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Kritik

Hoffnungsmoment Text

Hamburg

Vor der halbdunkel aufragenden Wand des Verschwindens, die Ulrike Almut Sandig in ihrem Erzählband mit dem programmatischen Titel „Buch gegen das Verschwinden“ errichtet, um sich sogleich gegen sie zu stellen, erzählt die Autorin in sechs Geschichten und einem literarischen Nachwort vom Hoffnungsmoment Text.

Die Autorin agiert im Spannungsfeld eines Paradoxons. Während sie vom Verschwinden erzählt, beschwört und verhindert sie es zugleich. Während sie das Erzählen als Hoffnungsmoment dem Verschwinden entgegen stellt, ist sie sich der Begrenztheit des Mittels durchaus bewusst.

Das Verschwinden ist bei Sandig eine Unterbrechung, deren Erscheinen in vielen Fällen zwar angenommen werden konnte, aber dennoch eine mal mehr mal weniger tragische Unebenheit im Verlauf des Lebens ihrer Protagonisten darstellt. Die Settings sind in diesem Band so normal und alltäglich, so unaufgeregt, dass sich das Verschwinden darin umso bedrohlicher ausbreiten kann, um den Alltag zu versehren. Doch dort wo es auf semantischer Ebene Löcher reißt, legt sich sogleich der Gestus des Erzählens darüber, der ein endgültiges Löschen von Menschen und Seinsweisen von Lebewesen, Natur und Konstrukten aus den Erinnerungen verhindert.

Dabei ist das Verschwinden zwar thematisches Zentrum der sechs Geschichten, geschieht manchmal jedoch so beiläufig, dass man sich seines Zugegenseins gar nicht sicher sein kann. In der Geschichte „Tamangur“ zum Beispiel, in der ein Mann in den Schneeverwehungen des Engadins verschwindet, geschieht dies beinahe unmerklich. Er hatte sich bereit erklärt, einer fast fremden Frau ihren Wunsch zu erfüllen, Tamangur im Engadin zu sehen, die Bilder der verwunschenen Wälder, die sie auf einem Wandbild in einer Gastwirtschaft am Bodensee bewundert hatte. Doch sie geraten in Schneeverwehungen. Der Mann rutscht unter den Schnee. Die Frau, dessen Begleiter er war, bekommt nach ihrem Krankenhausaufenthalt einen neuen Autoschlüssel, denn der alte ist offenbar mit dem Mann im Schnee verschwunden. Mit noch einem Skistock auf dem Rücksitz, während der andere mit dem Mann irgendwo im Schnee begraben liegt, fährt sie wieder nach Hause als hätte es den Mann und sein Verschwinden nie gegeben.

Die klare, fließende Sprache, die hier über die oft nur unmerklich in die Lebenslandschaften ihrer Figuren einreißenden Krater hinwegfließt, ist einfach, atmosphärisch und dicht.

Auffallend ist die Naturmotivik in den Geschichten: Gletscher, Schneeverwehungen, Erdbeben, die Bedrohlichkeit der See – die Gewalt der Natur ist in den sechs Erzählungen zugegen, als Ursache eng verknüpft mit dem Verschwinden, auch in Form von Krankheit und dem Prozess des Alterns und Sterbens.

In der wohl stärksten Erzählung des Bandes „Unter uns die flüssigen Felsen“, in der dem Erzähler neben dem Verlust seiner Frau nach 50 Jahren Ehe auch der Halt der Erinnerung mit einsetzender Demenz nach und nach verloren geht, fällt in der Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Vergletscherung der Polkappen im Känozoischen Zeitalter als Motiv der Gletscher auf, der als Bild für das eingangs beschriebene Paradoxon gelten könnte. Er verkörpert massive Ewigkeit bei gleichzeitigem langsamen Schwinden und ist darin der Natur der Erinnerung nicht unähnlich. Die Natur als bedrohtes und bedrohendes Moment zugleich liegt als Transparent über den feinen Erzählungen Sandigs. Bei ihr jedoch erfährt der organische Verlauf von Leben, das naturgemäß eng mit Verlust verbunden ist, an den entscheidenden Stellen Einschnitte durch die Fiktion, die Leben eine Form geben kann, die sich nicht immer an die wahren Begebenheiten halten muss - oft entsteht in den Geschichten der Eindruck, dass das Schlupfloch dem Verschwinden zu entgehen auch im unzuverlässigen Erzählen liegt. Reale und fiktive Wahrnehmungen überlagern sich in den sechs Geschichten.

