"Er würde etwas besser machen als eine menschliche Jury..."
Die aktuelle Halbjahresausgabe von poet, der Hauszeitschrift des Leipziger "poetenladen", besticht zunächst einmal durch ihre Wohlstrukturiertheit. Die vierseitige Inhaltsangabe mit eigenen kleinen Exposés zu jedem Unterabschnitt (Neue Prosa, Lyrik, Lyrik International, Gespräche) wirken, als orientierten sie sich an den Sehgewohnheiten webseitengeschulter Leser*innen, und verschaffen mir einen raschen Überblick über ein doch recht umfangreiches Angebot. Es werde, versprechen die ersten Sätze des Editorials von Andreas Heidtmann, hinten im Gesprächsteil um den Einfluss von Wettbewerben auf Autor*innenlaufbahnen gehen; man würde Autor*innen dazu befragen, wie sie
sich (...) in diesem Prozess
sehen. Dagegen lassen sich einige strukturelle Einwände formulieren, aber die können auch noch aufgeschoben werden – erst die Praxis, dann die Theorie.
Praxis, das heisst in diesem Falle: Zunächst eine Reihe von Kurzprosen, die stilistisch wenig, thematisch aber überraschend viel gemeinsam haben ... oder nein, auch nicht genau "thematisch", sagen wir lieber: SIe haben viel gemeinsam, was die Subjektposition betrifft – einerseits finden wir da lauter kongruent übermächtige Subjektivitäten, innere Monologe (inklusive dazugehörigem Wahrnehmungszeug) mit ihren Eigengestzlichkeiten, wie sie vor sich hin rattern; andererseits werden, ebenso kongruent, die "Welten da draussen" in deutlich gröberen Pinselstrichen gemalt. Und zwischen diesen beiden stifte die Form nun ein Verhältnis (weniger despektierliche Formulierungen für den Sachverhalt fallen mir gerade keine ein, aber ich meine es tatsächlich nur deskriptiv – man kann das alles ja so machen wie die hier vertretenen Autor*innen).
Es läge nahe, zu vermuten, dass es die Absicht der Herausgeber*innen war, vom form-lastigsten zum lakonischsten dieser Texte (einerseits: Xaver Bayer, Zug; andererseits: Yulia Marfutova, Tage am Wasser) gewissermaßen einen Bogen zu spannen, indem sie an den Anfang und das Ende des Abschnitts gestellt wurden; jedenfalls gefallen mir, ganz subjektiv, gerade die beiden Enden des Kapitels am besten. Mit der wörtlichen Rede bei Freya Morisse und der allzu betonten Ernsthaftigkeit wörtlich gesetzter Gedanken bei Marius Goldhorn habe ich so meine Probleme, aber es muss ja nicht jedem alles gefallen. Wie gesagt: Das kann man durchaus so machen.
Weit mehr unterschiedliche Schreibhaltungen finden wir in den beiden Lyrikkapiteln. Parallel zum Prosaabschnitt hier nach einem bestimmten ordnenden Prinzip zu suchen, das der Auswahl zugrunde liegt, wäre verfehlt – einmal abgesehen von dem medienimmanenten Prinzip des Geschmacks der Herausgeber, der allerdings gute Arbeit geleistet hat: Es finden sich ausschließlich Vertreter*innen ihrer jeweiligen lyrischen Sensibilitäten, die sich ohne körperliche Schmerzen lesen lassen, ob man diese Sensibilitäten nun teilt (in meinem Fall: Drawert, Dombrowski, Piekar, Steffen, Lorenz) oder eher nicht teilt (Neidel, Krause, Trompeter).
Was den internationalen Teil betrifft: Ich muß Serhi Zhadans Erzählgedichte nicht "als Lyrik" interessant finden, um sie "als Erzähltexte" gerne und mit Gewinn zu lesen. Nancy Morejóns Texte sind scheints schlicht nicht an mich adressiert, was sie mir nicht unsympathisch, aber doch fremd macht. Ähnliches gilt für die kurzen, sehr unterschiedlichen lyrischen Notizen von Luis Chaves (bei ihm ist die Spannweite zwischen Zeug, mit dem ich dann doch noch etwas anfangen kann, und solchen Stellen, die mir persönlich eben leider galloppierend uninteressant erscheinen, sogar grösser). Zwischen diese beiden Blöcke mit Texten aus dem spanischsprachigen Raum ragen Übersetzungen des russischen Futuristen Tichon Tschurilin (1885-1946) durch Jan Kuhlbrodt; man liest sie und denkt eventuell angesichts der Zusammenschau Tschurilins mit, sagen wir, Dombrowski oder Piekar, dass sich gar so viel nicht getan zu haben scheint in den letzten zirka hundert Jahren; vielleicht, dass Tschurilins hier ausgewählten Gedichten die Rezeption-durch-Vortrag deutlicher eingeschrieben ist ...
Und damit wären wir endlich bei dem umfangreichen Interviewteil und bei den, wie eingangs erwähnt, möglichen strukturellen Einwänden gegen seine Grundannahmen angelangt. Denn: Wenn Autor*innen (zugegeben: in Biographie, Textsorten und Marktmacht sehr unterschiedliche Autor*innen) sinngemäß gefragt werden, ob sie die Wettbewerbssituation bei Preisen und Ausschreibungen eher gut oder eher nicht so gut finden ...
... na: Was werden diese Autor*innen wohl darauf sagen? Für abwägend-freundliche Wortspenden in diesem Zusammenhang werden ihre eigenen positive Erfahrungen schon sorgen – verdanken sie doch zumindest Teile ihres Einkommens und Erfolges diversen Juryentscheidungen; und erkennen wir doch allein schon an ihrem fortgesetzten Vorhandensein in diesem so strukturierten Betrieb, dass sie mit seinen aktuellen Spielregeln keine unüberwindlichen Probleme haben. (Dieses alles soll, sicherheitshalber dazugesagt, kein Angriff an gerade diese hier vertretenen Autor*innen und ihre Interviewpartner darstellen; es gilt wesentlich Gleiches für sowieso alle, die sich im Betrieb bewegen, was solls; bloß eben just als Grundlage der Befragung usw.)
Angenehmerweise wird in den längeren Interviews (es gibt neben diesen auch eine kurze Umfrage unter den in poet nr. 20 vertretenen Autor*innen) mit Clemens Setz, Tabea Magyar, Kurt Drawert, Hendrick Jackson und Christoph Wenzel gelegentlich tatsächlich auch auf den interessanteren Aspekt der Frage nach den Wettbewerben eingegangen – wie wirkt ihre Bedeutung im Erwerbsleben der einzelnen Autor*innen sich auf Inhalt, Form, Qualität, Produktionsbedingungen der einzelnen Texte aus?
Alles in Allem: Die Beschäftigung mit einem Teilaspekt der Produktionsbedingungen von Literatur entfaltet in Poet Nr. 20 leider nie ihr autosubversives Potential; interessante Beiträge zum Thema und davor literarische Texte für die meisten Geschmacksrichtungen (innerhalb des Paradigmas "neuerer" Literatur) bietet das Buch durchaus.
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