Etwas so gut wie nichts
Angesiedelt irgendwo zwischen Novelle und Roman, saugen einen die Werke der französischen Autorin Véronique Bizot in einen zunächst irritierenden, dann jedoch durchaus angenehmen Modus der Verlangsamung und Besinnung. In etwa so, als würde man mal ein paar Tage offline gehen.
Mit Vorliebe erschafft Bizot ein Personal, das sich nur schwer einpassen lässt in die neoliberalen Logiken von Produktion und Konsum, Präsenz und Kommunikation. Kein Wunder, dass auch in ihrem neuesten Roman „Menschenseele“ die Hauptfiguren ein bisschen wie Außerirdische oder Zeitreisende wirken, zufällig hineingeworfen in die moderne westliche Welt, mal neugierig-staunend, mal überfordert angesichts ihrer Anforderungen.
Allen voran der namenlose Ich-Erzähler, der anscheinend in eine psychisch bedingte Stummheit verfallen ist und von seiner Umwelt als „zurückgeblieben“ wahrgenommen wird. Zusammen mit seinem älteren Bruder lebt er auf einem heruntergekommenen Hof irgendwo in den französischen Bergen, gefangen in einer„ Haltung unbestimmten Wartens“. Es ist Winter; täglich stapfen die beiden vier Kilometer durch den Schnee, um im „Mageren Hasen“ ihr Mittagessen einzunehmen. Die einzigen Menschen, mit denen sie Kontakt pflegen, sind der misanthropische Theaterautor Adrien Fouks, der seine Fanpost ungelesen in den Papierkorb wirft, und der geheimnisumwitterte Montoya. Über letzteren wissen wir lediglich, dass er „eine recht verblüffende Zahl von Sprachen beherrschte, sehr dünne jamaikanische Zigarren rauchte und dass er, auch wenn er zumindest vorerst scheinbar nichts mit der Welt zu tun haben wollte, ihre Regeln offenbar kannte.“
Derart ausgefeilte Formulierungen lassen erahnen, dass der Ich-Erzähler weit mehr drauf hat, als seine Außenwelt, insbesondere sein überbesorgter Bruder, ihm zutraut. Ganz offensichtlich hat er sich im Kokon seiner Stummheit zu einem ausgezeichneten Menschenkenner entwickelt, der zudem seine Worte mit großer Sorgfalt zu wählen versteht. So liefert er oftmals – scheinbar aus dem Nichts heraus, tatsächlich jedoch wohl eher als Resultat elaborierter Denkprozesse – pointierte Analysen des menschlichen Wesens. „Selbst wenn wir uns in einer vermeintlichen Erfolgsabsicht hartnäckig zeigten, zögen wir doch die meiste Zeit das Scheitern vor“, heißt es an einer Stelle. „Wir können uns immer nur auf uns selbst verlassen, sagte er mir oft, aber damit erzählte er mir nichts Neues“, an einer anderen. Seine inneren Monologe sind durchzogen von einer altersuntypischen Abgeklärtheit (er muss gerade volljährig geworden sein) und einer subtilen, weltgewandten Ironie, die man sich angesichts seiner Isolation kaum erklären kann. Hat er diese Fähigkeiten und Ideen allein aus seiner präzisen Beobachtungsgabe gezogen? Oder aus der Lektüre der unzähligen Bücher in Fouks‘ Bibliothek?
Bruchstückhaft erfährt man, dass die restliche Familie der Brüder bei einem Brand vor neun Jahren ums Leben kam, ein Ereignis, das den Jungen schwer traumatisiert haben muss. An den Brand und das Davor kann er sich nicht mehr erinnern, was vielleicht auch seine emotionale Distanziertheit erklärt. So sagt er beispielsweise über seine Mutter: „Sie blieb für mich, wie übrigens mein anderer Bruder und meine Schwestern auch, eine abstrakte Vorstellung oder eine Figur, die in einem Buch wartete, das ich noch nicht gelesen hatte.“
Dennoch haben sich die Spuren des Vergangenen überall um ihn her eingeschrieben – eines der zentralen Themen in Bizots Schreiben. So sind auch auf dem Hof Montoyas die Relikte vorheriger Nutzungen allgegenwärtig, und die Autorin verwendet einige Seiten darauf, die Vorgeschichte des Gebäudes (Kuhstall, Autowerkstatt, Maler-Atelier) zu ergründen. Es sind vor allem diese feinen, an mehreren Stellen aus dem Hauptplot heraushängenden Fäden, die über das Format der Novelle hinausweisen. So wird auch das Vorleben des Bruders in Turin immer wieder in kurzen Episoden angerissen. Obwohl die Zusammenhänge weitgehend im Dunkeln bleiben, lässt das fragmentarisch Überhörte im Kopf des Erzählers – wie auch des Lesers – einen ganzen Film noir ablaufen, inklusive Femme Fatale und jäh aufblitzender Pistole.
Als der Bruder seinen Job als Übersetzer verliert, kriechen mit einem Mal Worte wie „Leadership“, „Kommunikationsfähigkeit“ und „sektorenübergreifende Logistikstrukturen“ in den Text. Und wirken dort so deplatziert, dass sie unwillkürlich zum Lachen reizen. Folgerichtig fragt der Ich-Erzähler: „Wer hatte diese Sprache entwickelt und was für Menschen waren imstande, ihr zu entsprechen?“
Bizots Figuren jedenfalls nicht. Sie sind zugleich kauzig und gewöhnlich, schroff und liebenswert, phlegmatisch und wissbegierig – ökonomisch verwertbar jedoch mit Sicherheit nicht.
Um etwas Drive in die Geschichte zu bringen, reißt Bizot ihre Protagonisten dann aber doch noch aus ihrer jeweiligen Einsamkeit und schickt sie auf eine Reise nach Italien. Ein kleiner ironischer Seitenhieb wohl, dass die „Realität“, mit der sich die vier Männer plötzlich konfrontiert sehen, die mediengehypte Scheinwelt der Modezaren und gedopten Radrennsportler ist.
In Turin angekommen, entwickelt Fouks eine sonderbare Obsession mit den Selbstmorden mehrerer italienischer Schriftsteller. Nur um abschließend festzuhalten, dass letztendlich die Todesarten egal, ja mehr noch, Leben und Tod eigentlich ein und dasselbe seien – „die Leere so gut wie die Treppe, der Hof so gut wie der Fluss, der Sturz so gut wie die Caféterrasse, etwas so gut wie nichts.“
Die Dynamiken zwischen den Figuren haben sich inzwischen dramatisch verschoben; alles ist anders gekommen, als geplant. Das Buch jedoch endet, wie es anfing: In einem merkwürdig gelassenen, ja beinahe heiteren Nihilismus.
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