„…daß wir wandern gegangen sind…“
„Gedichte, Gespräche, Lektüren“ lautet der Untertitel dieser bemerkenswerten und sensibel aufbereiteten Sammlung, die in Folge eines Kolloquiums an der Braunschweiger Technischen Universität zu Ehren des 80. Geburtstages von Wulf Kirsten entstanden ist.
Die dargebotenen elf Zugänge gewährleisten einen authentischen Zugang zum Werk wie zur Person Wulf Kirsten. Daß beides nicht voneinander getrennt werden kann, wird am Beispiel von Wulf Kirsten in besonderer Weise deutlich. Seine Zuordnung als „Landschaftslyriker“ berücksichtigt die ländliche Herkunft samt ihrer bewußt wahrgenommenen Einbindung in einen konkreten Landstrich. In über fünfzig produktiven Schaffensjahren entfalteten diese ländlichen Prägungen ihre Nachwirkung in Kirstens Autorschaft als Dichter, Herausgeber und Prosaist.
Bereits das methodische Vorgehen in Kirstens Wortkunst ist seiner besonderen Beziehung zur handwerklichen Tradition und der ländlichen Herkunft geschuldet. Der Begriff der „Wortarbeit“ findet hier eine unmittelbare Entsprechung. Wenn man davon spricht, daß Kirsten sich seine Verse zurecht dengelt, dann werden durch diese Aussage gleich mehrere Ebenen berührt. Zum einen rührt das Wort „dengeln“ aus der bäuerlichen Welt und beschreibt das mühsame Beklopfen eines schartigen Sensenblattes mit einem Hammer, um es wieder beschleifen zu können und die frühere Schärfe herzustellen. Zum anderen kultiviert Wulf Kirsten neben seinen Sprachgebilden auch die Bewahrung von Worten und Begriffen einer archaischen Welt, die im schnelllebigen Informationszeitalter zum Aussterben verurteilt sind. Nancy Hünger gelingt in ihrem Beitrag „`deinesgleichen, meinesgleichen - geschichtsfähig gemacht. ´. Unsortierte Gedanken zu Kirstens Helden der kleinen Verhältnisse“ eine treffende Zusammenfassung: „Wulf Kirsten betreibt eine eigene, eine subjektive Geschichtsschreibung: durch den Rückgriff auf Vergangenheit, manische Gedächtnisbefragung und Sammelleidenschaft“.
Der sorgsam wägende Umgang mit der Sprache hat es mit sich gebracht, daß Wulf Kirsten nicht nur zu Lebzeiten der DDR ein unangepasster Einzelgänger war, sondern auch in der Ära einer „alternativlosen“ Globalisierung seinen Platz außerhalb des geschäftigen Kulturbetriebs findet. Zur akribischen Spracharbeit gehört bei Wulf Kirsten auch die wachsame Wahrnehmung anderer Dichterstimmen. Neben Anregungen aus Rumänien oder aus slavischer Nachbarschaft, vor allem des tschechischen Poetismus, hat Kirsten Dichter wie etwa Rafael Alberti oder César Vallejo rezipiert.
Bereits in den Jahrzehnten des Kalten Krieges hatte er den Ost-West-Gegensatz, gerade in der Welt der Poesie, zu überschreiten versucht. Es ist sicher kein Zufall, daß sich gleich zwei Beiträge mit Querverbindungen nach Frankreich beschäftigen: Stéphane Michaud „Frankreich als geheime Ader in der Lyrik Wulf Kirstens“ und Edoardo Costadura „Wulf Kirstens französisches Terrain - die Provence (Pagnol, Roth, Giono)“.
Hier fehlt allerdings der Hinweis auf Julien Gracq, dessen Dichtung zuweilen eine geradezu anthropologische Version geographischer Prägestrukturen darstellt und somit eine französische Entsprechung vieler Texte von Wulf Kirsten bietet.