Die wuchtige Naturmotivik hinter den Geschichten verliert in der Erdung und Schlichtheit der Erzählungen ihre Archaik zugunsten von größter Nähe und Zugänglichkeit zu den Protagonisten des Bandes. Hier gelingt es, dass die Sprache ganz schlicht und ganz groß zugleich ist. Hier übersieht man die Kunst auf die bestmöglichste Weise. Immer wieder ertappt man sich dabei, auf naive Weise zu lesen. Der Rührung, die Sandigs Geschichten auslösen, wohnt ein kathartisches Moment inne. Man möchte schon nach wenigen Seiten Lektüre beginnen, die einem nahestehende Menschen wegen ihres eines Tages möglichen Verschwindens festzuhalten.

Nur manchmal überrascht zwischen der Schlichtheit des Tons eine sprachliche Wendung, die lauter und poetischer ist. Zum Beispiel „Täglich fallen uns leichte Erdbeben an wie wilde Kinder im Spiel.“, einer der beeindruckendsten Sätze des Buches.

Sandigs literarischer Entwurf gegen das Verschwinden ist sich seiner eigenen Grenzen bewusst. Der Text ist in Ulrike Almut Sandigs Band als Bindeglied zwischen Verlust und Ewigkeit Hoffnungsträger. Doch in der Erzählung „Über unsere Abwesenheit“ ist das Erzählte selbst bedroht. Der Text spielt im Jahr 2117. Um ihren Sohn zu entlasten und ihm Zeit alleine mit seiner Frau zu ermöglichen, macht eine Großmutter mit ihrer Enkelin Urlaub im 2062 gegründeten Notonesien. Um ihrem Sohn von der Reise berichten zu können, hat sie sich einen Chip unter die Haut ihrer Hand einsetzen lassen, mit dem sie senden und empfangen kann. Die Berichte an den Sohn sind der Text, dem wir folgen. Doch auf ihre Erzählungen an den Sohn erhalten sie und die Enkelin keine Antwort. Sie kann sich nicht erinnern, in welche Hand sie das Gerät einsetzen lassen hat, vielleicht liegt es daran. Spätestens als das Gesprochene durch die einsetzenden Erdbeben auf dem offenbar verschwindenden Planeten in einzelne Worte zerfällt, kurz bevor das Hoffnungsmoment Text wohl mit allem verschwinden wird, ist die Verlässlichkeit des Erzählens, der Text als vor dem Verlust bewahrendes Bindeglied, bedroht.

Ihren sechs Geschichten hat die Autorin einen Prolog vorangestellt:

„am elften Dezember 2117 zieht die Venus wieder als blinder Fleck vor der Sonne vorüber, so haben es Forscher berechnet. am elften Dezember 2117 bist du nicht mehr da, und ich bin auch nicht mehr da, und das Kind, das in meinem Bauch wächst es ist auch gar nicht mehr da. dieser elfte Dezember wird ein Sonnabend sein. vielleicht wird man längst nicht mehr Sonnabend sagen. aber man wird im Freien stehen, man wird dem glühenden Rädchen der Sonne entgegensehen, um darin zu erkennen: einen fast unsichtbaren, pechschwarzen Punkt.

Sandig umreist die Begrenztheit des Erzählens beim Versuch, mit seiner Hilfe das Verschwinden zu verhindern. Das Mittel kann nur eingesetzt werden, wenn es mit dem Intellekt von Lebewesen generiert wird und nur bestehen durch die Bannung des Ergebnisses auf ein Medium, das in seiner Materialität nicht bedroht ist, und sei es die Erinnerung von Organismen. Dem endgültigen Verschwinden aller Erinnernden einer Geschichte oder dem ganz große Verschwinden des Planeten, das hier angedeutet sein könnte, während nur die erdferne Natur zwischen Venus und Sonne weiter besteht, wäre somit nichts mehr entgegenzustellen. Obwohl die Bedrohung der Einheit von Erzählen und Erinnern hier also in der Reflexion von der Begrenztheit des erzählerischen Mittels gegenwärtig ist, ist der Band getragen von einem hoffnungsvollen Grundgestus.

Steht der Prolog in Bezug zur Geschichte „Über unsere Abwesenheit“, so wird die Erzählung „Geburtstagsgeschichte“, in der ein von seiner Frau verlassener Mann mit fortschreitender neurologischer Krankheit auf eine eintreffende Geschichte seines als Sportjournalist reisenden Bruders wartet, im literarischen Nachwort „Sonntag“ mit ebendieser Geschichte forterzählt. Sandig bespielt das Objekt Buch durch Verbindungen, die über die einzelnen Geschichten des Bandes hinausreichen. Im „Buch gegen das Verschwinden“ stellt so selbst das formale Format das Erinnern vor das Moment des Vergessens.

Ulrike Almut Sandig
Buch gegen das Verschwinden
Schöffling & Co
2015 · 208 Seiten · 18,95 Euro
ISBN:
978-3-89561-188-9

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