Von All und Tag und Kippeffekten
Es wird schwierig werden, gerade auf Fixpoetry halbwegs fair über ein Buch zu schreiben, in dem ein Gedicht drinsteht, das unserem höchst eigenen Literaturbetriebsspion und Fix Zone-Verantwortlichen Frank Milautzcki gewidmet ist ... Gemeint ist das folgende:
träumten der welt ein zuhause,
einen hafendie sonne kommt raus, man wünscht sich einen
guten tag (und es ist nicht so, dass es anders
sein sollte). die zukunft in karten, die zukunftin bildern, und hinter geschlossenen lidern noch
zögerlich, fast schon ängstlich; mit dem staub in die
fugen, sind die ritzen bereit: träumten der weltein zuhause, wir träumten der welt einen hafen.
Es findet sich dieses Gedicht im dritten der fünf Kapitel von Stefan Heuers Gedichtband "Herzstück", und wir finden in ihm bereits einiges, das den ganzen Band charakterisiert. Wenn da beispielsweise steht "die sonne kommt raus, man wünscht sich einen / guten tag (...)", dann ist damit nicht nur ein alltäglicher Moment an der Schwelle zwischen Privatem und Öffentlichem knapp skizziert -- ich wünsche dem Nachbarn, und der Nachbar wünscht mir, "Guten Tag!" -- sondern parallel zu diesem Vorgang und ihm eingeschrieben auch noch eine durchaus ungewisse Hoffnung: "Man" ist dann als Textsubjekt gesetzt, und als solches wünscht man "sich" (dh. sich selber), es werde ein guter und nicht vielmehr ein schlechter Tag. Womit dann weiter gesagt ist, es gebe für dieses "man" die solchen und die solchen Tage, selbst wenn die im Gedicht folgende Klammer vorausgreift, uns beruhigt und zugleich den Zeithorizont erweitert, der uns dargeboten wird.
Der Kippeffekt mit der simplen Alltagsfloskel bzw. alltäglichen Kleinbeschreibung, die plötzlich im vollen Ornat lyrisch-deskriptiver Würde losgeschickt wird, um eine weitergehende Funktion im Text zu übernehmen -- ungefähres lyrisches Pendant zum absichtlichen Einbeziehen von Crew, Mikrofon und der Kamera selbst im Film -- ist Stefan Heuers liebstes Spiel in "Herzstück". Er erhält in dieser Funktion allerdings Konkurrenz von jenem anderen Kippeffekt, der z.B. die zweite Strophe des zitierten Texts bestimmt -- dem Kippen aus dem Bestimmbaren ins Unbestimmbare, aus dem Sachverhalt in seine unmögliche Verschiebung, dorthin, wo, und gar nicht mal kitschig, die Sehnsucht aufs bessere Dasein auf unser Textsubjekt wartet, nein, lauert. Auch dieser zweite Effekt ist häufig in "Herzstück" -- eh klar, ist doch ein "Herzstück" notwendigerweise unter der Haut, also Oberfläche, des jeweiligen Textgegenstandes zu finden; und wird doch ein Band, der so heißt, gut daran tun, möglichst viele Momente für uns zu autopsieren -- aber nicht so häufig wie die Insistenz auf Alltägliche, v.a. aufs Alltagssprachliche; auf den Mut zu jenem falschen Pathos und zu jener ungenauen Metaphorik, die im Vergleich zum besseren lyrischen das alltägliche Reden prägen und mit denen als Material man dann -- wie gesagt, bessere Lyrik -- durchaus noch weiterkommt.
Diese Vorliebe für zweierlei Kippeffekt hat ihre Entsprechung auch in einer bestimmten formalen Entscheidung Heuers, die sich ebenfalls durch den Band zieht: Alle diese Gedichte sind in Stollenbauweise verfasst, mit verschiedenen Variationen zum Grundprinzip Aufgesang-Abgesang, denen allen gemeinsam ist, dass die "vollwertige Strophe" der Dreizeiler bildet, mit unterschiedlichen Zeilenzahlen in den letzten Strophen und "Auftakten" (heißt das in der Verslehre so?). Diese Variationen, die Gewichtungen der Motive-pro-Strophe fürs jeweilige Gesamtgebilde, die stets verlässlich austariert und gegeneinander gewuchtet sind, sind für meinen bescheidenen Privatgeschmack das interessanteste an dem Band -- klare Petrarca-Strophe ist keine dabei, ich hab nachgezählt, aber es darf doch gemutmaßt werden, dass Heuer Petrarca (oder zumindest die Digest-Fassung bei Ezra Pound) mit Fleiß rezipiert hat.
Wer so etwas mag, kann sich auch mit der "Welthaltigkeit" (sprich: der je abgehandelten Privatbeziehung zwischen Ich und Du und Müllers Kuh) in diesen Gedichten beschäftigen ... obwohl die, der Natur der beschreibenden Verfahren geschuldet, reichlich kontrafaktisch ist: Heuers Material ist immer wieder mal als eine Menge von Verweisen auf Zitate von Klischees kenntlich, wenn man drauf achtet, und es ist damit ja nichts auch nur entfernt Ehrenrühriges über deutschsprachige Gedichte im einundzwanzigsten Jahrhundert gesagt -- bloß sollte dann ein wenig peinlicher darauf geachtet werden, dass das identifikatorische Lesen nach dem alten Muster "Sie haben da genau meine Gefühle sooo guuut ausgesprochen, Hörr Dichtör, genauso ist das in diesen Situationen" schon im Ansatz verunmöglicht wird, weil sonst züchtet man sich enttäuschte Leser.
Alles in allem: Was den Band empfehlenswert macht, ist, dass das Herzstück von "Herzstück" das sozusagen Architektonische der Gedichte ist -- das Kippen sprachlicher Fügungen vom Darstellungsmodus zum dargestellten Gegenstand.
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