Von und mit Ilma Rakusa
Mich interessiert eigentlich fast alles im Leben.
Ilma Rakusa (c) Giorgio von Arb
Das Interview ist im Grunde gar nicht meine Form. Ich formuliere lieber schriftlich, sehr konzentriert, langsam, überarbeite alles. Ich komme von der Lyrik und da ist der komprimierte, konzentrierte Ausdruck ja wichtig. Ich schreibe auch keine Lyrik, die wie ein Parlando ist, das könnte man, aber das ist nicht meine Art. Ich bin also relativ weit vom Gesprochenen entfernt. Und wenn ich dann doch spreche, finde ich das immer redundant und langfädig und sogar uninteressant, zum Teil. Und ein Selbstgespräch in dieser Form habe ich überhaupt noch nie geführt, ein lautes in Anwesenheit einer netten jungen Frau, die aber nur schweigend dabei sitzt, das habe ich überhaupt noch nie gemacht. Finde das sehr originell. Denn das Selbstgespräch gibt es natürlich, leise, mit sich selbst, das ist ja die Definition eines Selbstgespräches. Und wie das halt so ist, im klassischen Selbstgespräch gehen die Gedanken hin und her. Sie folgen nicht einem klaren Konzept. Man ist schnell abgelenkt, unterliegt Stimmungsschwankungen. Ziemlich interessant. Auch fragt sich, in welcher Sprache man Selbstgespräche führt. Ich zum Beispiel führe Selbstgespräche in verschiedenen Sprachen, das muss nicht Deutsch sein, das kann auch Ungarisch sein, das kann Englisch sein, Russisch, je nach Laune, je nach Umgebung, je nach Tagesablauf oder dem, was gerade passiert ist. Und das Allerwichtigste: Die Gedanken springen eher, das sind so sprunghafte Angelegenheiten, die Selbstgespräche. Beim Schreiben ist es anders. Da darf das Spontane zwar eine Rolle spielen, aber im Rahmen einer gewissen Konstruktion oder Inszenierung. Einfach so zufällig etwas rein flutschen lassen ist ja meistens dann nicht so klug und bewährt sich auch nicht. Aber im Mündlichen herrschen andere Gesetze. Und beim Zwiegespräch ist das nochmals anders, da hat man ja zwei aktive Beteiligte und jeder ist ein Agens und liefert Inputs, auf die man wieder antwortet. Es ist ein Ballspiel. Und nun werde ich sehen, wie ich allein mit mir klar komme und wohin mich der Gedankenstrom überhaupt trägt.
Vielleicht doch zum Schreiben, diesem Schreiben, das ich schon sehr lange praktiziere. Ich habe schon als Kind Lust gehabt, zu schreiben, mit sieben, acht, in den ersten Klassen Aufsätze, das hat mir eigentlich am besten gefallen. Das Schreiben war aber deutlich auch ein Nebenprodukt, oder eine Folge vielleicht, des Lesens. Denn ich habe, kaum konnte ich lesen, sofort sehr viel gelesen. Und mit Leidenschaft gelesen. Und mich auch sehr bewusst in diese Parallelwelt hinein begeben. Das hatte wiederum seine Gründe, weil ich mich in der familiären Umgebung gut, in der restlichen Umgebung weniger gut gefühlt habe. Wir sind ja aus Triest nach Zürich gekommen und da bin ich dann auch zur Schule und das war ein Schritt in eine ganz andere Welt, im Grunde, einen anderen Alltag, auch eine andere Sprache. Die habe ich schnell gelernt, das Deutsche. Und das Deutsche ist mir dann ja wirklich zur Heimat geworden und die Sprache, nach wie vor, in der ich schreibe. Und so war das Lesen eine Möglichkeit, mich der realen Welt ein Stück weit zu entziehen und in einer Parallelwelt Zuflucht zu suchen. Ich habe auch früh schon ziemlich komplizierte Bücher gelesen. Zum Beispiel habe ich schon mit zehn Jahren Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ gelesen. Das war schon ziemlich früh für ein solches Buch, aber es hat mich sehr, sehr beeindruckt und auch begeistert. Und zwar nicht der Mord von Raskolnikow, sondern viel eher die Gedanken, die Dostojewskij darüber wälzt. Und dann die Figur der Sonja, der gläubigen Prostituierten, die versucht, diesen Mörder irgendwie zu bekehren und zu einem guten Menschen zu machen. Kurzum, das hat mich so beeindruckt, dass ich eigentlich damals schon den Wunsch verspürt habe, Russisch zu lernen, die Sprache von Dostojewskij, und Dostojewskijs Bücher irgendwann einmal im Original zu lesen. Das habe ich dann auch hingekriegt, denn ich habe in der Tat Slawistik, mit Schwerpunkt Russisch, studiert und Französisch.
Aber zurück zum Lesen. Ja, dieses Lesen war ganz sicher mit ein Grund, warum ich dann auch Lust hatte, selber was zu formulieren. Weil ich dachte, es ist großartig, sich etwas auszudenken und selber bestimmen zu können, was man erfindet. Ja, da kann mir eigentlich niemand reinreden, da erschaffe ich meine kleine Welt und das ist wirklich dann meine Welt. Das hat sicher eine sehr große Rolle gespielt auch für den Prozess der Selbstständigwerdung. Da war ich auch schon relativ früh dran, mit diesem Wunsch, eigenständig zu sein, mich also nicht nur immer anzupassen im Verhalten und Denken, sondern eben eigene Wege zu gehen. Und zwar nicht auf eine laute und rebellische Art, sondern eher auf eine stille und heimliche Art. Und ich habe ja auch nichts Verbotenes getan. Dostojewskij zu lesen war zwar nicht gerade das, was meine Eltern von mir erwarteten, aber er stand einfach im Bücherschrank, meine Eltern haben auch sehr viel gelesen und insofern habe ich mich da bedient. Und sie haben mich auch überhaupt nicht gehindert, zu schreiben und das alles zu tun. Sie fanden das vollkommen in Ordnung, waren vielleicht sogar ein bisschen stolz, dass ich so gern geschrieben habe und gute Aufsätze geschrieben habe und haben mich in jeder Beziehung gefördert, auch in der Musik. Denn neben der Literatur war dann Musik mein zweites Standbein. Ich habe früh angefangen, Klavier zu spielen, Bach und Bartók. Und das hat eben auch eine Rolle gespielt, nicht nur für mein Leben, auch für mein Schreiben. Weil das Musikalische, auch der Sprache, mir sehr wichtig ist und ich sehr stark mit dem Gehör schreibe, also nicht nur vom Visuellen ausgehe, sondern mehr vom Klanglichen.
Die ersten Schreibversuche machte ich in der Schule, in Form von Aufsätzen. Und dann fing es so mit 13, 14 an, da hab ich angefangen, Tagebuch zu schreiben, ziemlich konsequent. Und zwar nicht nur so ganz kurze Einträge, sondern manchmal auch längere Berichte über Reisen, über Erlebnisse. Und diese Tagebuchschreiberei, sozusagen, die habe ich beibehalten bis heute. Da ist einiges zusammen gekommen, wobei ich überhaupt nicht jeden Tag schreibe. Es gibt Phasen, da entsteht nichts, weil keine Zeit ist oder kein Bedürfnis. Also da ist überhaupt kein Zwang, dass man das jeden Tag tut. Aber ich schreibe doch relativ viel, habe alle meine Reisen dokumentiert und vieles andere auch.
Das war das eine damals, mit 13, 14. Das andere: Da entstanden die ersten Gedichte. Und das ist kein Zufall. Weil mich die Lyrik und dieser kurze, knappe Ausdruck eigentlich immer sehr fasziniert hat. Ich habe mich nie für eine begnadete Erzählerin gehalten, sondern eher für jemand, der aufgrund von Eindrücken etwas komprimiert und dann eben mit der Musikalität der Sprache arbeitet. Mein erstes Gedicht ist, das ist vielleicht auch ganz interessant, auf einem Friedhof entstanden. Nicht einem beliebigen Friedhof, das ist der Friedhof in Kilchberg bei Zürich, wo Thomas Mann und seine Frau und auch einige seiner Kinder beerdigt sind. Dieser Friedhof liegt sehr schön, man hat einen wunderbaren Blick auf die Berge. Und ich habe mich da ganz wohl gefühlt, weil der Friedhof relativ nahe ist von dem Haus meiner Eltern, wo ich gewohnt habe. Ich bin immer wieder hochspaziert und habe mich auf eine Bank gesetzt. Und einmal ist mir dann ein Gedicht eingefallen, das ich eigentlich bis heute als mein erstes Gedicht ansehe, aber nie veröffentlicht habe. Diese frühen Gedichte veröffentlicht man nicht, so toll sind sie nicht. Aber es ist ein Ansatz da, den man wiedererkennt. Und auch eine Art Impetus, es ist ja entstanden, da war wirklich so ein bestimmtes Bedürfnis, da mal was zu formulieren, was diesem Zustand, dieser Atmosphäre, diesem Moment irgendwie gerecht wird. Und dann sind im Laufe dieser nächsten Jahre auch immer wieder Gedichte entstanden. Vor allem als ich mit meinem neu erworbenen Schweizer Pass zum ersten Mal in den Ostblock gefahren bin. Das konnte ich vorher nicht. Und ich komme ja aus dem Osten, insofern war das eine Art von heimkehren. Die Reise führte nach Prag, 67. Und dieses Prag hat mich unglaublich beeindruckt. Ich habe plötzlich gemerkt: das ist vertrautes Gelände. Obwohl, ich komme ja nicht aus der Tschechoslowakei. Ich bin halb Ungarin, halb Slowenin. Ich bin aber in der Slowakei geboren und kam dann nach Ungarn, Ljubljana und Triest und Zürich. Aber es war doch eine Art Heimkehr. Eine Stadt, deren Gebäude ich großartig fand. Es ist ja auch eine großartige Stadt. Ich wusste natürlich einiges über Kafka und über Komponisten wie Dvořák und Smetana. Und was mich ganz besonders berührt hat, weil es mich an meine Kindheit erinnerte, war der Geruch dieser Stadt. Es roch sehr nach Braunkohle. Mit Braunkohle wurde in der Schweiz schon lange nicht geheizt. Und der Braunkohlegeruch war der Geruch meiner Kindheit in Ljubljana und auch in Budapest, teilweise in Triest. Es ist so ein säuerlicher Geruch, den man auch nicht mögen kann, aber für mich war er einfach der Geruch meiner Kindheit. Und ich kam da hin und hätte schon mit der Nase gewusst: Jetzt bist du am richtigen Ort, da gehörst du eigentlich hin. Und natürlich sind solche Erinnerungen dann auch ausschlaggebend dafür, dass man emotional berührt ist und dass man darüber was sagen möchte. Und zwar nicht irgendwie, sondern halt möglichst auch wieder komprimiert und auf eine Weise, die das im Kern erfasst, diese Erfahrung und dieses Affiziertsein. Und da habe ich einen ganzen Prag-Zyklus geschrieben, den ich geheim gehalten und nie veröffentlicht habe. Man ist in diesem Alter, glaube ich, etwas schüchtern und natürlich auch publikumsscheu, weil ich mir auch gar nicht sicher war, ob das für eine Öffentlichkeit überhaupt gedacht ist. Ich habe es in erster Linie für mich geschrieben. Und habe das auch niemandem gezeigt. Ich habe sogar noch Zeichnungen dazu gemacht. Zum Glück gibt es das alles, für mich ganz interessant zu sehen, wie hast du dich entwickelt, seither. Aber ich würde es nie veröffentlichen wollen, also in keinem Zusammenhang. Die Gedichte, die ich später geschrieben habe, so mit 24, 25, habe ich zum Teil in Zeitschriften veröffentlicht. Das war dann sozusagen der Anfang des Veröffentlichens. Und parallel dazu habe ich übersetzt und meine Dissertation geschrieben. Da lief es sozusagen auf drei Schienen: es gab die wissenschaftliche Schiene mit meiner Dissertation zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur, dann meine erste Übersetzung von Marina Zwetajewa und eben diese Gedichte, die ich vereinzelt veröffentlicht habe. Ich wusste, dass von diesen drei Schienen mir das eigene Schreiben das Wichtigste ist, das wusste ich damals. Trotzdem habe ich übersetzt. Ich habe ungefähr 25 Bücher übersetzt, so im Laufe der Jahre. Und habe auch wissenschaftlich gearbeitet, aber ich habe mich nicht habilitiert. Ich war Lehrbeauftragte, keine ordentliche Professorin. Ich wollte keine wissenschaftliche Karriere machen, das Schreiben war mir das Wichtigste. Dafür blieb oft gar nicht die nötige Zeit. Ich hätte mehr schreiben können, wenn ich nicht auch übersetzt und unterrichtet hätte und irgendwann kam auch das Kind. Ich habe einen Sohn und den aufzuziehen, das war natürlich eine große Aufgabe. Ja.
Das Schreiben hat mich innerlich immer beschäftigt und es war mein heimlicher Wunsch, mehr zu schreiben. Aber was? In erster Linie Lyrik. Spontan waren es immer Gedichte, die entstanden sind. Als ich dann den Wunsch hatte, Prosa zu schreiben, wusste ich schon, dass ich nur für kürzere Formen begabt bin. Einen ausgewachsenen Roman habe ich bis heute nicht geschrieben. Schon aus dem Grund, weil mir irgendein komplizierter Plot einfach nicht einfallen will. Also irgendeine vertrackte Story mit komplizierten Verbindungen, wo man schon regelrecht eine Romanarchitektur entwerfen und alles genau aufzeichnen müsste. Nein, das ist eigentlich nicht meine Art, Prosa zu schreiben, sondern es hat mich dann eher zu kurzen Erzählungen gedrängt. Mein erstes Prosabuch hatte immerhin 110 Seiten, aber ich habe es im Untertitel als Erzählung bezeichnet, denn es ist tatsächlich kein Roman. Es heißt "Die Insel" und erschien 1982 bei Suhrkamp. Eine im Grunde ziemlich lyrische Prosa. Geschrieben aus der Optik eines Mannes, eines männlichen Protagonisten. Mal in Ich-Form erzählt und alternierend in der Er-Form, das geht immer hin und her, erste Person – dritte Person. Dadurch entsteht eine gewisse Abwechslung. Aber es geht immer um diesen Mann und es geht um seinen Aufenthalt auf einer griechischen Insel, Patmos, und um die Verarbeitung einer gescheiterten Ehe und um eine Art von Selbstfindung nach diesem persönlichen Fiasko. Wie findet er zu sich und überhaupt, wie findet er zu einem Weiterleben. Und er macht auf dieser Insel für ihn sehr wichtige Erfahrungen. Nämlich er kommt erstens der Natur näher, er ist viel allein, er bewegt sich in der Landschaft, er geht viel zu Fuß. Er beginnt, seinen Körper zu spüren durch dieses Barfußgehen und durch dieses Sich-der-Landschaft-aussetzen. Er hat dann dort einen griechischen Freund, Bekannten, den er zwar sprachlich gar nicht so gut versteht, weil er nicht Griechisch kann, der Protagonist. Aber sie verstehen sich eben über die Körpersprache. Eines der wichtigsten Themen des Buches ist der Körper. Was ist eigentlich der Körper? Den hat er, ein ehemaliger Lehrer, vernachlässigt. Er ist ein Mensch des Buches, er liest viel, er denkt viel nach. Aber er lernt zusätzlich noch etwas Neues, nämlich sich als Körper zu fühlen, also nicht nur als Kopfmensch in Büchern zu existieren, sondern mit seinem ganzen physischen Sein und Gewicht. Eine Frau lernt er auf der Insel nicht kennen, es gibt da überhaupt keine neue Liebesbeziehung, sondern er verarbeitet eigentlich erst mal das, was war, und führt auch sehr viele Selbstgespräche und fiktive Gespräche mit dieser Frau, die er verloren hat, dieser Ann.
Ja, das war mein erstes Buch und eigentlich war ich erstaunt, dass ich das schreiben konnte. Ich kam auf dieses Buch aufgrund eines Erlebnisses, das ich selber hatte, nämlich diese Insel, die habe ich selbst besucht und auch erwandert, habe dort auch meine Landschaftserlebnisse gehabt. Es ist ja die sogenannte heilige Insel, sagt man, weil dort Johannes angeblich die Apokalypse geschrieben hat, die Offenbarung. Und da gibt es eine heilige Höhle, wo er angeblich gesessen hat, und ein schönes Kloster und so. Also Landschaft und Kultur kommen auf dieser Insel auch sehr schön zusammen. Und das konnte ich natürlich gebrauchen für den Roman, nämlich die Anschauung der Landschaft. Den Rest habe ich mir irgendwie dann doch ausgedacht. Und man ist ja natürlich, wenn man schreibt, in jeder Figur drinnen, das spielt gar keine Rolle, ob weiblich oder männlich. Mir fällt es nicht schwer, mich auch in einen Mann hinein zu fühlen oder hinein zu denken, oder in ein Kind. Also das war für mich gar kein Thema. Als mich damals einige feministische Kritikerinnen gefragt haben: „Ja, warum jetzt ein erstes Buch und gleich aus männlicher Perspektive geschrieben, was bedeutet das?", da habe ich gesagt: „Ja, was bedeutet das? Ich habe das Buch so im Kopf gehabt, ich konnte nicht anders.“ Das war für mich von Anfang an ein männlicher Held, wobei ich sehr viel Persönliches trotzdem habe einfließen lassen, eben durch meine eigenen Erlebnisse auf dieser Insel.
Als nächstes kam ein Erzählungsband mit kürzeren Erzählungen, "Miramar". Wirklich kurze Erzählungen, was bedeutet, dass sie irgendwie jäh anfangen und dann oft jäh aufhören. Also es gibt keine Pointen oder ausformulierten Enden, ob das jetzt happy oder unhappy ist oder so. Ich mag das Genre sehr, der Erzählung. Kurzgeschichte, ja, ich nenne es jeweils Erzählung, bin eine große Bewunderin von Anton Tschechow, der für mich wirklich ein unübertroffener Verfasser von Geschichten, Kurzgeschichten ist. Vor allem dadurch, dass er vieles in der Schwebe lässt, aber einem die Charaktere, und das sind manchmal nur zwei in einer Erzählung, sehr nahe bringt, auch psychologisch und atmosphärisch. Und ja, wenn man diese Erzählungen studiert, dann lernt man, was man eben auf jeden Fall vermeiden soll, weil er das so gut macht. Das heißt, man muss viel Ausführlichkeit vermeiden, man darf eine Figur nicht kommentieren, die Erzählung in ihrer Kürze lässt das gar nicht zu, man muss eigentlich in medias res. Ich habe sogar mal eine Erzählung angefangen mit dem Wort "andererseits". Das "einerseits" habe ich weggelassen, das steht irgendwo im luftleeren Raum, es steht nicht da, sondern es beginnt gleich mit „andererseits“. Ein Sprung mitten hinein, in eine Figur, in eine Situation, und was geschieht daraus. Eigentlich braucht es für mich nur wenige Elemente, um eine Erzählung zu schreiben, so wie ich Erzählungen schreibe. Es gibt ja viele Möglichkeiten, Erzählungen zu schreiben, aber mich hat eben diese Art von Tschechow ganz besonders überzeugt. Eben die Fäden nicht immer zusammen zu führen, sondern oft einfach irgendwo ausfransen zu lassen, man denkt sich als Leser schon das Seine, oder ergänzt in der Vorstellung, wie es weitergehen könnte. Auch die berühmte Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“, das ist auch großartig, ja. Ich habe diese Erzählung einmal weiter geschrieben, auf Wunsch eines Zeitschriftenredakteurs in der Schweiz. Die Frage ging nicht nur an mich, wir sollten Texte nehmen, die wir gerne anders schreiben würden, oder umschreiben, oder mit einem anderen Schluss versehen. Und so habe ich lange überlegt, mein Gott, das ist ja irgendwie ein bisschen viel verlangt! Und dann habe ich mir doch gerade einen Lieblingsautor vorgenommen und habe tatsächlich "Die Dame mit dem Hündchen" umgeschrieben. Das heißt, ich folge Tschechow über eine Strecke, zitiere ihn zum Teil auch wörtlich, und dann läuft die Erzählung in eine andere Richtung, aber im tschechowschen Geiste, das heißt, ich setzte da auch keine Pointen und irgendwelche Sachen, die ihm nicht gefallen könnten. Vielleicht hätte er das sogar akzeptiert, wer weiß. Ich habe die Erzählung jedenfalls dann mal veröffentlicht in dem Band „Durch Schnee“, die heißt auch so, „Durch Schnee“, bei mir.
Erzählungen schreibe ich auch weiterhin. Mein vorletztes Buch, 2014 erschienen, war ein Erzählungsband: "Einsamkeit mit rollendem r". Da habe ich ein Konzept gehabt, denn gewisse Überlegungen müssen einem Buch vorausgehen. Ich hatte die Idee, 14 Erzählungen zu schreiben, und zwar sieben und sieben. Sieben, die jeweils einen Personennamen im Titel haben, und sieben, die einen Ortsnamen im Titel haben, und habe mir das so wie ein Diptychon vorgestellt, also so einen zweiteiligen Altar. Und das war ganz hilfreich, ich habe mich dann tatsächlich an dieses, an sich nicht strenge, Konzept gehalten. Es war interessant zu sehen, was es für Folgen hat, wenn man schon im Titel eine Person in den Vordergrund stellt, und was es wiederum zur Folge hat, wenn man einen Ortsnamen als Titel hat. Bei den Personen habe ich die meisten Geschichten wirklich, wie man so sagt, erfunden. Und bei den Ortsnamen gibt es nun doch viele Ortsnamen, die realen Orten entsprechen, wie Graz, Zürich, Nagoya, auch ganz kleine Orte, die fast niemand kennt. Nur einen Ortsnamen habe ich erfunden, das hat überhaupt niemand gemerkt, dass es diesen Ortsnamen gar nicht gibt und dass das dann natürlich doch Folgen hat, ich habe mir dann schon was zusammen gereimt. Bei den existierenden Städten wie Graz oder Zürich bin ich auf reale Schauplätze eingegangen, habe aber anderes verfremdet. Und natürlich kommen auch in diesen Städte-Erzählungen Menschen vor. Weil die Stadt ist ja nicht an sich eine Figur. Man kann sie zu einem Protagonisten machen, aber da leben ja Menschen, ohne die der Text nicht auskommt. Dennoch unterscheiden sich die Städte-Erzählungen von den anderen, und das wollte ich eben, dass die 14 Erzählungen nicht alle nach dem gleichen Muster geschrieben sind, sondern eine Variation reinkommt. Zugleich ist die Titelgebung streng: immer ein Name. Das gefällt mir, eine gewisse Strenge.
Nur der Titel ist etwas merkwürdig und ausgefallen: „Einsamkeit mit rollendem „r“ Da sieht man schon zwei Themen, die in dem Buch selbstverständlich eine Rolle spielen, das ist die Einsamkeit und das rollende „r“, das steht für Figuren, die aus Ländern kommen, wo man das „r“ rollt. Das sind slawische Länder, das ist Russland, das ist Ungarn, das ist die Türkei. Einige dieser Protagonisten kommen aus diesen Ländern, wo das „r“ gerollt wird. Ich rolle es selber auch. Doch "Einsamkeit" mit dem "rollenden r" zu kombinieren, schafft eine gewisse Verfremdung, weil es im Wort "Einsamkeit" kein "r" gibt. Mit solchen Sachen arbeite ich gern, es soll ja nicht etwas Banales sein. Wobei auch einfache Titel manchmal stimmen können, aber in dem Fall hatte ich diesen etwas ausgefallenen Titel und dann diese sehr strenge Titelei bei den Erzählungen selber. Die Erzählungen folgen dem schon genannten Prinzip: etwas sehr genau festhalten und anderes in der Schwebe lassen. Auch die Beziehungen zwischen den Menschen, die deute ich manchmal nur an, oder ich zeige Momente, wo sich Personen begegnen und wieder auseinander driften. Ich bin nicht daran interessiert, einen Beziehungs- oder Familienroman zu schreiben, wo man in aller Ausführlichkeit darüber schreibt, was da wie funktioniert und nicht funktioniert. Dazu habe ich die Geduld nicht. Eigentlich bin ich im Schreiben ungeduldig, weil ich von der Lyrik komme und die Lyrik hat diese Ausführlichkeit nicht. Also auch in den Beschreibungen, man beschreibt nicht über eine halbe Seite eine Person, eine Landschaft, sondern man hält sich an die wesentlichen Details und führt die zusammen. Und mich interessiert eigentlich, wie ich diese Elemente zusammen führe. Mich interessieren im Wesentlichen die Verbindungen der Elemente und nicht, dass ich mich lange aufhalte darüber, wie die Beziehungen zwischen ihm und ihr sind. Ich versuche das eher zu zeigen, aufgrund von Konstellationen, Begegnungen oder anderen Dingen. Auf diese Verbindungen kommt es mir an.
Ich liebe die Montage. Ich mag es, eine Technik zu verwenden, die mit jähen Schnitten arbeitet. Also dass sich die Leute manchmal fragen: „Moment mal, wie hängt jetzt dieser Satz mit dem vorigen zusammen, was machst du jetzt da für einen Schnitt, oder einen Sprung, oder einen Bildschnitt?“ Das mag ich sehr, das kommt eindeutig von meiner Lyrik, weil ich da auch so arbeite. Und deswegen sind die Leser meiner Erzählungen manchmal etwas strapaziert von dieser Art der Sprunghaftigkeit oder der Lyrizität. Ja, aber man kann ja dann nicht anders. Etwas in mir will dieses Verfahren. Dieses Verfahren habe ich mir nicht lange ausgedacht, sondern es hat sich beim Arbeiten entwickelt. Ich würde mich selber langweilen, wenn ich linear von A nach B und C gehen würde. Aber ich will den Leser auch nicht brüskieren, ich will nicht, dass er nicht mehr folgen kann. Ich will ihm immer wieder überraschende Momente bieten. Die Wahrnehmung bleibt ja dadurch frisch, dass etwas – im Kleinen, das sind ja oft ganz kleine Sachen – verschoben ist, verfremdet, nicht die gewohnte Reihenfolge hat. Nach dem Motto von Joseph Brodsky, dem Nobelpreisträger, er hat es englisch formuliert: „Poetry ist the art of the unpredictable.“ Poesie ist die Kunst des Unvoraussagbaren und auch Unvorhersehbaren. Dass man nicht voraussagen kann, was kommt – da macht der Hase plötzlich so einen jähen Satz in eine andere Richtung –, das mag ich beim Schreiben. Das hält einen sehr wach und die Wahrnehmung bleibt sehr frisch und es gibt dieses Überraschende.
