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Kritik

Utopie Mensch

Ein Theorieroman wie aus dem Rechnerhirn
Hamburg

Was kommt dabei heraus, wenn man in, sagen wir, zehn Jahren, einen Computer mit ein paar soziologischen Abhandlungen von Tocqueville über Adorno bis Foucault füttert, ein Personenensemble vorskizziert und dann den  Befehl eingibt, aus diesen Versatzstücken einen 330 Seiten starken Zukunftsroman zu verfassen?

Richtig: „Die Netzwerk-Orange“. Zumindest liest sich Thomas Raabs neuer Roman weitenteils wie eine autopoetische Versuchsanordnung. Das ist von der Idee her interessant, weil es auch inhaltlich um eine schriftstellernde Maschine geht, für die LeserInnen auf Dauer jedoch ziemlich öde.

Das Szenario, das Raab entwirft, erinnert an eine Mischung aus Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, Leif Randts „Planet Magnon“, Juli Zehs „Corpus Delicti“ und Dave Eggers „Der Circle“, versehen mit einer Prise „Gattaca“ und „Equilibrium“: Wir schreiben das Jahr 2025; es gibt keine Staaten mehr und auch keine Regierungen, sondern nur noch „die Union“. Kriege und tödliche Krankheiten sind ausgemerzt. Alte Menschen werden von freundlichen Betreuungsrobotern gepflegt, bis sie mit ungefähr 83 Jahren – dem von der Union festgesetzten durchschnittlichen Höchstalter – abtreten müssen. Das iPhone heißt xPhone, das MacBook Fringebook, und statt Tattoos sind Ziernarben der letzte Schrei. In der Garage steht ein Audi-Suzuki, an den Füßen trägt man Schuhe der Marke Puma-Nike, und unter dem Tisch schnurrt zufrieden ein Katzenhund. Ansonsten gibt es nicht allzu viele Unterschiede zum Heute.

Die Raab’sche Gesellschaft ist in Segmente unterteilt, die sich vor allem durch ihre Konsumgewohnheiten voneinander abgrenzen. Damit erinnern sie sowohl an das Kastensystem bei Huxley als auch an die Kollektive in „Planet Magnon“. So begeistern sich die „Postmateriellen“ für gesunde Ernährung, Wellness und Reisen, die „Bürgerlichen“ kämpfen mit Abstiegs- und Existenzsorgen, die „Modernen“ leben vorzugsweise in bewachten Villensiedlungen, und die „Experimentellen“ lassen sich in etwa mit der heutigen Digitalen Bohème gleichsetzen. Raab charakterisiert die Segmente in kurzen theoretischen Einschüben, die zwar treffend einen pseudowissenschaftlichen Soziologen-Sprech imitieren, darüber hinaus jedoch kaum neue Einsichten liefern.

Auch seine Hauptfiguren sind eher idealtypische Vertreter ihrer Segmente als lebendige Charaktere mit Ecken und Kanten. Da ist zum einen der ehemalige Psychologieprofessor Franzer, der jetzt im Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung arbeitet, zum  anderen seine Doktorandin Buresch, die er von seiner neuesten Erfindung, dem Cyberpeuten (CP), zu überzeugen versucht. „Das Problem des vereinzelt Glücklichen ist die Langeweile!“ behauptet Franzer. Deshalb müsse man den Menschen gelegentlich kleine Konfliktsituationen in Form kurzer Lehrfabeln à la Äsop an die Hand geben, erstellt von einer autopoetischen Maschine, dem CP.

Bereits der erste Pseudo-Dialog (eigentlich ein Monolog Franzers) im Ministeriumsbüro legt die Funktionsweise der „Netzwerk-Orange“ – und im Prinzip unserer heutigen Welt – offen. „Das Fernsehen, das Netz, die Schule, die Uni, Werbung – alles ist heute so zielgruppenimmersiv, dass man beinahe nichts mehr zu denken hat“, doziert Franzer. „Die an die Konsumenten angepassten Inhalte spiegeln ihre Einstellungen und Erwartungen so perfekt, dass schlicht kein Widerspruch, kein Problem mehr dämmert.“ Seine gelehrige Schülerin darf daraufhin paraphrasieren („Mit Utopie Mensch meinen Sie jedenfalls das, was Sozialpsychologen den Minimalkonsens nennen.“), ungläubig nachfragen oder einfach nur großäugig staunen, was Franzer wiederum Gelegenheit gibt, noch weitere zehn Seiten lang seine soziologischen Theorien auszubreiten. Letztendlich, das kapiert man ziemlich schnell, ist die Welt der „Netzwerk-Orange“ ein auf die Spitze getriebenes Abbild unserer Wirklichkeit: Das (Konsum-)Verhalten jedes Gesellschaftssegments wird präzise erfasst, um  perfekt darauf abgestimmte Bedürfnisumwelten zu erschaffen. So etwas wie „Freiheit“ existiert nicht mehr, sondern lediglich ein „Freiheitsgefühl“, das es unter allen Umständen aufrechtzuerhalten gilt. Diese Mechanismen formuliert Franzer natürlich wunderbar eloquent, wiederholt dabei aber im Prinzip nur die Geschichte vom „Konsumfaschismus“, die uns seit Jahrzehnten immer wieder in Variationen präsentiert wird, wie zum Beispiel jüngst und in besonders plakativer Weise in „Die 120 Tage von Sodom“ an der Berliner Volksbühne: „Die da oben“ steuern mit sadistischer Gier Angebot und Nachfrage, „die da unten“ fressen jeden Scheiß, der ihnen vorgesetzt wird.

