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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Berlin Wildnis Brandenburg

Der produktive Theatermann Roland Schimmelpfennig hat ein Buch über Berlin und Brandenburg geschrieben, dessen unkonventionelle Ästhetik ein wenig Arbeit von uns verlangt, aber seinem Gegenstand angemessen ist.
Hamburg

Nominiert - Leipziger Buchpreis 2016 - Belletristik

Über die ersten zwei-drei Seiten des Buchs mit dem sperrigen Titel "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" hin (oder ging das nur mir so?) ist man sich nicht ganz sicher, ob man sich da nicht am Anfang einer Zusammenbruchsvision à la Hanekes "Wolfszeit" befindet. Ein paar falsche Fährten in diese Richtung sind gelegt: Das Buch beginnt mit dem "Hereinbrechen" eines Wolfs, der sich langsam und in Schleifen durch Brandenburg auf Berlin zubewegt; die Szenerie der ersten paar Absätze bietet Schneesturm, Feuer an Horizonten, Stau, Menschen, die den Elementen ausgesetzt sind, die latente Drohung gekappter Kommunikation... Die Atmosphäre, die dieser erste Eindruck erzeugt, verlässt einen die weitere Lektüre über nicht, auch wenn sie in den Hintergrund tritt. Faktisch liegt da auch überhaupt keine Endzeit vor, kein Mensch-dem-Menschen-(hihi)-Wolf ereignet sich - wir sehen bloß ein paar Leuten zu, die auf verschiedene Weise den Weg dieses Wolfes kreuzen, mit dessen Weg das Buch beginnt und endet. Manche der Dinge, die diese Menschen erleben - nicht alle - passen zu dieser Atmosphäre: harsche Abenteur, die bis auf unwesentliche Details in der Staffage auch schon in der Bronzezeit hätten spielen können ...

Die Sprache des Buchs - von einem "Roman", wie der Verlag ihn auf dem Umschlag ankündigt, mag ich nicht sprechen - ist geprägt von kunstvoll-kunstlos ins Werk gesetzter Knappheit, von Aufzählungen, von reflektierterweise unrefelektiert verwendnetem, unkompliziert-stetem Wechsel zwischen auktorialer dritter Person, innerem Monolog, beschränkter Sicht. Diese Sprache ist nicht Alltagsrede, aber auch nicht die gewohnte "Sprache der Romane". Vielmehr wirkt sie wie die Sprache einer Materialskizze, eines Zettzelkastens für ein anderes, ungeschriebenes Buch; eine Aufzählung des Inhalts, welche Info und welche Entwicklung an welcher Stelle kommen muss.

Es steht Schimmelpfennigs Buch diese besondere Sprache wohl an. In ihr verwirklicht er ein Erzählen, das nicht wirklich eines ist; den Nachvollzug der Bewegungen seiner Figuren zwischen Brandenburg, Dorfstrasse, Wald einerseits und Berlin, Wohnungen, S-Bahn-Netz, Baustellen andererseits - also: Tatsächlich ihrer Bewegungen durch den physischen Raum. Diese Bewegungen scheinen für sich genommen jeweils ihre Eigengesetzlichkeiten, Auslöser, Geschwindigkeiten, Ziele zu haben - erst in der Zusammenschau erschließt sich, dass sie Teile eines Ganzen sind; nicht "einer Geschichte", sondern bloß eines Fließgleichgewichts...

Was uns diese Zusammenschau dann offenbart, das wir anders nicht gesehen haben würden, lässt sich als Psychogeographie von Berlin-Brandenburg beschreiben, in der keine echte Grenze zwischen Land und Stadt, Wildnis und S-Bahn-Netz gezogen werden können; als synchrone Draufsicht auf soziale Wirklichkeiten, die parallel existieren und die sich - eben: Psychogeographie - nie ganz von der banalen physischen Existenz, der Verausgabung von Kräften, der Vernichtungsdrohung durch die Elemente emanzipieren wird. Ein Haus im Prenzlauer Berg, das dabei ist, "entkernt" und aufgewertet zu werden - genauer: die Wohnung der zwei unentwegten, über neunzigjährigen Mieter im Erdgeschoss dieses Hauses, denen man schon den Strom abgestellt aht - stellt so etwas wie die ruhende Mitte dieses Fließgleichgewichts dar, als das "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen ..." erscheint.

Von den Figuren, die Schimmelpfennig auf die Reise schickt, am sympathischsten - und zugleich am archetypischsten, am wenigsten mit eigenen Persönlichkeiten befrachtet - sind die zwei Halbwüchsigen, die sich aus dem Dorf in der Einöde auf den Weg nach Berlin machen (und zwar Winters, zur Fuß, durch 20 km Wald). Am unsympathischsten - und, was unangenehm auffällt, wohl auch vom Autor absichtsvoll als Antipathiecontainer geschaffen - ist das Späti-Betreiber-Pärchen mit seinen Allüren davon, welche Funktion es fürs Viertel, für die Nachbarschaft einnimmt (bzw. einzunehmen sich pompös einbildet). In weiteren Rollen: Der Alkoholikervater des einen der beiden Kinder; die Mutter des anderen, eine frustrierte, bloß früher erfolgreiche Künstlerin; der "Protagonist" Tomasz und seine untreue Freundin Agnieszka (ich schreibe Protagonist, weil diese beiden im Gegensatz zum restlichen Personal Namen haben, ich schreibe es in Anführungszeichen, weil ausser diesen Namen nichts Tomasz und Agnieszka über die anderen Figuren hinaushebt); der Jäger, der ganz zu Anfang stirbt, womit er den Weg eines sozusagen inversen "tschechowschen Jagedgewehrs" durch viele Hände freimacht; und noch einige andere.

"An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" nutzt die Wucht seiner archaisierenden Erzählweise effizient; zeigt uns, sagen wir, das Nebeneinanderexistieren der objektiven sozialen Klassen und der subjektiven Privatkosmen im physischen Raum. Damit ist das Buch unbedingt lesenswert.

Roland Schimmelpfennig
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
S. Fischer Verlage
2016 · 256 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-10-002470-1

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