Manchmal weiß ich: „Aha, diesen Satz wirst du streichen, der ist einfach zu banal, den lässt du weg.“ Und dann entstehen manchmal kurze Leerstellen, die dann der Leser mit seiner Fantasie füllen kann. So wie kleine Zwischenglieder, die eben aus einer Pause bestehen. Die Pausen sind ja enorm wichtig, das weiß ich aus der Musik. Ich habe auch mal eine Radiosendung gemacht, die hieß „Es ist eine Frage der Pausen“. Wenn es keine Pausen gibt und nicht diese kleinen Leerstellen, im Französischen nennt man das „les blancs“, also die weißen Stellen, dann interessiert mich eigentlich das Schreiben auch nicht. Und auch das Lesen, ich lese auch nicht gerne Bücher, die so unglaublich betulich alles ausformulieren, sondern ich mag diese blancs. Da muss ich eine Autorin erwähnen, die ich in der Beziehung sehr bewundere und die ich auch übersetzt habe: Marguerite Duras. Ich habe von ihr mehrere Bücher übersetzt, auch diesen berühmten „Liebhaber“. Sie kann das sehr, sehr gut. Sie hat zwar keine Lyrik geschrieben, erstaunlicherweise, aber ihre Prosa ist im Grunde die Prosa eines Lyrikers. Sie hat auch Theaterstücke geschrieben. Und da merkt man: Die Figuren reden miteinander, aber da sind immer wieder Abgründe zwischen diesen Sätzen, in die der Leser manchmal auch reinfällt und sich verirrt. Aber es geht dann doch weiter. Ich habe übrigens auch Stücke geschrieben und zwar ganz, ganz kurze Stücke, wo ich genau diese Technik anwende. Wobei es bei mir dann doch absurder oder grotesker ist als bei Duras, ich habe Duras nicht imitiert. Ich sage nur, sie kann das sehr gut und ich finde das hoch interessant, wie sie es macht, ich mache es ein bisschen anders. Und diese Stücke, es sind sieben ganz kurze Stücke gewesen, ich habe sie "Dramolette" genannt. Und ich habe ein großes Theaterstück geschrieben, das aber leider weder veröffentlicht ist, noch aufgeführt. Obwohl es eigentlich eine Auftragsarbeit war des Steirischen Herbst, fehlte dann plötzlich das Geld und es ist leider nie aufgeführt worden, was mich heute noch sehr kränkt und betrübt, denn ich mag das Stück. Es heißt "Paartanz" und ist ein ausgewachsenes, abendfüllendes Stück. In den dialogischen Partien liegt mir sehr an überraschenden Wendungen. Es geht plötzlich ganz anders weiter, als man erwartet. Auf der Bühne wirkt so etwas leicht absurd. In den Erzählungen wirkt es nicht absurd, ich würde es jedenfalls nicht so sehen, sondern es wirkt eher manchmal überraschend und leicht irritierend, verstörend, aber absurd ist dann vielleicht noch mehr. In meinen kurzen Stücken ist es so, dass manchmal sogar gelacht wird deswegen, weil es so eigenartig rum hupft, ja, der Dialog hüpft irgendwie auf eine sehr unvorhersehbare Weise.
Was passiert eigentlich beim Schreiben? Einerseits gibt es Themen, Ideen, die mich irgendwie beschäftigen. Bei Gedichten genügt auch ein ganz kleiner Anlass, es braucht gar nicht viel zu sein. Bei einer Erzählung etwas mehr. Also da sind ein paar Bilder, da sind Konstellationen, da sind, zum Beispiel bei der Lyrik, starke Momente. Das kann ein bestimmtes Licht sein, das in einen Raum fällt, und da ist noch ein Mensch und hat ein Teeglas in der Hand. Das habe ich heute erlebt, in einer großartigen Teppichhandlung im ersten Stock eines vornehmen Hauses hier in der Innenstadt. Es ist ein Perser, der diesen Laden führt, und es war ein ganz besonderes Licht, das den Raum erfüllte. Und er hat mir und meiner Freundin einen Tee offeriert in diesen türkischen Gläsern. Und es war wirklich so ein Tee, wie man ihn im Orient trinkt, also aus dem Samowar, sehr starker Tee mit einer sehr schönen Farbe, Schwarztee, kein Grüntee. Und so, wie wir da saßen und redeten, das war so ein Moment, eine Konstellation, die wird mich einfach beschäftigen. Ob daraus ein Gedicht wird, weiß ich noch nicht, möglich ist es schon. Denn es gab mehrere Ingredienzien für ein Gedicht, die in diesen zehn Minuten enthalten waren. Natürlich haben wir uns unterhalten, und rundherum diese unglaublichen Teppiche. Also mal schauen, da könnte was werden. Manchmal eben ist es ganz wenig. Man kann ja ein Gedicht über eine Teeschale schreiben. Über ein sogenanntes Stillleben. Über einen Moment, in dem gar nichts passiert. Das heißt noch nicht, dass das impressionistisch ist. Wenn man dann sagt impressionistische Lyrik, finde ich das fast ein bisschen abschätzig formuliert, ich sehe es nicht so. Ich rede deshalb auch lieber von Konstellationen. Es ist ein Moment, aber da müssen weitere Elemente dazu kommen, damit sich etwas konstelliert. Es braucht also mehr, in der Regel, als eine Sache. Wenn es die Schale ist, braucht es das Licht dazu und vielleicht noch einen Geruch. Also es sind oft ein, zwei, drei Dinge, die sich konstellieren. Und dann fängt sich etwas in mir zu regen an, und dann versuche ich eine erste Annäherung.
Was dann geschieht – ich rede immer von der Lyrik –, ist, wie neue, spontane Elemente hinzukommen, nämlich Momente, die sich auf das Jetzt des Schreibens beziehen. Das heißt, ich bin am Schreiben und höre zum Beispiel irgendeinen ganz besonderen Vogelpfiff, oder die Heizung macht so ein komisches aquatisches Geräusch, so wie wenn es da fließt in diesen Radiatoren, oder sonst noch irgendetwas, oder ein Blick durchs Fenster und möglicherweise eine Erinnerung an etwas ganz anderes. Und da will plötzlich noch etwas ins Gedicht, was im Grunde mit der Ursprungsidee nichts zu tun hat. Aber wieder führt das oder kann das zu einer Konstellation führen. Das heißt, ich habe schon ein kleines Setting im Kopf und jetzt kommt plötzlich sehr spontan noch etwas dazu. Und das lasse ich dann manchmal auch einfließen, weil sich daraus schon wieder etwas Reibung ergibt. Und für mich ist dieses Moment der Reibung sehr wichtig, also ich möchte es nicht zu glatt haben, auf gar keinen Fall. Es muss Reibung hinein. Reibung kann auch ein Zeitungsbericht sein. Ich habe ein Gedicht – vielleicht lese ich es heute Abend in der Alten Schmiede –, da kommt Marine Le Pen vor, die ich überhaupt nicht mag, und daneben ein großartiger syrischer Archäologe, der in Palmyra die Schätze bis zum letzten Moment geschützt hat, bis der IS ihn ermordete. Also manchmal kann auch irgendetwas Brutales aus dem Alltag oder Gelesenes wie eine Zeitungsnachricht plötzlich in ein Gedicht rein wollen. Es müssen Elemente sein, die sich nicht nur ergänzen, sondern manchmal auch ein bisschen wehtun. Und diese Reibung ist mir immer wichtig, auch in den Erzählungen. Und damit meine ich jetzt nicht Reibung im Sinne von Grobheit, es hat nichts mit Grobheit zu tun, es hat eher mit Widerstand zu tun. Man muss auch etwas Widerstand spüren, weil das Glatte und zu Harmonische mag ich nicht. Ich mag es auch deshalb nicht, weil ich auf der lautlichen Ebene doch gerne ab und zu mit Assonanzen, Alliterationen und Reimen arbeite. Und da entstehen manchmal Wohlklänge. So muss auf der semantischen Ebene Reibung sein, man kann nicht nur das Harmonische wollen. Das wäre ein bisschen riskant. Also lasse ich solche "Zusammenklänge" gelten, aber auf der semantischen Ebene mag ich es dann doch etwas härter und reibungsvoller. Denn man kann natürlich auch Kitsch produzieren mit Wohlklängen und all dem, das ist schon alles eine Frage, wie man es handhabt. Und eben deshalb die Brüche, die Reibung, das ist ja nun auch nicht neu bei mir, das überlegt jeder auf seine Weise. Aber ich mache das ganz bewusst, und es ist mir ein Anliegen, dass aus diesen verschiedenen, zum Teil sehr disparaten Elementen dann ein Gebilde entsteht, ein lyrisches, das aber irgendwie stimmt, ja, das kompakt ist und vor allem durch die klanglichen Elemente gekittet ist. Das muss einfach stimmen bis zur letzten Silbe. Deshalb spreche ich die Sachen immer laut. Also ich muss mir das immer laut aufsagen und ich muss hören, was da passiert, und überprüfe das Klangliche wieder und wieder, und dann drucke ich das Gedicht aus und lasse es liegen. Oft merke ich: hier fehlt eine Silbe. Und schon diese eine Silbe, das muss korrigiert werden. Also es geht wirklich um sehr feine Austarierungen, im klanglichen Sinn, während die Gedichte manchmal aus sehr disparaten Elementen bestehen.
Etwas ist mir auch immer wieder wichtig, das habe ich schon erwähnt, nämlich Konzepte. Das muss man sich nicht zu streng vorstellen, aber ganz ohne Konzept zu schreiben, außer eben in kurzen Gedichten, geht ja in der Regel auch nicht. Aber was heißt das konkret? Also ich kann ein Beispiel nennen, weil das ziemlich schlagend ist. Ich habe einen Essay geschrieben, der heißt „Langsamer!“ und ist bei Droschl 2005 erschienen. Das Thema Langsamkeit – Geschwindigkeit beschäftigt mich, weil wir ja in einer Zeit der permanenten Beschleunigung leben und die Frage ist, wie wir das alle durchhalten. Alles geht schneller, auch durch die neuen Technologien und so weiter. Also ich bin der Meinung, man müsste etwas Gegensteuer geben, gegen diese Beschleunigung, und jeder müsste schauen, wie er Momente der Ruhe und des Innehaltens findet. Das kann man ja nicht gesellschaftlich verordnen, das muss jeder für sich finden und entscheiden. Aber ich kenne so viele Menschen, die wirklich am Stress fast zugrunde gehen, die schon einen Herzinfarkt hatten oder einen Burnout, auch junge Menschen, es ist nicht zu spaßen, also irgendwo sind wir schon an einem Punkt, ich hoffe nicht, des no-return, sondern an einem Punkt, wo man Grenzen ziehen und Gegensteuer geben muss. Kurzum, ich hatte vor, ein Buch zu schreiben über verschiedene Aspekte der Entschleunigung. Lesen zum Beispiel, Lektüre, finde ich nach wie vor eine langsame Angelegenheit. Und ich bin der Meinung, dass auch Liebe und der Liebesakt ihre Zeit brauchen. So wie viele andere Dinge. Man kann auch langsam reisen, indem man zum Beispiel auch mal Fußreisen macht, Wanderungen, und nicht immer nur herum jettet. Also ich hatte da den Kopf voller Ideen und ich wusste trotzdem nicht, wie ich das Buch schreiben soll, ich hatte viele Ideen, aber wusste nicht, wie ich sie ordnen soll. Und ich überlege und überlege und überlege und komme irgendwie nicht auf einen grünen Zweig und dann dachte ich plötzlich: Was steckt denn eigentlich in diesen Buchstaben LANGSAMER? Was wäre, wenn das erste Kapitel etwas mit einem L ist, das zweite mit A, das dritte mit N, wie viel gibt das im Ganzen? – Ja, das ist doch meine Lieblingszahl, L A N G S A M E R, die neun ist eigentlich meine Lieblingszahl und die sieben. Mein Gedichtband "Ein Strich durch alles" enthält 90 Neunzeiler. Neun, wunderbar, ja, und was fallen dir da für Begriffe ein? Und sieh mal an, mir sind sofort Begriffe eingefallen und zwar habe ich dann sogar zwei genommen, also:
Lektüre (Liebe)
Arbeit (Anmut)
Natur (Nichtstun)
Geschwindigkeit (Grenze)
Schrift (Schlaf)
Auszeit (Alter)
Muße (Märchen)
Erlebnis (Entschleunigung)
Reise (Ruhe)
Wenn man die Anfangsbuchstaben fett schreibt, sieht man sehr schön, dass das Inhaltsverzeichnis ein Akrostichon ergibt: LANGSAMER. Dasselbe gilt für die Wörter in Klammern. In dem Moment war die Blockade gelöst und ich konnte dieses kleine Buch, das sind 100 Seiten oder so, in sechs Wochen schreiben. Es war, als hätte sich Sesam geöffnet, die Begriffe passten alle, auch Reise kam vor, Geschwindigkeit kam vor, ganz wichtige Begriffe, die ich drin haben wollte, wurden zu Kapitelüberschriften und ich hatte jeweils zwei Begriffe zur Verfügung, perfekt. Und das hat mich so befreit, dieses kleine Konzept, das ja eigentlich schon im Begriff drinnen ist, man musste das nur irgendwie entdecken, es ist ja alles schon in den Buchstaben drinnen. Vielleicht sieht das nach reiner Spielerei aus, ist es aber nicht. Mir hat es sehr geholfen, mit diesen Begriffen dem Phänomen der Langsamkeit näher zu kommen, es von verschiedenen Seiten einzukreisen. Und am Schluss dachte ich: Ja, ich habe eigentlich alles gesagt, was ich sagen wollte. Auch Gedichte kommen vor, Gedichtinterpretationen. Ja. Zu meinem Erstaunen hat das Büchlein sechs Auflagen erreicht, im letzten Jahr ist es auch ins Japanische übersetzt worden. Und die Japaner haben das großartig gelöst, die haben das Inhaltsverzeichnis auch Deutsch wiedergegeben. Selbst wer nicht versteht, was das bedeutet, sieht auf den ersten Blick den Zusammenhang der Buchstaben. Und sie haben den deutschen Titel beibehalten und in Lautschrift, Katakana, wiedergegeben. Wenn ein Japaner "LANGSAMER" liest, hört er nur einen Klang, und das hat etwas Geheimnisvolles. Ich bin von diesen Lösungen ganz begeistert. Wie das Buch im schnellen Japan wirkt, weiß ich allerdings nicht. Die Japaner ticken ja einerseits sehr, sehr schnell und haben gerade in den Großstädten ein sehr hektisches Leben. Und auf der anderen Seite gibt es auch die Tradition des Zen und des Zen-Buddhismus, mit viel Meditation und Langsamkeit. Es ist ein Spagat zwischen dem hoch technologisierten 21. Jahrhundert, das mir fast schon wie das 22. Jahrhundert vorkommt, und alten schintoistisch-buddhistischen Traditionen mit einer ausgeprägten Naturverbundenheit. Ich bin mal sehr gespannt, wie das Buch dort überhaupt ankommt.
Zum Thema Konzept oder Regel, wobei es nicht um Buchstabenfetischismus geht: Ich habe auch Akronyme geschrieben. Akronyme sind keine Anagramme, die sind wirklich schwer zu schreiben. Das Akronym folgt der Regel: Man hat einen Titel, ein Wort, und in jeder Zeile müssen jeweils die Anfangsbuchstaben der Wörter das Titelwort ergeben. Ich habe einen kleinen Band mit Akronymgedichten veröffentlicht und später einigen Kollegen Widmungsgedichte auf ihren Namen geschrieben. Und dabei mit Verwunderung festgestellt, wie viel in diesen Buchstaben drin steckt. Wenn man die richtigen Begriffe nimmt, kann man zum Beispiel auch eine Person in so einem Gedicht ganz gut darstellen, ihr Wesen oder ihr Verhalten, indem man sich wirklich nur an die Buchstaben hält, die der Name bereit hält.
Dann hab ich auch einen Gedichtband geschrieben, „Ein Strich durch alles“, 90 Neunzeiler. Den Neunzeiler habe ich erfunden, das ist keine besonders strenge Form, kein Kunststück. Die Zeilen können lang und kurz sein und man kann sie auch gliedern in 3 und 3 und 3, oder 4 und 1 und 4, oder am Stück neun. Die ungerade Zahl finde ich immer geeignet, weil wenn man dann doch mal reimt, geht es nicht auf. Also ich mag das Ungerade viel lieber als das Gerade. Eben da, wo etwas nicht ganz aufgeht. Und auch dieser Band hat sich irgendwie dann von alleine geschrieben, als ich mal diese neun Zeilen hatte, oder als kleines Genre verstanden habe. Und so habe ich dann eine Auswahl getroffen von schließlich 90 Neunzeilern, die auch sehr vielfältig sind in ihrer Art, aber eben dieser Struktur der neun Zeilen folgen. Es ist ja nicht so, wie viele Leute meinen, dass gewisse Vorgaben einschränkend oder einengend sind, ich empfinde gewisse Vorgaben umgekehrt als befreiend. Denn da gibt es eine Struktur, diese Struktur kann man aber unterschiedlich füllen. Also ich habe das nie als Korsett empfunden. Nur Anagramme wollte ich nie schreiben. Beim Anagramm muss jeder Buchstabe untergebracht werden, was extrem schwierig ist. Und es gibt so viele Anagrammdichter, die wahnsinnig waren oder es dann geworden sind, wie Unica Zürn, also da hab ich immer gesagt: Das ist eine Hexerei, da lasse ich die Hände von. Aber Akronyme, Neunzeiler, Sonette, das ist was Wunderbares! Ich habe keine Sonette geschrieben, aber bewundere Sonettschreiber, die Form wird wieder praktiziert. Zum Beispiel von Dichtern wie Jan Wagner, die großartige zeitgenössische Sonette schreiben. Es gibt ja nicht nur Shakespeare und Petrarca, sondern es gibt heutige Sonette. Und vielleicht versuche ich es auch. Zu meiner Lesung heute Abend kommt wahrscheinlich Ann Cotten, die auch Sonette geschrieben hat.
Ja. Das alles ist für mich beim Schreiben wichtig: gewisse Vorgaben, Konzepte, Regeln – und demgegenüber das Spontane, Aleatorische, Momentane, das auch in das Gedicht, in den Text will. Dem Spontanen folge ich gern, wenn es dazu führt, dass ein neues Element, auch ein neues Reibungselement, rein kommt.
