Ein Wort
Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen,
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Welt und Ich, das darf und muss und will
Als Jugendlicher habe ich Benn verehrt – Benn als den Dichter von „Nur zwei Dinge“. In diesem Gedicht „Nur zwei Dinge“ (1953) wird als Bewusstsein des alten reifen Sprechers die Erkenntnis vorgeführt, dass es nur eines gibt: „ertrage (...) dein fernbestimmtes: Du mußt.“ Durch den Ternar von Sinn, Sucht, Sage wird der Geltungsbereich sei es des Bestimmenden, sei es des zu Ertragenden nebulös ausgeweitet auf „alles“ hin. Diese Erkenntnis ist die eines an allen Lebensformen und -möglichkeiten verzweifelten alten Menschen, dem auch GOTT abhanden gekommen ist und der nur noch als gezeichnetes Ich überleben kann.
Die sprachlich verführerisch präsentierte Formel vom fernbestimmten, jedoch inhaltlich reichlich unbestimmten Müssen ist eine Formel gewesen, an der ich (Jahrgang 1942) mich in meiner späten Pubertät berauscht habe; in der ich in dem Desaster zwischen der Suche nach meinem eigenen Weg und der Unterordnung unter die Erwartungen von Mutter und Pfarrer (beide Statthalter Gottes, mit der unbegrenzten Forderung nach Dankbarkeit und der Drohung unbegrenzter Höllenstrafen) mich zur Unterwerfung verpflichtet glaubte; in der allgemein fühlbar wurde, dass Gott mich zu Höherem berufen und daher zum Verzicht auf das Eigene verpflichtet habe. Ich habe mich von Benn zu dem Irrtum verleiten bzw. in ihm bestärken lassen, der Befehl „du musst!“ sei das erste, das elementarste Wort, das an einen Menschen gerichtet werde.
Dabei ist das wahrhaft erste Wort: „Du darfst.“ Das haben mehrere zu mir zu sagen versucht, aber ich konnte es nur als Versuchung vernehmen, der ich nie nachgeben wollte. Erst als ich gegen alle erlernten Schamgefühle dieses Urwort „Du darfst!“ akzeptiert habe - du darfst mich lieben; du darfst mich begehren; du darfst einen Beruf wählen, der dir ökonomisch Freiheit verschafft; du darfst ein zweites Studium beginnen - habe ich auch die Freiheit gewonnen, radikaler und ehrlicher zu denken (unter der Anleitung von Peter L. Berger: Einladung zur Soziologie) und mich selbst als einen nach bekannten Mustern zur Unterwerfung Geführten (unter der Anleitung von Felix Schottlaender: Die Mutter als Schicksal) zu begreifen. Und daraus ist dann in der Lebensmitte die Freiheit erwachsen zu sagen: „Ich will.“ Ich will dies, und das andere will und tue ich nicht mehr; und ich spiele eure verlogenen Spiele nicht mehr mit.
Natürlich weiß ich, dass ich auch muss - aber nicht weil eine Bestimmungsmacht in der Höhe oder aus der Ferne etwas anordnet, sondern weil ich darf und weil ich etwas gewollt habe. Da habe ich selber mich in Verpflichtungen hineinbegeben, denen ich mich danach stellen „musste“. So habe ich als Vater den „Gehorsam“ gelernt, der als höchste Tugend des Mönchs gepriesen wird: im Schreiben eines Buchstabens aufzuhören, wenn der Abt ruft. Ich habe im Schreiben des Buchstabens aufgehört, wenn meine Kinder mich brauchten - zu meiner Frau sage ich leichter „Moment“ oder „gleich“.
Warum war Benns Formel so verführerisch? Weil sie völlig unbestimmt war und ohne jeden Inhalt den Charakter des göttlichen Gebotes bewahrte; weil sie so die Religion aufhob, ohne sie aufzuheben. Benns pathologisch ersehntes „Du mußt.“ betäubt den Verlustschmerz, der nach dem Tod Gottes auftritt. Hätte er doch Nietzsche besser verstanden: dass wir auch noch den Schatten des toten Gottes besiegen müssen; aus ihm heraustreten müssen; dass wir auf alle Formen des „Du musst...“ verzichten können, wenn wir begriffen haben, dass wir leben und lieben dürfen, und uns entschließen, dass wir so leben wollen. Der gute alte Benn freilich glaubte, alle Formen des Lebens als erledigt und bloß erlitten abtun zu können, und ich habe auf ihn gehört, als ich noch gar nicht alle Formen des Lebens kannte. Heute lese ich Benns Gedichte nüchterner.
Das in „Statische Gedichte“ 1948 veröffentlichte Gedicht „Ein Wort“ hält in acht Versen eine Erfahrung fest, die jeder machen kann: dass sich im sinnlosen Weltlauf plötzlich Erkenntnis und Sinn zeigen kann, um dann wieder unterzugehen. Das im letzten Vers genannte Ich ist großgeschrieben, ist also wohl nicht als lyrisches Ich, sondern als Platzhalter eines jeden Ich zu verstehen: Welt und Ich, der Pol und der Bereich der Erfahrung für jeden.
Es wird zu Beginn angedeutet, dass sich solche Epiphanie des Sinns ereignet. Vorhanden sind „ein Wort, ein Satz“ (V. 1), Sprache also, die jedoch nur eine Chiffre bietet, die sinnlos ist. Es folgt im Präsens die Beschreibung der Offenbarung, die nicht datiert, lokalisiert oder einer Person zugeordnet ist: „erkanntes Leben, jäher Sinn“ - Erkenntnis des Lebens, jäh sich zeigender Sinn, würden wir normalerweise sagen. Es wird nicht gesagt, wie es zu dieser Offenbarung kommt - und das kann man auch wohl nicht sagen: Offenbarung ereignet sich. Es wird aber auch nicht gesagt, worin der Sinn besteht (kann man vielleicht auch nicht - wäre wieder Wort und würde zur Chiffre?). Die Unbestimmtheit des Sprechers ist nicht zu überbieten: Seine Offenbarung schließt keinen Sinn aus.
Im nächsten Vers wird gesagt, was diese Offenbarung bedeutet - so, als wenn der Sprecher das sähe und hörte, was man sich aber nicht so vorstellen sollte: Die Sonne hält im Lauf inne, die Sphären des Himmels hören auf zu tönen: Die Welt steht still, bricht aus der Zeitordnung aus, Ewigkeit ist erfahren. Der nächste Vers zeigt die Reaktion von „allem“: „alles ballt sich zu ihm hin“ (V. 4). Zu ihm, das müsste der Sinn sein; „sich hinballen zu“ ist ein dunkler Ausdruck dafür, dass alles zum Sinn strebt, wobei „ballen“ die Heftigkeit und Allgemeinheit dieser Strebung ausdrücken mag.
In der zweiten Strophe wird „beschrieben“, wie die Offenbarung im Wort [man bedenke die Gegenposition zum christlichen Gottes-Wort, das im Anfang war und Mensch wurde, vgl. Joh 1] wahrgenommen wird: als Licht, als Erleuchtung, in vier gesteigerten Bildern: Glanz - Feuer - Flammenwurf - Sternenstrich; das Glänzen als Offenbarungsmerkmal ist in der christlichen Tradition vorgegeben und spätestens seit Goethe in der Dichtung angekommen („Wie herrlich leuchtet mir die Natur, wie lacht die Sonn, wie glänzt die Flur...“: Mailied). „Flug“ (V. 5) stört die Bilderfolge, ist um der vierten Hebung willen erforderlich (widerspricht er der stillstehenden Sonne?). Jeder Vers besteht aus vier Jamben, stark betont die sinntagenden Wörter (Wort, Satz, Sinn, Sonne, leer, Raum usw.), der erste und dritte Vers jeder Strophe mit weiblicher Kadenz, etwas Pause gönnend, der zweite und vierte Vers (alles im Kreuzreim) härter männlich geschnitten. Die Verse sind bis auf V. 1 in sich geschlossen, was ebenfalls „kleine Pause“ bedeutet.
Die drei Gedankenstriche markieren zweimal einen Übergang, von der Chiffre zum Sinn, vom Sinn zum Dunkel (V. 1 und V. 6). In V. 5 gibt der Strich zu denken, was das verstandene Wort ist: Ein Glanz... Danach wird einfach wieder der Normalzustand als eingetreten markiert: Dunkel, ungeheuer (V. 7) - Dunkel als Gegensatz des erfahrenen Lichts, das nach der Erleuchtung umso dunkler ist.
Wo ist das Dunkel? „im leeren Raum um Welt und Ich“ (V. 8). Da waren früher die Sphären, da war der Ort Gottes - jetzt ist dort nur noch Dunkel.
Im Gedicht fehlen Prädikate, was eine hohe Unbestimmtheit (und damit Beliebigkeit) erzeugt - theoretisch mag man dem das ästhetische Programm der „Artistik“ Benns zuordnen (D. Liewerscheidt), sachlich die Allgemeinheit des Ich. - Zum letzten Vers vgl. die Weiterentwicklung zu „die Leere und das gezeichnete Ich“ in „Nur zwei Dinge“ (1953).
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