Daß Bibliotheken mehr als bloße Kultureinrichtungen darstellen, belegt Michael Knoche in seinem Porträt „Wulf Kirsten, der Bibliotheksfreund“. Der „Deutschen Bücherei“ in Leipzig, 2006 als Standort der „Deutschen Nationalbibliothek“ umbenannt, hatte Kirsten zu DDR-Zeiten zu verdanken, daß der intellektuelle Zugang zur ausgegrenzten Welt nicht völlig gekappt war. Noch heute nennt er in großer Dankbarkeit die „Deutsche Bücherei“ seine „heimliche Universität“. Neben einer unstillbaren Neugierde auf andere lyrische Zugänge hat Wulf Kirsten immer auch Kontakt zum Film oder auch zur bildenden Kunst gehalten. So war er durch Vermittlung von Gerhard Altenbourg etwa auf den Berliner Maler Reiner Schwarz gestoßen.
Es zeigt sich, daß Wulf Kirsten sich bis in sein hohes Alter hinein von derlei Anstößen inspirieren läßt. Nicht zuletzt sein eigenes Werkverständnis benötigt die Reibung an Mentalitäten und Übermittlungen. Die lebenslange Arbeit an der künstlerischen Form hat Kirstens Dichtung lebendig gehalten. Eine ledigliche Aneinanderreihung von erlebten Eindrücken war ihm zu dürftig. Dichtung besteht für Kirsten aus Erzähltem, aber lebt zugleich von einer Überhöhung, die sich einem instrumentalisierenden Zugriff entzieht. Dieses letztlich unauflösliche Spannungsfeld zwischen Erlebnis und Mitteilung kennzeichnet nicht nur die individuelle künstlerische Begegnung, sondern liegt der gesamten Natur und nicht zuletzt der uns umgebenden Landschaft im konkreten Sinne zugrunde. In der Landschaft finden sich die Fäden zusammen.
Der 1934 in Klipphausen bei Meißen geborene Wulf Kirsten bildet die Landschaft seiner Kindheit im Elbtalkessel aber nicht in mimetischer Weise ab, sondern transzendiert sie zugleich. Seine Verse entstehen aus dieser „Erde bei Meißen“, wie sein wegweisender Gedichtband aus dem Jahr 1986 betitelt, sie schreiben sich zugleich aber auch dort ein. Mit durchaus wissenschaftlicher Akribie reflektiert Kirsten seine ihn betreffenden Landstriche, indem er sie zusätzlich auf botanische, geomorphologische aber auch meteorologische Aspekte untersucht. Man kann in der Auslieferung Wulf Kirstens an seine Landschaft von einer besonderen Form der Verschränkung von Leben und Schreiben sprechen. Sie ist Formgeberin und Inspiration, aber auch Rückzugsraum und Zufluchtsstätte. Dies trifft in Wulf Kirstens poetischer Welterschließung auch in ganz konkreter Form zu. Zusammen mit Freunden hatte er gerade zu DDR-Zeiten ergiebige „Fußtouren“ unternommen. Erkundungen, die über das eigentliche Ausflugsziel hinausreichten und zugleich dem ungestörten Dialog, frei von Richtmikrophonen und Spitzeln, dienten:
„Mich hat die Landschaft gehalten und natürlich spielt da auch eine Rolle, daß ich mit Eberhard Haufe und ein paar anderen befreundet war und daß wir wandern gegangen sind, das war unter DDR-Bedingungen sehr wichtig.“
Der Münchener STIFTUNG LYRIK KABINETT ist ein unverstellter Zugang zu einem der wichtigsten deutschen Schriftsteller gelungen. Sieben neueste Gedichte aus Wulf Kirstens Produktion sowie ein ausführliches Gespräch zwischen Jan Röhnert und Wulf Kirsten sorgen in diesem liebevoll aufbereiteten Porträtband für ein anregendes Temperament.
Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben