Gegenentdeckungen
Wer über das neue Buch von Peter Sloterdijk schreibt, der ist verleitet, zunächst auf die im Umfeld der Publikation getätigten Äußerungen und Repliken einzugehen, die vielleicht ja dem Buch zusätzliche Aufmerksamkeit schafften, aber nun die Lektüre eher verstellen: Was 348 Seiten einnimmt, das läßt sich eben nicht in Statements von wenigen Wörtern sagen, selbst wenn Sloterdijk mitunter Einfachstes in Sätze gießt, neben denen manche Hypotaxe Kleists sich wie eine knappe SMS ausnimmt. Inwiefern Sloterdijk dabei Unrecht getan wird, wenn er einen Staat auch durch dessen souveränes Territorium definiert, also durch Grenzen, die zu bagatellisieren bedeutet, die res publica zu demontieren, sei es für Anarchie oder die daran meist anschließende Privatisierungen, ob es also „rechts” ist, was er sagt, oder nicht im Gegenteil ein Unwille darob, daß die europäische Bevölkerung sich unter dem Label der Menschlichkeit auch gleich Umwälzungen verkaufen läßt, die dem Neofeudalismus jedenfalls gefallen können, ob also das von ihm Vorgebrachte ein „linker” Diskurs ist, das sei hier aber nicht verfolgt.
Stattdessen: das Buch. Offenbar historisiert sich das letzte Jahrhundert, in all seinen Widersprüchen, von Genoziden bis zur Negativen Dialektik, von Voraufklärung bis Postmoderne. Sloterdijk versucht in seiner bekannten Verbosität, aber auch Brillanz, einige Möglichkeiten zu skizzieren, was denn nun aber wirklich im 20. Jahrhundert geschah, in dem Sinne, daß es uns prägte. Den vielleicht am wenigsten übersehbaren Aspekt betreffend, daß das letzte Centennium die Population der Welt veränderte, bedenkt er dabei zuerst, und zwar abklärend: Auch acht oder neun Milliarden Menschen sind eigentlich nichts, mit Lem imaginiert er, daß alle Menschen, wären sie im Meer, den Meeresspiegel um keinen hundertstel Millimeter veränderten. Wer, so könnte man daran anschließend sagen, die Flüchtlinge als „Flut” oder „Überrollendes” imaginiert, der sitzt einer Inszenierung auf, noch viel mehr Migration gäbe noch immer nur ein „Aufplätschern”, falls man in einer depersonalisierenden Metaphorik denn verbleiben wollte… Ein Vielfaches der Wirkmacht des Menschen ist schon in Masse ausgedrückt dagegen das von ihm Verwaltete, 1,5 Milliarden Rinder sind noch immer im „Bereich der Quasi-Gewichtlosigkeit”, aber die Masse betreffend das Fünffache der Menschen. Und erst recht gilt das von den „pyrotechnischen und architektonischen Kompensationen” aka Behausungen der Menschen, der Technik und dem, was sie sonst noch aus Notwendigkeit oder halluzinierter Teleologie, „»Kreditismus« oder »Inventionismus«” – es bedürfe einer „Kritik der narrativen Vernunft” – schaffen.
Daraus folgt keine Lehre, bloß eine von vielen – wichtigen – Fragen Sloterdijks: Ob so fatal sein müsse, was sich auf dem Raumschiff Erde (Buckminster Fuller) zuträgt, ob „Ignoranzmanagement” wirklich Odo Marquards berühmter „Inkompetenzkompensationskompetenz” vorzuziehen sei, „das Raumschiff Erde besitzt keine Ausgänge, weder für den Notfall noch für den Normalfall.” Jules Vernes Bild von Phileas Fogg, der das eigene Schiff verfeuert, ist das Wagnis des sich überbietenden Paradigmas, aber als „Weltmetapher” etwas ungut… Die „Erdatmosphäre (ist) ein sensibler Deponieraum”, so Sloterdijk mit seiner Gabe für Zuspitzung qua Nominalisierung und Metapher, worauf zu sagen, er sei „ein würdiger Nachfahre von Nietzsche und Adorno in der philosophischen Kalenderspruch-Schmiede”, eher nahelegt, dem Feuilleton, dem nichts Klügeres als Replik auf dieses Buch einfällt, das Si tacuisses ins Gedächtnis zu rufen.
