Lesart
Stefan Zweig* 1881† 1942

Sonnenaufgang in Venedig

Erwachende Glocken. – In allen Kanälen
Flackt erst ein Schimmer, noch zitternd und matt,
Und aus dem träumenden Dunkel schälen
Sich schleichend die Linien der ewigen Stadt.

Sanft füllt sich der Himmel mit Farben und Klängen,
Fernsilbern sind die Lagunen erhellt.-
Die Glöckner läuten mit brennenden Strängen,
Als rissen sie selbst den Tag in die Welt.

Und nun das erste flutende Dämmern!
Wie Flaum von schwebenden Wolken rollt,
Spannt sich von Turm zu Türmen das Hämmern
Der Glocken, ein Netz von bebendem Gold.

Und schneller und heller. Ganz ungeheuer
Bläht sich das Dämmern. – Da bauscht es und birst,
Und Sonne stürzt wie fressendes Feuer
Gierig sich weiter von First zu First.

Der Morgen taut nieder in goldenen Flocken,
Und alle Dächer sind Glorie und Glast.
Und nun erst halten die ruhelosen Glocken
Auf ihren strahlenden Türmen Rast.

Anja Kampmann* 1983

Auflösung

Ich würde die Straßen nicht mehr finden

und es wäre ein Wunsch unter allem
und die Straßen mit ihrem Lärm
und dass leis etwas pochte, wo

und es würden Zelte aufgeschlagen und wieder
abgerissen, Sandburgen und all
die Ruhe mit der Zeit wenn ein Halm Gras
eine Sonnenuhr ist, aber wenn

wenn all die Fäden mit der Zeit sich doch
zu keinem Bündel fügen dies und das
das einerlei der Himmelsfarben

so wäre das Licht nur geborgt das langsam
die Schatten der Bäume anschiebt.

 

Umgewandelt in ein leises Vielleicht

In dem Gedicht „Sonnenaufgang in Venedig“ von Stefan Zweig wächst dem Leser die Zeit in Form einer einzigartigen Dynamik des Lichtes entgegen. Dass dieses Wachsen zum sichtbaren Ereignis wird, verdankt sich allerdings nicht der reinen Bildlichkeit, wenn das Gedicht auch mit der Überschrift die Kulisse vorgibt, in die sich Kanäle, Lagunen und Dachansichten der ewigen Stadt widerstandslos fügen. Es ist also nicht allein oder zuerst das Auge, das diesen Triumph des Lichtes wahrnimmt. Noch bevor der Blick sich auf das erste Flackern richtet, hören wir: erwachende Glocken. Es ist der Klang, der den Raum öffnet und das Tableau einer Stadt aus der Vogelperspektive ins Dreidimensionale öffnet: Das Glockengeläut dringt ins Ohr durch einen dem metrischen Empfinden nach forteilenden Rhythmus, dessen Doppelsenkungen stellenweise auf einfache verkürzt erscheinen; ein Kunstgriff, der jenen charakteristischen Zusammenklang von Glocken abbildet, deren Läutefrequenzen sich zu einem Rhythmus mit ständig wechselndem Schwerpunkt überlagern.  
Das Erwachen der Stadt ist in Wirklichkeit das Erwachen des Lichts, lediglich die Glöckner bevölkern die Szene, aber unsichtbar, hier leben nur Klang und Licht.

Das Zusammenspiel dieser beiden Sinneseindrücke setzt im piano ein, um sich über ein allmähliches crescendo bis hin zur Hymne der letzten Strophe zu steigern. Da diese Steigerung sowohl auf semantischer als auch auf lautlicher Ebene durchgeführt wird – vom matten Flackern über das flutende Dämmern bis hin zur berstenden, stürzenden, fressenden Eigenschaft des Lichts – gibt es nahezu keinen Ansatzpunkt, von dem aus die perfekte Harmonie von Form und Inhalt in diesem Gedicht zu widerlegen wäre.

Unter den Einflüssen von Symbolismus und Wiener Impressionismus entstanden, gehen von der Harmonie dieses Gebildes Faszination und Unbehagen zugleich aus. Mit dem gesunden Abstand von 100 Jahren darf ein Bekenntnis zur Faszination durch die symbolistische Dichtung um 1900 wohl geäußert werden, allerdings werden wir, angekommen im 21. Jahrhundert und als Enkel der Moderne, wohl kaum anders können, als dem Unbehagen an der reinen Harmonie Ausdruck zu verleihen; auch die Imitation der Perfektion und des hohen Tons etwa in der Manier eines Retro-Stils bleibt noch, von Verfremdungstechniken, Parodien und Persiflagen abgesehen, Ausdruck ironischer Brechung.

Einen vollkommen unironischen Gegenentwurf zu Stefan Zweigs Sonnenaufgang dagegen stellt Anja Kampmanns Gedicht Auflösung dar. Obwohl sich, anders als bei Zweig, am Anfang ein Ich zu erkennen gibt, werden die von ihm beschriebenen Eindrücke durch den Konjunktiv bis zum Schluss in der Schwebe gehalten, die Syntax tastet sich gleichsam ins Gedicht, die Bilder erfüllen die Eigenschaft fragil zu sein (es würde aufgeschlagen und wieder abgerissen, ein Halm Gras, die Fäden). In dem Gedicht geht es leis zu, im Zentrum des Gedichts herrscht Ruhe. Hier wird kein triumphales Bild des schönen Scheins entworfen, in dem das Licht eine ewige Stadt vergoldet, hier, in Auflösung, ist das Licht nur geborgt und besitzt die Eigenschaft Schatten zu werfen. Was bei Zweig Beständigkeit und Pracht suggeriert, wird in Kampmanns Gedicht umgewandelt in ein leises Vielleicht.

Ein Unbehagen bleibt aus, die Harmonie wird in Auflösung gekonnt aus dem Lot gebracht. Ab wann dabei die erträgliche Abweichung beginnt und wie viel sie betragen darf, mag am Ende eine banale Geschmackssache bleiben. Das leise, Schatten werfende Licht jedenfalls aus Kampmanns Gedicht habe ich kürzlich erst gehört.

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