Das Auge des Verstands
Man kann sich die Szene lebhaft ausmalen: Zwei junge Engländer, Bruder und Schwester, die vor einem schwarzen Eisenofen sitzen, eingeschneit, ohne Gesellschaft und ohne irgendeine Art von Bibliothek, in Gedanken beim gemeinsamen Freund Coleridge, der in Ratzeburg weilte. Am 6. Oktober 1798 waren Dorothy und William Wordsworth, nach einer beschwerlichen Reise Richtung Braunschweig, die viel Anlaß bot, den schlechten Zustand der Straßen und Kutschen zu beklagen, endlich in Goslar angekommen. Sie hatten die Absicht, dort ihre Deutschkenntnisse zu verbessern — denn seinerzeit waren Übersetzungen vom Deutschen ins Englische ein profitables Geschäft — und sich außerdem die Landschaft zu erwandern, wie sie es von Daheim gewohnt waren. Doch der ungewöhnlich schwere Winter machte ihnen einen Strich durch die Pläne. Die Kälte am Weihnachtsabend, schrieb Dorothy, sei so ausnehmend stark gewesen, daß sie sich in Mäntel hüllen mußten, wenn sie von einem Zimmer ins andere gingen. Am Ende blieben die Wordsworths vier Monate in Goslar. Hier entstanden die ersten Entwürfe für das 1. Buch eines langen Gedichts, das später unter dem Titel „The Prelude“ veröffentlicht werden sollte.
Zunächst als Teil eines, letztlich unvollendeten, Projekts mit dem Titel „The Recluse, or Views on Man, Nature, and Society“ begonnen, entwickelte sich das ursprünglich rein autobiographische Gedicht zu einem philosophischen Gedicht über die Verbindung des eigenen Geistes zur Natur. Ernest de Selincourt, der Herausgeber der fünfbändigen kritischen Wordsworth-Ausgabe in der University of Oxford Press präsentiert „The Prelude“ im ergänzenden sechsten Band als Paralleldruck in zwei vollkommen unterschiedlichen Versionen. Die eine stammt aus dem Jahr 1805, die andere wurde posthum 1850 herausgebracht. Im Vorwort hat Selincourt die verwickelte Entstehungs- & Bearbeitungsgeschichte und die Unterschiede der Fassungen im Detail dargelegt, an dieser Stelle muß der Hinweis genügen, daß neben stilistischen Änderungen einige Episoden, vor allem bei der Beschreibung des Frankreich-Aufenthalts, gekürzt und zudem viele Hinweise auf Samuel Taylor Coleridge als Widmungsträger und direkt angesprochenes Gegenüber eliminiert wurden.
Die geistige Autobiographie eines Individuums auf- und nachzuzeichnen: um nicht weniger ging es Wordsworth — eines Individuums, das sich, gar nicht zwingend, zum Dichter entwickelt hat. In seinem romantischen Bestreben einer umfassenden, möglichst viele Facetten berücksichtigenden Darstellung, gelangte Wordsworth zu einer durchaus modern anmutenden Überlegung: Welche geistigen Voraussetzungen sind notwendig, welche Umwelteinflüsse haben zur dichterischen Sensibilisierung geführt, und in welcher Wechselwirkung stehen diese beiden Faktoren zueinander. Auch die immer wieder reflektierte Funktion der Erinnerung hat einen wichtigen Anteil am Werden des Dichters — in einigen Passagen ist Proust nicht sehr fern.
Die ersten beiden Bücher des „Prelude“ widmen sich der Kindheit und Schulzeit, in der die Liebe zur Natur geweckt wird:
... Alles, was ich erblickte, war
mir lieb: und daraus folgte,
daß sich mein Geist den feineren Einflüssen der
Natur nun auftat, der bestimmteren, intimeren
Zwiesprache, welche unsre Herzen
mit den subtilren Eigenheiten von bereits geliebten
Objekten halten, und ausschließlich
von denen.
Das Gesehene — es ist wie ein Traum — versetzt den Betrachter in „Trance“ qua Ähnlichkeit: die Landschaft ist eine „Seelenlandschaft“, die den Dichter, weil das Entsprechende in ihm selbst arbeitet, zur „schöpferischen Sensitivität“ befähigt. Doch sind auch gegensätzliche Kräfte am Werk:
... denn wenn ich
in jungen Jahren auch erzogen war, selbständig
zu sein, und Eigenbrötlerei mir so gefiel,
daß ich, wenn ich allein war, wie verhext erschien,
konnt ich an Einsamkeit mich doch nur klammern
an solitären Orten — doch wo’s Spektakel gab,
war ich dabei — natürlich, da mein Herz
gesellig war und Spaß & Müßiggang genoß.
Dies sind die „empfänglichen Momente unsrer Jugend“, in denen man „noch nicht so abgestumpft“ ist. Die Entwicklung des Geistes schildert Wordsworth alsdann in einer Reihe von Episoden: auf dem College, in London, in den Alpen, in Frankreich zur Zeit der Revolution. Autobiographische Momente sind durchsetzt von extensiven Schilderungen und längeren selbständigen, allerdings mit Bedacht in den Fortgang integrierten Erzählungen (die in der späteren Version deutlich gekürzt wurden). Zwar steht fest:
Schönheit / und Einfachheit & Anmuth sind unausweichlich,
der Weg dorthin ist jedoch alles andere als gradlinig, immer wieder kommen Vita activa und Vita contemplativa gegenseitig in Streit, das Verlangen nach Geselligkeit & Abenteuer und nach Einsamkeit in der Natur. Daß Menschenliebe nur durch Liebe zur Natur entsteht, ist eines der Resultate der „Bildungskraft“ (Imagination), doch führt diese auch zu einem Krieg „mit mir selber“ —: Vernunft kämpft gegen Imagination:
und wie mit bloßem Schwenken seines Stabs
ein Zauberer im Nu Palast & Wäldchen
verschwinden macht, so tötete
ich ebenso geschwind mit Syllogismen
etwelchen Logikzauber ab und gleich dazu
jene Gefühlsmysterien, die (trotz alledem
was die Vernunft gestaltet hat, vollbringt,
um zu verzücken, zu verfeinern) aus
der Menschheit eine einzge Bruderschaft
gemacht ...
Die ästhetischen Grundlagen dieser Verfaßtheit hat Wolfgang Schlüter in seinem instruktiven Nachwort skizziert, es muß hier also nicht wiederholt werden, was schon trefflich gesagt anderswo wurde. Wordsworths Betrachtung, die vielleicht mehr literarisches Programm als tatsächliche Herzensergießung ist, führt schließlich zurück in die „Recluse“, die Abgeschiedenheit, in der allein Erinnerung und Betrachtung möglich zu sein scheinen. (Daß damit keine Weltflucht gemeint ist, erhellen andere, hochaktuelle Gedichte Wordsworths, die scharf ins politische Geschehen eingreifen und es kommentieren!) Am Ende steht der damals wie heute utopische Gedanke einer Dichtergemeinschaft, der umso utopischer scheinen muß, da kurz nach der Niederschrift die Freundschaft mit dem im gesamten Text angeredeten Coleridge zerbrach:
verzeih mir, wenn ich sag, daß ich, der lange
ehrfürchtig den Gedanken mir gehegt,
daß Dichter, als Propheten gar, ein jeder
mit jedem alliiert in einem mächtgen Wahrheitsplan,
zur individuellen Mitgift einen Sinn
besitzen, welcher sie befähigt, etwas
noch Ungesehenes zu sehn —
Die Version von 1850 hat Hermann Fischer bereits 1974 für Reclams Universalbibliothek übersetzt; die frühere, wesentlich frischere, spontanere, spannungsreichere Fassung hingegen war bislang nur auf Englisch greifbar. Nun hat Wolfgang Schlüter, der bereits andere britische Langgedichte auf Deutsch zugänglich gemacht hat, sich dieses Unterfangens angenommen und ein Sprachwerk ganz eigener Art vorgelegt, denn Schlüters Übersetzungen sind zumeist und zunächst Transformationen in den Schlüterschen Tonfall. Das geschieht allemal nicht zum Schaden des Gedichts, man sollte nur darauf gefaßt sein, keine simple und eingängige Eindeutschung vorgelegt zu bekommen. Ein Vergleich des Beginns zeigt exemplarisch die Unterschiede der beiden Fassungen einerseits, den typischen Sound von Schlüters Übersetzung dieser Passage andererseits:
Version 1805:
Oh there is blessing in this gentle breeze
That blows from the green fields and from the clouds
And from the sky: it beats against my cheek,
And seems half-conscious of the joy it gives.
O welcome messanger! O welcome friend!
A captive greets thee, coming from a house
Of bondage from yon City’s walls set free,
A prison where he hath been long immured.
Now I am free, enfranchis’d and at large,
May fix my habitation where I will.
Version 1850:
O there is blessing in this gentle breeze,
A visitant that while it fans my cheeks
Doth seem half-conscious of the joy it brings
From the green fields, and from any azure sky.
Whate’er its mission, the soft breeze can come
To none more grateful than to me; escaped
From the vast city, where I long had pined
A discontented sojourner: now free,
Free as a bird to settle where I will.
Übersetzung Schlüter der Version 1805:
Ah! ja ein Segen ist an diesem sachten Wind,
der aus den grünen Feldern weht und aus den Wolken
und aus dem Himmel über meine Wange
mir streicht, beinah als wüßt er um die Freude, die
er schenkt. Willkommen, Bote! Sei willkommen, Freund!
Ein Sträfling grüßt dich, aus dem Kerker
erlöst, aus jenen Großstadtmauern,
dem Steinverließ, in dem er lange inhaftiert.
Entlassen bin ich – frei — Herr meiner selbst —
kann Wohnung wählen, wo ich will.
Wolfgang Schlüter hat im Nachwort seine übersetzerischen Prinzipien plausibel verteidigt; einwenden kann man dagegen höchstens, daß diese — nennen wir sie —: übersetzerischen Idiosynkrasien an einigen Stellen zu geballt auftreten, so daß sie an Wirkung verlieren und den Verdacht der Manier touchieren. Wer sich trotzdem darauf einläßt, dem steht ein geistiges Abenteuer bevor, das nicht nur in sprachlichen Exquisitessen schwelgt, sondern auch mit einer heute geradezu beneidenswerten Bedächtigkeit tief in die Gedankenwelt der englischen Romantik eintaucht,
„If prophecy be madness“ —: „wenn Vision denn visionärrisch ist“.
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