Nine eleven in Chile
Wie schwer ist das Singen, wenn ich den Schrecken singen muss. Diese Worte stammen von dem legendären Victor Jara, der dazu Gitarre spielte, ehe ihm Militärs im Estatio Chile die Finger brachen. Von diesem Schrecken berichtet auch der idealistische Ich-Erzähler, der junge Deutsche Hans Everding, in den ersten Zeilen des Romans.
Während draußen geschossen wurde, blieb ich in meinem Zimmer, hungrig, in dumpfer Sorge vor einer Infektion, in Gedanken bei Ana. Ich tat nichts als darauf zu warten, dass sie mich holten.
Es ist Dienstag, der 11. September 1973. Gerade haben die Militärs im Auftrag von General Pinochet gegen die sozialistische Regierung geputscht und den Regierungspalast Moneda bombardiert. Allende begeht Selbstmord und die Hauptstadt versinkt im Chaos der Verfolgungen seiner Anhänger. Hans selbst, den alle Juan nennen, hat gerade in wilder Flucht einen Koffer mit wichtigen Unterlagen eines Projektes versteckt, Skizzen, Blaupausen, taxonomische Diagramme, ein paar Diapositive und Magnetbänder, denn unter keinen Umständen durfte etwas davon den Faschisten in die Hände fallen. Seine Sorge ist berechtigt, kurz darauf wird er verhaftet.
Es sind die Überbleibsel von SYNCO, einem Projekt, das in den Siebziger Jahren tatsächlich stattgefunden hat und im Nachwort bedankt sich der Autor bei den Verantwortlichen des damaligen Teams, die mit ihm nicht nur ihr technisches Wissen teilten, sondern ihn an ihrer anhaltenden Begeisterung für das Projekt teilhaben ließen.
Der Protagonist Hans Everding hat Industrie-Design studiert und ursprünglich ist er im Auftrag des chilenischen Verbandes für Wirtschaftsförderung, der Corporación de Fomento de la Producción, kurz CORFO, ins Land gekommen, um Studenten zu unterrichten, Konstruktionspläne für Landmaschinen sowie Produkte des täglichen Bedarfs zu entwerfen, um den alltäglichen Mangel zu lindern.
Eher zufällig gerät er in das Team des englischen Kybernetikers Stanley Baud, der im Auftrag und unter Kontrolle der Regierung so etwas wie a kind of decision-machine konstruieren will.
Wir lassen Chiles Wirtschaft vom Computer simulieren und spielen auf diese Weise verschiedene Szenarien durch. Zum Beispiel setzen wir die gesamte Warenmenge eines einzigen Tages in Beziehung zur Inflation, zur momentanen Kaufkraft der Bevölkerung, damit zum erwarteten Absatz, zum Aktienmarkt und so weiter. Die Parameter sind völlig variabel. Auf diese Weise können wir den Produktionsbedarf vorhersagen und Engpässe verhindern, bevor sie entstehen. Unser System wird nicht nur alles wissen, was in chilenischen Fabriken in einem bestimmten Moment passiert, sondern auch, was geschehen könnte.
Hans war in diesem Konzept für die Konstruktion des Operationsraumes (Opsroom) vorgesehen. Er macht sich, wie alle in dem Team, mit Begeisterung und Überzeugung an die Arbeit, entwirft einen futuristischen Raum mit Sesseln voller Knöpfe, die die auf Bildschirmen einlaufenden Daten kontrollieren sollen. Auch die anderen technischen Anordnungen dieses Cybersyn-Systems, seine Probleme und Erfolge werden im Verlauf der Handlung detailgenau erläutert. Dabei werden Begeisterung und der Feuereifer der im Team vertretenen Hauptfiguren, die alle in unterschiedlichen Abstufungen den Sozialismus Allendes unterstützen, plastisch geschildert.
Dass der Autor die erfundenen Figuren im Rahmen wahrer Begebenheiten und Zusammenhänge agieren lässt, verleiht dem Roman eine große Authentizität. Es ist diese Mischung zwischen Dichtung und Wahrheit, die die Handlung so spannend macht. So ist es eine Tatsache, dass das System bei dem großen Fuhrunternehmerstreik 1972 genutzt wurde, um regierungstreue Lastwagenfahrer für den Transport lebenswichtiger Dinge zu mobilisieren. Gleichzeitig füttern im Roman Hans und seine Kollegen in guter Absicht die Computer mit Daten von Regierungsgegnern, was für diese später dann so gefährlich wird.
Um die Entwicklung des Projektes, die unterschiedlichen Meinungen im Team sowie die Ereignisse darstellen zu können, lässt der Autor seinen Ich-Erzähler an vielen Diskussionen teilnehmen, in denen unterschiedliche Sichtweisen auf die Ereignisse deutlich werden. Als Beispiel sei der linksradikale Emilio genannt, dem die Reformen Allendes nicht weit genug gehen. Und seine Freundin, die etwas undurchsichtige Ana, in die Hans verliebt ist, der er aber gleichzeitig misstraut.
Besonders raffiniert gestaltet Sascha Reh die Verhöre, denen sich Hans unterziehen muss. Dabei benutzt er die Fragen des Comandante Ignacio Brauer als Stichworte, um in seiner Antwort rückblickend das Projekt zu beschreiben.
»Was genau war Ihre Aufgabe?«
»Ich habe«, hier überlegte ich lange und hätte es, selbst wenn ich gewollt hätte, kaum zu erklären gewusst. Jeder in unserem Team, auch Ana, selbst Alfonso, war am Schluss für alles zuständig gewesen. Wir waren nur wenige, deswegen kam es auf den Einzelnen an.
Dabei fließen die beiden Zeitebenen manchmal direkt ineinander. In einem der Verhöre geht es um die Methode, wie Dias auf die Bildschirme projiziert werden.
»Manuell?«, fragte Stanley.
Ich nickte.
»Manuell im Sinne von…?«
»By hand«, bestätigte Ana.
Brauer verkniff sich ein Lachen.
Stanley füllte sein Glas wieder auf. »Hmmm. Ich hätte mir eine mehr …vollautomatische Lösung gewünscht.«
Brauer möchte, dass Hans seine Kenntnisse für die Junta einsetzt. Hans, der weiß, dass Kollegen von ihm bereits tot sind oder gesucht werden, wehrt sich, so gut er kann. Schließlich will Ana von Hans wissen, wo er die Bänder versteckt hat. Sie will sie vernichten, weil es den Putschisten nie um die Produktion, sondern um die Dissidenten gegangen sei. Hans vertraut ihr, führt sie zum Versteck, was schreckliche Geschehnisse zur Folge hat, die die ganze Brutalität des Pinochet-Regimes offenbaren. Aber was wäre ein Roman ohne Liebe und Verrat.
Anm. der Redaktion:
Die Buchpremiere findet am 16.08.2015 im Rahmen des Platzhirschfestivals in Duisburg statt.
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