Lesart
Ludwig Christoph Heinrich Hölty* 1748† 1776

Der alte Landmann an seinen Sohn

Üb immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab

Dann wirst du wie auf grünen Au´n
Durch´s Pilgerleben geh´n
Dann kannst du sonder Furcht und Grau´n
dem Tod ins Auge seh´n.

Dann wird die Sichel und der Pflug
In deiner Hand so leicht,
Dann singest du beim Wasserkrug,
Als wär dir Wein gereicht.

Dem Bösewicht wird alles schwer,
Er tue was er tu,
Ihm gönnt der Tag nicht Freude mehr,
Die Nacht ihm keine Ruh.

Der schöne Frühling lacht ihm nicht,
Ihm lacht kein Ährenfeld,
Er ist auf Lug und Trug erpicht,
Und wünscht sich nichts als Geld.

Der Wind im Hain, das Laub im Baum
Saust ihm Entsetzen zu,
Er findet, nach des Lebens Raum
Im Grabe keine Ruh.

Dann muß er in der Geisterstund
aus seinem Grabe gehn
und oft als schwarzer Kettenhund
vor seiner Haustür stehn

Die Spinnerinnen, die, das Rad
im Arm, nach Hause gehn
erzittern wie ein Espenblatt
wenn sie ihn liegen sehn

Und jede Spinnestube spricht
von diesem Abenteuer
und wünscht den toten Bösewicht
ins tiefste Höllenfeuer

Der Amtmann, der die Bauern schund
in Wein und Wollust floß
trabt nachts, mit seinem Hühnerhund
im Wald auf glühendem Roß

Oft geht er auch am Knotenstock
als rauher Brummbär um
und meckert oft als Ziegenbock
im ganzen Dorf herum

Der Pfarrer, der aufs Tanzen schalt
und Filz und Wucherer war
steht nachts als schwarze Spukgestalt
um zwölf Uhr am Altar

Paukt dann mit dumpfigen Geschrei
die Kanzel, daß es gellt
und zählet in der Sakristei
sein Beicht- und Opfergeld

Drum übe Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab!

Dann suchen Enkel deine Gruft
Und weinen Tränen drauf,
Und Sonnenblumen, voll von Duft,
Blüh’n aus den Tränen auf.

Werke und Briefe, Berlin und Weimar 1966

Pop im 18. Jahrhundert

Live fast, love hard, die young à Göttingen, à Göttingen.

 

Diese Verse hat wohl jeder schon gehört, kaum jemand weiß, dass sie von Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776) stammen. Der volkstümlich moralisierende Ton ist inzwischen schwer zu ertragen, und so wundert es nicht, dass der Dichter außerhalb der Germanistik kaum noch auf Interesse stößt.

Hölty gehört zu den Initiatoren des 1772 gegründeten Göttinger Hainbundes, einer Gruppe dichtender Studenten, die den Göttinger Musenalmanach zu einem Zentralorgan des Sturm und Drang machen. Man verehrt Klopstock, pflegt ein schwärmerisches Gefühlsleben und gibt sich vaterländisch. 1775 löst der Bund sich auf. Man macht Examen und verlässt Göttingen in Richtung Ernst des Lebens.

Doch manchmal halten die Gewissheiten des ersten Blicks dem zweiten nicht stand. Was, wenn wir Hölty nicht als staubiges Objekt germanistischer Begierden betrachten, sondern als Mitglied des legendären Klub 27? Schließlich ist er gut drei Monate vor seinem 28. Geburtstag gestorben. Der Einwand, dass in diesem Klub nur Popmusiker*innen zugelassen sind, wird erstens dadurch entkräftet, dass ihm auch schon Georg Trakl zugerechnet wurde, und zweitens dadurch, dass die Dichtung des Sturm und Drang die wohl erste der umfassenden jugendlichen Dissidenzkulturen der bürgerlichen Epoche ist. Um großen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, werden hier statt Schlagzeug und E-Gitarre antike Versmaße und emphatische Neologismen verwendet. Städte wie New Orleans, Liverpool oder San Francisco heißen im 18. Jahrhundert Göttingen. Wer über dieses Göttingen Näheres wissen möchte, lese das Zweite Buch in Heinrich Albert Oppermanns Roman Hundert Jahre, Während der Sündflut.

Charlotte von Einem schreibt:

Vor allem mein edler frommer kindlichtreuer Hölty, der in dem aller häßlichsten Körper die schönste Engelseele – ach leider unter schweeren Druck, nur auf kurze Zeit bewahrte. Ja – ich mögte sagen – vast mußte mann die Augen zu schlüßen wenn mann so mit Liebe sich ihn nähern oder ihm nahe haben mögte: so w i e d r i g war sein Äusres.

Mit so einem widrigen Äußeren hat ein Mensch drei Möglichkeiten: Er übt sich in Demut bis zur Unterwürfigkeit, er wird zum beißenden und reißenden Biest, oder er schärft seinen Geist. Hölty möchte geliebt und bewundert werden. Er wird Dichter. Aber keiner von den Dienstleistern, die dem Publikum auf Maß gefertigt Bestelltes liefert, sondern ein Melancholiker, der weiß, dass er mit seinen Wünschen nicht allein und trotzdem einsam ist.

Doch genug Küchenspsychologie.

 

 

Was schreibt Hölty außer blassen Versen nach Art des evangelischen Gesangbuchs? – Zum Beispiel so etwas:

DER BACH

Wie Blandusiens Quell rausche der Afterwelt
Deine Lispel, o Bach, tanze der Enkelin
               Silberblinkend vorüber,
                               Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr!

Dieses Rieselgeräusch, welches dem Quell enttönt,
Dieses Zittern des Laubs flüstert mein Herz in Ruh,
               Gießt ein lindes Erbeben
                               Durch die Saiten der Seele mir.

Lieblich wirbelst du hier, Zauberin Nachtigall!
Deinem Abendgesang lauschet dein Freund hier oft,
               Und dem Wellengeplätscher,
                               Und dem Säuseln des Uferschilfs.

Dann durchhüpf ich, als Kind, wieder die Frühlingsflur,
Trage Blumen im Hut, tummle mein Steckenroß
               Oder schaffe mir Welten
                               Und bin König und Herr darin.

Ein balsamischer Hain säuselt um mich empor,
Eine Hütte darin winket dem Schaffenden,
               Und ein freundliches Mädchen
                               Hüpft im Garten und lächelt mir.

Von des fliehenden Tags Golde beflimmert, rauscht
Sie durchs Rosengebüsch, gibt mir den ersten Kuß,
               Fleucht, und lächelt, und birgt sich
                               Wieder hinter den Blütenbusch.

Weil, ich fliege dir nach! Warum entflohest du?
Plötzlich lispelt der Strauch, Himmel! sie schlüpft hervor,
               Und es schüttelt der Strauch ihr
                               Einen Regen von Blüten nach.

Wie Blandusiens Quell, rausche der Afterwelt
Deine Lispel, o Bach, tanze der Enkelin
               Silberblinkend vorüber,
                               Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr!1

Als Adept Klopstocks trifft er nicht nur den aufgeregt-sentimentalen Sound der Zeit, wie ein Popmusiker verwendet er versteckte Codierungen, um seine Credibility bei den Fans zu sichern: In der ersten Strophe spielt er doppelt auf Horaz an, indem er dessen Fons Bandusiae zitiert (Carmina 3,13) und überdies das Versmaß übernimmt, die für die deutsche Sprache adaptierte, zweite asklepiadeische Strophe:

O Blandusiens Quell, silbern und spiegelhell,
Werth mit Weine vermählt, Blumen gekränzt zu seyn,
[…] (Übs. Herder)

Weit entfernt vom jambischen Klappern ist das fließende Odenmaß in den beiden ersten Versen jeweils kurz aufgestaut durch das Aufeinandertreffen zweier betonter Silben, wofür es die schöne Bezeichnung Hebungsprall2gibt. So entsteht rhythmisch das Bild eines steinigen Bachs, der durch eine Aue fließt, ausgemalt mit beinah barocken Klangfarben.

Eingebettet in die kunstvolle Konstruktion aus asklepiadeischer Strophe und reichem Klang: das große Gefühl. Dass die Natur als Spiegel des Gefühls dient, ist schon im 18. Jahrhundert ein Klischee. Goethe ist da entwaffnend ehrlich:

Wie herrlich leuchtet
M i r die Natur!

Was damals noch Klischee war, ist längst Plattitüde. So platt, dass die Natur keines Blickes mehr gewürdigt zu werden braucht. Es reicht, eine fadenscheinige Abstraktion abzurufen:

Hoch auf dem Kilimandscharo,
da liegt im Sommer noch Schnee.
Und tief im Herzen,
da spür ich genau ...
es tut immer noch weh, singt Andrea Berg(!).

Es kann also nicht darum gehen, dass hier jemand sein Gefühl in die Natur projiziert. Das ist nichts Besonderes. Spannend ist hier zum einen die Emphase der Sprache.

Die Afterwelt (Nachwelt) und die Lispel (das Flüstern) sind lediglich außer Gebrauch geraten, aber Grünt, ihr Erlen des Ufers, ihr! ist schon bemerkenswert, denn die Verdopplung des Anredepronomens kommt eigentlich nur gegenüber Personen vor als Ausdruck von Zärtlichkeit (du Liebe*r, du) oder von Abscheu (du Mistkerl/-stück, du). Das ist mehr als sentimentale Projektion, das geht ins Schamanische. Denn die Seele des Empfindsamen wird als Resonanzkörper gesehen, über den Saiten gespannt sind, die von den leisesten Regungen der Außenwelt zum Schwingen gebracht werden, eine Art Äolsharfe. Hier bekommt die Inspiration ihre wörtliche Bedeutung. Dieses Zittern des Laubs flüstert mein Herz in Ruh, / Gießt ein lindes Erbeben / Durch die Saiten der Seele mir. Der sentimental Schwärmende wird so auch zum Dichter (dessen Symbol die Äolsharfe ist) und zum Freund der Nachtigall, die nicht nur in der Liebeslyrik des Orients eine bedeutende Rolle spielt.

Dieser Dichter lauschet […] dem Wellengeplätscher, / Und dem Säuseln des Uferschilfs. Diese Wörter beschreiben eigentlich nur, ihr onomatopoetischer Klang aber macht sie zum Bach. Und so stellt sich heraus, dass die Zauberin Nachtigall hier nicht eine (flaue) Metapher ist, denn der Dichterschamane, der zärtlich mit den Bäumen spricht, wird tatsächlich verwandelt, macht eine Zeitreise in die Kinderzeit, in der die Weltherrschaft ein ebenso harmloses Vergnügen ist wie Blumenpflücken und mit dem Steckenpferd über die Wiese zu tollen.

Das dominierende Motiv aber ist die sinnloseste, selbstvergessenste und lustvollste aller Fortbewegungsarten: das Hüpfen. Goethe lässt im Faust den Euphorion auf diese Weise die Schwerkraft überwinden:

Nun laßt mich hüpfen,
Nun laßt mich springen!
Zu allen Lüften
Hinaufzudringen,
Ist mir Begierde,
Sie faßt mich schon. (9711-9716)

Goethe verwendet das Maotiv für eine Allegorie der künstlerischen Freiheit und lässt den Hüpfenden tragisch als Ikarus enden. Bei Hölty hingegen durchhüpf(t) der Junge die Frühlingsflur, und auch ein freundliches Mädchen hüpft im Garten – wie auf Sprungfedern geraten die beiden zueinander, und eins der Hauptthemen des Pop wird als bukolische Szene durchgespielt: Young Love.

Im 18. Jahrhundert führten Gessners Idyllen lange Zeit die Hitparade an:

Damon: Izt hab ich sechszehn Frühlinge gesehn, doch liebste Phillis! keiner, noch keiner war so schön wie der; weisst du warum? ‒ ‒ Ich hüt’ izt neben dir die Herde.
Phillis: Und ich, ich hab izt dreizehn Frühlinge gesehn. Ach liebster Damon! keiner, nein keiner war für mich so schön wie der; weisst du warum? ‒ ‒ Izt drükte sie ihn seufzend an die Brust. (Salomon Gessner, Idyllen 1756)

Doch wie hölzern wirkt die Young-Love-Standardsituation bei Gessner im Vergleich zu Hölty:

Von des fliehenden Tags Golde beflimmert, rauscht / Sie durchs Rosengebüsch, gibt mir den ersten Kuß, / Fleucht, und lächelt, und birgt sich / Wieder hinter den Blütenbusch. // Weil, ich fliege dir nach! Warum entflohest du? / Plötzlich lispelt der Strauch, Himmel! sie schlüpft hervor, / Und es schüttelt der Strauch ihr / Einen Regen von Blüten nach.

Hier vibriert der Rhythmus des Asclepiadeus im Rausch der Klangfarben, im Schlüpfen klingt noch das Hüpfen nach, und die magische Natur scheint mit dem lispelnden Strauch endlich der schwärmerischen Ansprache an die Erlen des Ufers zu antworten. Doch es ist nur ein zärtliches Verwirrspiel. Young Love eben. Always different, always the same hat John Peel über Mark E. Smith gesagt und damit eines der Grundgesetze des Pop formuliert, der nur dann stark ist, wenn die Gefühlslage vor und auf der Bühne identisch ist.

 

  • 1. S.169 a.a.O.,S.140f
  • 2. Wär übrigens auch mal ein nettes Adjektiv: Hebungsprall knallen daktylische Verse / Arglosen Hörern aufs offene Ohr

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