Wenn ein Ideenroman über diese Grundannahme nicht hinauskommt, sollte wenigstens ein literarischer Mehrwert zu erkennen sein. Doch leider wirkt auch das übrige Figurenensemble holzschnittartig, eben wie von einer Maschine erdacht. Das dramaturgische Schema ist schnell durchschaut: Zuerst bekommt man ein paar Thesen zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht vorgesetzt, dann gehen Franzer und Buresch hinaus in die wirkliche Welt und überprüfen ihre Annahmen anhand recht konstruiert wirkender Beispiele. So präsentieren sich die „Hedonisten“ in Gestalt einer im lokalen Dialekt sprechenden Familie am Nachbartisch. Die pubertierende Tochter ist vertieft in eine Bravo-Girl (Wirklich? 2025? In Papierform?), der muskelbepackte und ziernarbenverschönte Vater prahlt mit seinem neuen xPhone, das sich die Nachbarn nicht leisten können, und die Mutter bestellt derweil ein zweites Stück Torte. Ein Besuch im Kindergarten dient einzig dazu, das „traditionelle Segment“ (die Erzieherinnen) vorzuführen, das sich durch einen hohen Fernsehkonsum und ein Bedürfnis nach „beruhigender Unterhaltung“ kennzeichnet. Wussten wir im Prinzip schon vorher, dass die Proleten nur vor der Glotze hängen. Oder nicht?

Mit seiner Aneinanderreihung von Stereotypen nimmt der Roman den LeserInnen das Denken genauso ab wie der Cyberpeut den Unionsbewohnern. Einzig ein paar aufmüpfige Studierende vermuten hinter den „aufmunternden Motivationsrätseln“, die sie sofort als „zu platt und didaktisch“ entlarven, einen größeren Komplott. Dass sich alle anderen, inklusive der gebildeten Segmente, von diesen so offensichtlich passgenau auf sie zugeschnittenen Lehrfabeln derart beeinflussen lassen, wirkt unglaubwürdig und widerspricht dem Bild eines Individuums, das sich um jeden Preis frei wähnen möchte. So aktuell „Die Netzwerk-Orange“ auch scheinen mag – da ist man heute mit Peer-to-Peer-Marketing, Nudging und automatischen Vervollständigungen von Suchanfragen schon wesentlich weiter.

Für Irritation sorgt auch der umständliche Stil, vor allem die Häufung von relativierenden Wendungen wie „fragte sie sich eventuell“, „dachte er vielleicht“, „wiederholte Wachmann offenbar feinsinnig“ oder „Zufrieden, so schien es, brütete sichtlich die Stadt“. Soll hier ein ständiges Beobachtetwerden angedeutet werden? Die Auswertung des Geschehens durch eine lernende Maschine? Oder eine Entfremdung der Menschen von sich selbst und den Gefühlen anderer? Falls hinter diesen Störungen des Leseflusses eine Absicht steckt, so wird sie zumindest nicht klar ersichtlich.

Gegen Ende gibt es immerhin einen kleinen, wenn auch inszeniert wirkenden Aufstand, bei dem nicht nur Antiglobalisierungsplakate geschwenkt, sondern ganz nebenbei auch ein paar Geschäfte geplündert werden. Die folgende Berichterstattung erinnert ein wenig an die mediale Ausschlachtung der London Riots 2011. Warum die Union den Aufstand so gelassen hingenommen hat? Der Autor liefert die Erklärung gleich mit: „In der Revolte waren ein, zwei einkommensschwache Segmente wie zielgerichtet reduziert worden.“ Und damit auch der Letzte kapiert, was Sache ist, darf Buresch am Schluss noch einmal die Erkenntnisse ihres Lehrers zusammenfassen: „Das heißt, alle sind Teil der Unionsmaschine, fühlen sich aber individueller als je zuvor.“ Bravo! Setzen, eins.

Während Leif Randt es versteht, einen mit feiner Ironie in seine glattgebügelten Wohlfühlwelten hineinzuziehen und zugleich ein flirrendes Unbehagen zu erzeugen, ist „Die Netzwerk-Orange“ ein theorielastiges, in sich geschlossenes Gebilde, das keine Fragen offen lässt. Außer vielleicht diese: Ist Thomas Raab in Wahrheit ein Algorithmus?

Thomas Raab
Die Netzwerk-Orange
luftschacht
2015 · 336 Seiten · 24,20 Euro
ISBN:
978-3-902844-52-4

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