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Kritik

Das Mosaik der Zukunft

Sorokin kreiert eine aberwitzige Weltordnung
Hamburg

Die geometrischen Designerdrogen Kugel, Würfel und Pyramide haben sich in Vladimir Sorokins Universum bestens bewährt. Unvergesslich bleibt jene Szene aus seinem letzten Roman, in der sein Protagonist, der Landarzt Garin, in einer Butze, gebaut aus lebendgebärender Filzpaste, einen amtlichen Pyramide-Trip durch Raum und Zeit schiebt. Der Schneesturm hat sich mittlerweile beruhigt, der Kater ist überwunden. Zeit für eine neue Droge, einen neuen Trip durch ein nicht ganz neues Universum.

Das titelgebende Wundermittel in Sorokins neuem Roman heißt Tellur. Eine Substanz, die ebenso umstritten ist wie der Status den Landes, in dem es abgebaut wird: Telluria. Es liegt auf den Höhen des Altai-Gebirges und wird von dem exzentrischen aber beliebten Präsidenten Jean-François Trocart regiert. Gerade erst wurde der Staat von der Republik Baikal anerkannt. Dem Tellurhandel im Osten sind somit keine Grenzen mehr gesetzt. Einem Eroberer gleich schlägt Trocart zufrieden einen weiteren Tellurnagel in seinen Globus ein. Es ist weder die erste noch die letzte große symbolische Geste in Sorokins Roman.

Das in Telluria abgebaute Halbmetall wird in Form von Nägeln auf der ganzen Welt mal mehr und mal weniger legal konsumiert. Tellur ist mehr als eine Droge, bewirkt mehr als einen träumerischen Rausch. Vielmehr ist es das Element zur Erfahrung einer höheren Bewusstseinsebene, einer höheren Wahrheit. Es macht glücklich, potent, unbesiegbar und lässt dich mit Verstorbenen in Kontakt treten. Und es ist, natürlich, hochgefährlich. Allein die Verabreichung eines Tellurnagels ist eine nervenkitzelnder Tanz mit dem Tod, denn der er muss von einem Zimmermann direkt in den rasierten Schädel des Konsumenten eingeschlagen werden. Misslingt der Schlag, stirbt der Konsument im besten Fall sofort, denn der Todeskampf mit einem krummen Nagel im Kopf scheint selbst für Sorokin unbeschreiblich zu sein.

Daher ziehen Mitte des 21. Jahrhunderts spezielle Zimmermannsbrigaden durch Sorokins Welt, die geprägt ist von einer vollkommenen Neuordnung. Russland und Europa sind in unzählige Kleinstaaten zerfallen. Bayern ist ebenso unabhängig wie die Rheinländische Republik, in deren Hauptstadt Köln nach dreijähriger Herrschaft der Salafisten zum ersten Mal wieder Karneval gefeiert wird. Der türkische Bundeskanzler lässt sich feiern und ein tellurabhängiger Reporter berichtet darüber, bevor er zu seiner Frau heimkehrt, die etwa so klein ist wie eine 0,33l-Bierflasche und in einem Puppenhaus auf dem Wohnzimmertisch lebt.

Die Lieblingsbegriffe der bisherigen Rezensenten waren „Retrofuturismus“ und „Steampunk“, die zwar zutreffend aber unzureichend sind. Denn Sorokins erzählerischer Kosmos ist ein unendlich komplexes mash-up aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aus europäischer Geschichte, Politsatire und avantgardistischen Spielformen des Erzählens. Da gibt es Mischwesen aus Mensch und Tier, Zwerge und dreistöckige Pferde. Lenin, Gorbatschow und Putin werden als Helden verehrt, das sie durch ihre Politik zum Untergang Russlands beigetragen haben und somit die Menschen von diesem „barbarischen“ Staat befreit haben. Und all das ist nachzulesen im Grips, das weit mehr ist als ein smartphone, sondern eine scheinbar unendlich elastisches, gleichzeitig formbares Universalgerät. Anders als so mancher Computer unserer Zeit gehorcht das Grips seinen Besitzer jedoch bedingungslos.

Zusammengefasst stellt sich Sorokins tellurische Welt wie folgt dar: „Betrachtet doch nur unseren euroasiatischen Kontinent: nach dem Zusammenbruch der ideologischen, geopolitischen und technologischen Utopien ist er endlich in ein gesegnetes aufgeklärtes Mittelalter gesunken. Die Welt hat ein menschliches Maß angenommen. Die Nationen haben zu sich selbst gefunden. Der Mensch ist nicht länger die Summe seiner Technologien. Die Massenproduktion liegt in den letzten Zügen. […] Die Menschen haben ein neues Gefühl für die Dinge bekommen, sie fangen an, gesund zu essen, steigen auf Pferde um. Die Gentechnik hilft dem Menschen dabei sein wahres Maß zu erspüren. […] Wir sind nicht mehr in Eile. Und das Allerwichtigste ist: Wir begreifen, dass es auf Erden kein technologisches Paradies geben kann. Und überhaupt kein Paradies.“

Die komplexe und zugleich fragmentarische Zukunft schlägt sich auch in der Mosaikstruktur des Romans nieder. Fünfzig unabhängige Kapitel spiegeln nicht nur die zahllosen unabhängigen Staaten, sondern auch die Zersplitterung der uns bekannten Weltordnung. Kaum einer Figur, die in einem Kapitel auftaucht, begegnet man ein zweites Mal. Keiner der Schauplätze dient mehr als einmal als Kulisse. Alles ist Fragment, Ausschnitt und Teil eines Ganzen, das sich in einer einheitlich geschlossenen Form nicht erzählen lässt. Und so ist es auch nur konsequent, dass Sorokin zwischen Erzählung und Gedicht, Drama, Essay und Lexikonartikel, zwischen Rausch, Wahn und dem, was man wohl oder übel als Wirklichkeit werten muss, hin und her schaltet und somit ein aberwitziges zapping innerhalb seines Kosmos betreibt.

So entsteht ein polyphones Gesamtwerk, das, von insgesamt acht Übersetzern bearbeitet, mal schneller und mal langsamer rotiert. Das erzählt, fabuliert, warnt, verspottet, erklärt und reflektiert. Wie angenehm ein fantastisch-fantasievoller Zukunftstrip doch sein kann, wenn er sich weder als Utopie noch Dystopie versteht.

Vladimir Sorokin
Telluria
Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel
Kiepenheuer & Witsch
2015 · 416 Seiten · 22,90 Euro
ISBN:
978-3-462-04811-7

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