Wie aber wäre der Frage, denn so benannt ungelöst ist, zu begegnen? Nicht der Souveränitätsverzichte und Privatisierungen, aber auch nicht durch „Heuchelrhetorik”, die derlei sowieso in Wahrheit hilft – sondern durch eine intelligentere Globalisierung.
„Auf diese Weise wird die Globalisierung paradox gegen ihre eigene Grundtendenz wirksam: Indem sie auf der ganzen Linie Expansionen durchsetzt, erzwingt sie Beschränkungen auf der ganzen Linie.”
Wohlstand für alle ist auch „Frugalität für alle”, heute: bereits eine „Maximalstress-Kooperation”, während eine „ausbeuterische […] Komfortzivilisation” offenbar nur mehr die Reihenfolge im Tode aller bestimmen könnte. Daß man unter diesem Gesichtspunkt die „Kampffortpflanzungen” kritisch sehen darf, die Sloterdijk im arabischen Raum beobachtet, liegt nahe, daß er, wo dies nicht als Problem, sondern als Rassismus gelesen wird, seinen eigenen „polemophilen Stressprogramme(n)” sich ausgesetzt sieht, ist aber ebenfalls erwartbar. Und wie sehr eine Region „demographisch erkaltet[e]” sein soll, ist auch eine Frage; Überalterung und Generationenvertrag sind hier nicht oder mit Schieflage verhandelt.
Vielleicht aber ist dies schon ein Medienproblem:
„Amerika entdecken und den Globus darstellen sind sinngemäß dieselbe Aktion in zwei verschiedenen Medien”,
wiewohl Frage, Deutung und Wertung in manchen Passagen doch bei Sloterdijk ineinander fragwürdig übergehen. Immerhin, Entdeckungen verlangen „Gegenentdeckungen”, also Deutungen Gegendeutungen, die man von Sloterdijk nicht auch noch einfordern kann. „Überlistung zugunsten des Überlisteten” gestattete, dies als Prinzip wider Partikularinteressen zu lesen, so Sloterdijk mit Hegel: Globalisierung müsse intelligenter werden, für alle; das kann auch Wetten inkludieren, etwa über errechnete oder spekulierte Topiken, wonach aber plötzlich dieses oder jenes diesem oder jenem „»gehören«” mag, meist ein „abgründig banale(r) Satz”, wie er auch bilanzierend das 20. Jahrhundert in Frage stellte – ob es gewesen sei. Gerade die Dekonstruktion als situatives Manöver könnte in dessen Gerede helfen, wieder zu zeigen, wie Faktisches – schon wörtlich – gemacht ist, die „Semiodynamik” anders zu beeinflussen, durch etwas, das diesem Spiel nicht etwa es entgegensetzt, sondern überhaupt dieses Spiel wieder eröffnet, das Wahrheit immerhin denkbar macht, in jenem Spiel und seinen Spannungen: im Archiv.
Wie das bei Sloterdijk auch wieder dahingehend verkrempelt wird, daß der „Begriff” diesem Ansatz „sein eigentlicher Wirkungsbereich” sei, ist eine der argumentativen Schwächen – wie ein Denken advozieren, ohne ihm zuzugestehen, daß, was in ihm wirke, auch aus ihm wirke, also den „sympathischen Kategorienfehler”, den Sloterdijk sieht, auch auf ihn zu beziehen, darauf, daß aus seinen Büchern sich ja auch nicht unbedingt Revolutionen ergeben mochten, Fortschritte, all das, was zu verlangen naiv wäre, teleologischer Rausch, an dem Sloterdijk sich nicht messen lassen will, wenn man seine Antworten auf die tatsächlich reichlich unausgegorenen Zwischenrufe von Precht & Co. nun doch zur Kenntnis nimmt, was diese Rezension eigentlich nicht tun wollte. So bleibt dem „Messias das Unerledigte”, oder auch nicht, was ein Vorwurf ist, aber nur an andere…
Die „Purgierung” bleibt aus, das Purgatorium wird zum Limbus oder zur Hölle, aber die Metaphern kleiden das wohnlich aus – so könnte man gegen diese Momente des Buchs vorbringen, wären da nicht wie gesagt die Problematisierungen, die stehenzulassen manchmal besser gewesen wäre und sich im aus moderierten Essays gefügten Buch auch formaliter oft aufgedrängt hätte. Dies ist denn auch der Eindruck, der bleibt, gegen Sloterdijk läßt sich einiges vorbringen, immerhin aber mehr, als ohne Sloterdijk, anregend ist sein Buch allemal: und wo fragwürdig, dann im besten Sinne der Frage würdig.
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