Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Der Status Quo des Digitalen

Erkenntnisdrang und Exhibitionismus: Warum es uns so schwer fällt, der Datenkrake zu entkommen
Hamburg

„Die heikelste Liebesbeziehung des 21. Jahrhunderts“ nennt Roberto Simanowski unsere Hassliebe zu Big Data – jenen unvorstellbar großen Datenmengen, die im Internet gesammelt, verarbeitet und ausgewertet werden. Als Staatsbürger wollen wir unsere Privatsphäre schützen – doch als Konsumenten und soziale Wesen gehen wir wesentlich freigiebiger mit unseren Daten um. Ein Dilemma, dem der Medienwissenschaftler, der an der Universität Basel und an der City University Hong Kong lehrt, in seinem neuen Essay „Data Love“ nachgeht. Wie die meisten seiner Netzkritiker-Kollegen ist Simanowski ein „Digital Immigrant“ (Jahrgang 1963). Jedoch deckt sich seine Argumentationslinie vor allem mit der des 20 Jahre jüngeren Evgeny Morozov, dessen Buch „Smarte Neue Welt“ 2013 Furore machte.

Wie Morozov fragt auch Simanowski, anknüpfend an den NSA-Skandal, wie sinnvoll es heute noch ist, „den mündigen Bürger gegen  den unterdrückenden Staat in den Ring“ zu schicken. Diese Sichtweise beharre auf einer längst überholten Orwell’schen Feindlogik; in Wahrheit hätten wir unsere Mündigkeit längst abgegeben. Und zwar an den Algorithmus, der – vorgeblich wert- und moralfrei – gesichtslos und damit unangreifbar bleibt.

Wir wollen anonym bleiben, aber wir wollen auch den smarten Kühlschrank, der automatisch Einkaufslisten erstellt, die intelligente Gabel, die misst, wie schnell wir essen, und den Sportschuh, der verspricht, uns Dinge über uns selbst zu erzählen, von denen wir bislang noch gar nichts wussten. Dass uns  die Befreiung von banaler Logistik in eine fatale Vorhersehbarkeit zwingt, Zufälle und Anderssein ausschließt, hat Morozov bereits auf ähnliche Weise in „Smarte Neue Welt“ aufgezeigt.

Doch wo Morozov eher pragmatisch und anschaulich daherkommt, betrachtet Simanowski Big Data viel umfassender als geschichtsphilosophisches Problem und erweitert es um seine anthropologischen und psychoanalytischen Dimensionen.

Erkenntnisdrang und Vermessungslust sind keine neuen Phänomene – sie lassen sich bis zur Aufklärung und darüber hinaus zurückverfolgen. Simanowski zitiert Zygmunt Bauman, Mercedes Bunz und Sherry Turkle, aber auch Lessing, Shakespeare, Adorno und die Bibel. Ganz ohne kulturpessimistisches Lamento kreist er die Frage ein, wo sich wirtschaftliche und politische Interessen an menschliche Grundbedürfnisse andocken und diese gezielt für ihre Zwecke ausnutzen, und wo das Digitale möglicherweise bestimmte Bedürfnisse erst kreiert oder zumindest verstärkt. Definitive Antworten liefert er natürlich keine – versucht er doch gerade das allzu simple Schema des Ja/Nein bzw. Gefällt-mir/Gefällt-mir-nicht zu vermeiden, das keinen Raum mehr bietet für Ambivalenz, Ironie und Skeptizismus.

„Data Love“ ist eine treffende, bisweilen erschreckende Zeitgeistdiagnose. Und das, obwohl sie sich weitenteils wertfrei gibt. Ob „der Wechsel von der Vorsicht des Intellektuellen zur Neugier des Erfinders und Entrepreneurs“, die  „Akzentverschiebung vom Prozess zum Produkt“ gut oder schlecht ist, lässt Simanowski erst einmal offen. In jedem Fall bedeuten diese Entwicklungen eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung, deren Konsequenzen wir heute noch gar nicht abschätzen können.

Mit den netzutopischen Vorstellungen, neue Technologie sei per sei innovativ, räumt Simanowski jedenfalls auf. Im Gegenteil – heutzutage diene „Innovation“ beinahe ausschließlich der Lösung konkreter Probleme. Wobei „Problem“ zumeist das meint, was sich der schnellen Wissensbeschaffung oder der massenhaften Verkäuflichkeit eines Produkts in den Weg stellt. Durch die zunehmende Zurichtung von Kultur und Wissen auf marktwirtschaftliche Interessen würden Neuerungen und radikale Brüche tatsächlich eher verhindert als befördert.

Was wir sehen, ist nicht etwa das, was in den Weiten des Internets vorhanden ist, sondern wird punktgenau unseren vorherigen Suchanfragen, Kaufentscheidungen und Interessenbekundungen angepasst. Längst befinden wir uns in einer sogenannten „Filter-Bubble“, einem Informationskokon der permanenten Selbstbestätigung und -verstärkung.

Wie also sollen wir uns lösen aus der zwiespältigen Umarmung der Datenkrake? Oder besser noch: Wollen wir das überhaupt?

Die Vorschläge anderer Netzkritiker, das Internet komplett zu boykottieren, Daten absichtlich zu „verunreinigen“ oder alternative Kommunikationswege zu nutzen, schätzt Simanowki als unrealistisch ein. Zu groß seien die Verlockungen und Bequemlichkeiten, die das Digitale bietet – und die Angst, von bestimmten Leistungen, Diensten und sozialen Kontexten ausgeschlossen zu werden.

Die Spionageskandale der vergangenen Jahre hätten wichtige Diskussionen rund um Data Mining angestoßen – allerdings blieben sie in der Symptomatik stecken und fragten nicht nach den Ursachen unserer sich wandelnden Verhaltens- und Denkweisen. Der stille Siegeszug des Algorithmus, der uns zunehmend unserer Entscheidungsfreiheit beraubt, muss überhaupt erst sichtbar gemacht und öffentlich besprochen werden. Deshalb darf es für Simanowski im Bereich der Vermittlung neuer Medien nicht länger nur um Nutzungskompetenzen gehen, sondern vor allem um Verantwortung und Technologiefolgeabschätzung. Dass hier keine einfachen Antworten zu erwarten sind, ist klar –  letztendlich behandelt „Data Love“ nicht weniger als die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen.

Roberto Simanowski
Data Love
Matthes & Seitz
2014 · 189 Seiten · 14,80 Euro
ISBN:
978-3-95757-023-9

Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge