Mahlzeit in Essen
Und als der erste Mond aufgeht, ist die Nacht bereits in vollem Gange. Nebelschwaden ziehen um die Häuser aus porösem Backstein, ein verkommenes Viertel, fürwahr.
Inmitten vernagelter Schaufenster und besprühter Fassaden: das Restaurant "Chéz Urs". Seit fünfzehn Jahren arbeiten der Geschäftsführer, der Koch und der Oberkellner Hand in Hand in Personalunion zusammen. Mehrere Umzüge, auf Schließungen folgten Neueröffnungen, Einträge in lyrische Speiseführer, und nun hier: Ein kurzes Nicken, dann fällt der Gastronom vom Hocker.
Zeitgleich nähert sich ein Paar der Lokalität, welches nicht zwingend der Klientel angehört, welche dieses Restaurant für gewöhnlich frequentiert. Sie, gepflegt und in teure Garderobe und Düfte gehüllt, er der souverän auftretende, feingliedrige Mann von galanter Erscheinung. Der Eindruck der Vertrautheit, den die beiden vermitteln, täuscht. Die Begleitagentur für Lyrikfreunde hat expandiert, ist nach Köln, Darmstadt und München nun auch in Essen aktiv.
Sie betreten das "Chéz Urs", in ihrer Deplaziertheit liegt ein Hauch von Exotik! Man lässt sich zu Tisch geleiten, setzt sich, bittet um die Karte; „Für meine Frau den zweitbesten Fisch“ – so etwas gibt es im "Chéz Urs" nicht! Keiner der männlichen Gäste ist je mit seiner Frau hier gewesen, und nicht einer würde es wagen, der ihn begleitenden Weiblichkeit die zweite Wahl auf den Teller zu fordern. Der Ober offeriert einen Aperitif. Der Mann wirft seiner Begleitung einen verschwörerischen Blick zu und entgegnet: „Kürzeste Prosa mit Kirsche auf Eis, das scheint mir ein gelungener Einstieg in den Abend zu sein.“
Der Ober schaut sich um, tritt einen Schritt an den Gast heran und flüstert: „Bedaure, mein Herr. Wir sind ein reines Lyrik-Restaurant.“ Dann setzt er sich in die Küche ab; ohne eine Speisekarte am Tisch gelassen zu haben.
Stille macht sich breit, urplötzlich ist die Frau gefordert; als professionelle Lyrik-Begleitung ist es an ihr, die Konversation in Gang zu halten. Ein Lächeln, dann läuft ihr Programm an: „Neulich war ich mit dem Enzensberger essen, köstlich! Fünf Gänge im Sonett, ein unter künstlerisch-historischen Gesichtspunkten vorzügliches Dinner. Mit Hebungen veredelte Suppe, mit gedünsteten Knüllversen korrespondierendes Haiku-Ratatouille, dazu gaumenschmeichlerisches Terzinen-Sorbet, auf der Zunge zergehende Assonanzen, betörende Jamben auf Kreuzreim-Dressing. Ein Traum!“
„Das klingt wunderbar, ganz wunderbar!“ entgegnet der Mann. „Auch Ihre zum Paarreim verschmelzenden Augen, ganz wunderbar. So langsam aber überkommt mich doch Hunger, realer Hunger.“
Wie auf ein geheimes Zeichen hin erscheint der Kellner, lächelnd überreicht er die Karte des Hauses. „Ein Bekannter hat mir das "Chéz Urs" empfohlen“, flüstert der Mann seiner Begleitung zu. „Er sagte, ich solle mich überraschen lassen.“
Drei Sekunden später ist die Überraschung perfekt. Die erwartet opulente Auswahl an ausgesuchten kulinarischen Exquisitäten besteht aus drei Wörtern, zwei von ihnen mit Bindestrich verbunden: Pommes rot-weiß.
Der Mann nickt, eine ihm selbst unerklärliche Bewegung. Dann sagt er: „Darf ich ehrlich sein? Ich hatte etwas anderes erwartet.“
„Das tun die meisten. Darf ich servieren?“
„Wir reden über frittierte Kartoffel-Stücke, übergossen mit fettiger Mayonnaise und mit künstlichen Aromen verfeinertem Ketchup?“
„Ganz richtig, der Herr!“
„Zwei Portionen, bitte.“
Cut: Zwei Stunden später sitzen sie noch immer am Tisch, die einzigen Gäste des Abends. Zwischenzeitlich hatten zwei weitere Mitarbeiterinnen der Begleitagentur die Räumlichkeiten betreten und die Speisekarte studiert, das Restaurant jedoch kopfschüttelnd wieder verlassen. Sie blicken sich an, und die Frau sagt: „Ein wenig mehr Kalorien als das Terzinen-Sorbet – aber wer mag das schon ständig essen?“
Wummms! Aus der Küche dringt das Geräusch eines umkippenden Barhockers, und nun lacht auch der Mann.
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