harte Brüche, weder durch Unvermögen noch durch Intention. Alles scheint hier aufgenommen in eine helle Klanglichkeit. Es stimmt, dass die Vokale zwischen der Vorder- und Hinterlautung stark schwanken wie hier: »wir atmen sekunden, kursen die routen«, aber die Übergänge werden vorbereitet, wie durch das doppelte Schwa (beide in einer Senkung), welches zwischen dem A-Laut und den beiden U-Lauten vermittelt. Die Worte schmiegen hübsch aneinander; die Prominenz an Stabreimen ist hoch, es gibt zahlreiche Vibranten, alles ist soft, harte Plosive sind häufig nur im Doppelpack/ in Häufungen verwendet oder fast gar nicht. Es gibt kaum rhetorisch frisierte Passagen, die uns an eine klassizistische Grandiloquenz erinnern könnten (obwohl aber Demosthenes bekanntlich gerne entlang der Küste im brausenden Wind seine Reden eingeübt haben soll).
Gleichzeitig bewirkt der massive Einsatz des Enjambements, bei dem häufig syntaktische Einheiten nicht nur auf den Folge-Vers, sondern auf den Anfang einer neuen Versgruppe überspringen. Die Konsequenz daraus paradoxerweise besteht darin, dass der Rhythmus nicht gebrochen ist; vielmehr beginnen die durch die Verse transportierten Gedanken und Bilder zu schweifen.
Die Divergenz zwischen Verseinheit oder Versgruppe und syntaktischer bzw. logischer Einheit führt nicht nur zu weiteren Lesarten, die durch das Betrachten von Einzelversen ermöglicht werden, sondern auch zu einer Lockerung des Lesensverhaltens überhaupt, als ginge man in eine gewisse Trance über, ohne beständig zu sehen, wo man gerade im Text steht. Stattdessen taucht man vollständig in den Lauf und Sprung der Sprache ein. Daher womöglich auch der Effekt, den Daniela Danz in ihrem Nachwort notiert: »[Es bilden sich] Anklänge an nicht Gesagtes und man wundert sich, wenn man das Gedicht ein zweites Mal liest, dass ein Wort, auf dessen Vorkommen im Gedicht man eben noch Stein und Bein geschworen hätte, gar nicht darin vorkommt«.
Das gesamte Gedicht verwandelt sich in einen Locus amoenus, darin die Bäume noch über keine Harte zerspellte Rinde verfügen, darin jedes Echo ein fallender Stein oder ein rufendes Tier sein könnte. Alles ist flüchtig, alles ist ein bisschen entrückt, ein bisschen unbestimmt, bloß Schatten, bloß Silhouette—kein Wunder, dass kaum ein Gedicht darin ist, dass über mehr als 14 Zeilen verfügt, wobei ein Großteil wohl kaum über acht Zeilen reicht. Mehr braucht es auch nicht, denn Peter Neumann siebt die Gold-Nuggets aus den Bächen der Erinnerung und sucht nicht nach Goldminen, um sie auszubeuten. Das muss man sich erst mal getrauen.
- 1. Allerdings sollte man hier auch, etwa wie bei Theokrit das Augenzwinkern der Alten nicht mit dem Pathos der anämischen Nachgeborenen verwechseln, denn auch dieser verstand so arkadisch hold die Schäferinnen, die Geißhirten oder die Syrakuserinnen zu veralbern: »Und hin zum Brunnen leite sie, Tityros, doch vor dem blassen /
- 2. Zuchtbock nimm dich in acht, vor dem libyschen, oder er stößt dich. / Ach! Amaryllis, du holde! Warum doch rufst du in die Grotte / mich nicht mehr, ihm lauschend, den Empfindsamen?« Aber ich will ernst bleiben.[1] Freilich findet man diese naive Haltung auch vereinzelt immer noch bis ins 20. Jahrhundert, etwa bei dem Landschaftsmaler Heinrich Schütz (1875-1946) aus Offenbach am Main.
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