Mich interessiert eigentlich fast alles im Leben. Natürlich menschliche Beziehungen bis hin zur Politik, die auch von Menschen gemacht ist. Aber natürlich auch die Natur, die unerschöpflich ist. Auch Gegenstände können mich ansprechen, wenn ich den Eindruck habe, sie erzählen mir etwas. Reisen natürlich immer, ich reise sehr viel und Reisen sind inspirierend, weil ich das Glück habe, Orte zu besuchen, die mich in der Regel ansprechen. Von Japan bis Süditalien, oder Russland, oder die Ukraine. Das sind für mich aufgeladene Orte, die ich dann sehr offen aufnehme. Ich bin beim Reisen sehr durchlässig und gehe nicht mit vorgefassten Ansichten und Meinungen, sondern ich lasse das in mich eindringen und warte, bis es sich setzt. Ich schreibe selten während einer Reise, mache höchstens Notizen, und erst nach der Reise merke ich, dass sich da was zusammen ballt und etwas wirklich gestaltet werden will. Es muss ja nicht aus allem etwas werden. Ich bin nicht der Meinung, man müsse alles und jedes verarbeiten und verwerten. Aber dann plötzlich sagt eine Stimme: Das, das beschäftigt dich doch die ganze Zeit, jetzt setz dich mal hin und versuche, es anzugehen.
Stoff ist auch mein eigenes Leben. Aber es hat lange gedauert, bis ich mich entschlossen habe, etwas über meine Kindheit und Jugend und über den Einfluss von Kindheit und Jugend auf mein späteres Leben zu schreiben. Daraus ist das Buch "Mehr Meer" geworden, im Untertitel "Erinnerungspassagen". Das ist mein umfangreichstes Buch, aber natürlich kein Roman, sondern eben Erinnerungspassagen. Über 300 Seiten. Da war wieder die Frage: Wie erzähle ich das? Ich hatte vieles im Kopf, es geht ja wirklich um mich, wenn auch in einem auto-fiktionalen Sinne. Denn ich gebe nicht alles eins zu eins wieder. Da ich kurzatmig bin und gewohnt, in kleinen Einheiten zu arbeiten, war die Lösung, den Stoff in viele kürzere Kapitel zu gliedern. Das habe ich relativ früh gewusst und habe es dann auch ausprobiert und es hat tatsächlich funktioniert. Ich wollte auch, dass die Kapitel möglichst unterschiedlich sind. Also gibt es narrative und poetische Kapitel, es gibt ein kurzes Kapitel, das nur aus einem Gedicht besteht, und eines, das auf einem Dialog beruht, als wäre es ein Dramolett. Es gibt auch essayistische Kapitel, wo ich über Triest und die Schattenseiten dieser Stadt während des Zweiten Weltkriegs schreibe. Insgesamt sind es 69 Kapitel, die in der Abfolge stehen, in der ich sie geschrieben habe. Ich habe nichts umgestellt, nur zwei Kapitel gestrichen. Die Reihenfolge ist nicht streng chronologisch, ich wollte das nicht. Es gibt Kapitel, die etwas vorwegnehmen, und andere, die sich auf frühere Ereignisse beziehen. Oder Kapitel, die dem "Erinnern" und "Vergessen" gewidmet sind, also übergreifenden Themen. – Dieses Buch ist ziemlich singulär in meinem Werk, und wird es vermutlich auch bleiben. Manche Leser wünschen sich eine Fortsetzung, die wird es nicht geben. Ich will nicht da, wo ich aufgehört habe, weiterfahren. Ich will nicht über die Gründung einer Familie erzählen und über meinen Arbeitsalltag, das scheint mir wirklich nicht nötig und nicht interessant genug.
Aber mal sehen. Ich plane ein Buch, das insofern an "Mehr Meer" anschließen könnte, als es autobiografisch sein wird. Ein Buch aus unterschiedlichen Teilen und Genres: aus Interviews, kurzen Essays und Gedichten. Vielleicht wird es die Liebhaber von "Mehr Meer" zufrieden stellen. Viele Leser sind ja Voyeure und möchten eben viel erfahren über den Verfasser und mögen es gar nicht, wenn man ihnen einbläut, das „Ich“ hier, das bin nicht ich, das wollen sie ja gar nicht wahrhaben. Also es gibt viele Voyeure und wenn man sagt, das sind jetzt wirklich Interviews, kurze, dann sagen sie sich: „Ah, endlich, jetzt haben wir Klartext.“ Mal sehen, das ist noch nicht so ganz spruchreif, aber ich denke, das wird das nächste Buch werden. Ich hatte mit "Mehr Meer", das 2009 erschienen ist, noch sehr lange zu tun, weil es in 13 Sprachen übersetzt wurde und ich mich mit den Übersetzern und Übersetzerinnen sehr viel beschäftigt habe. Ich habe vielen geholfen, weil ich einige der Sprachen kann. Und die haben auch viele Fragen gehabt, also ich habe ganz sicher ein ganzes Jahr nur mit diesen Übersetzungen verbracht, in der Zeit hätte ich schon fast was Neues schreiben können. Aber es war mir wichtig, dass die Übersetzungen gut werden. Tatsächlich sind einige mit Preisen bedacht worden, die ins Russische, ins Französische, ins Japanische, was mich sehr freut, auch für die Übersetzer. Ich bin ja selber Übersetzerin, außerdem kenne ich die Schwierigkeiten meines Textes. Ich wollte die Übersetzer also nicht hängen lassen. Manchmal habe ich sogar die Druckfahnen gelesen. Vor allem aber wollte ich sehen, ob die Rhythmen stimmen, und ob das Akronymgedicht über Triest ein Akronym geblieben ist oder nicht, wie die Übersetzer das gelöst haben. Und was aus dem Titel "Mehr Meer" geworden ist. Der ist ja sehr schwer zu übersetzen.
Jedenfalls begleiten einen Bücher manchmal länger, als einem lieb ist. Da gibt es Lesungen, und wenn dann noch Übersetzungen hinzu kommen und ich mich für deren Qualität einsetze, macht das zusätzlich Arbeit. Aber "Mehr Meer" ist nun mal mein erfolgreichstes Buch gewesen. Andere Bücher wurden höchstens in zwei bis drei Sprachen übersetzt, dieses in dreizehn.
Was mich im Moment natürlich beschäftigt, ist die Politik. Die Weltpolitik, aber sagen wir mal vor allem, was in Europa geschieht, was in Russland geschieht, was in den USA geschieht. Ich kann nicht behaupten, ich sei eine engagierte Schriftstellerin, das bin ich nicht. Ich gehe nicht auf Großdemos, das halte ich nicht aus, ich habe so eine Panik vor Massen. Ich kann also, selbst wenn ich für eine Sache demonstrieren wollte, nicht auf die Straße, ich bringe das nicht fertig. Aber Politik beschäftigt mich sehr, ich lese viel Zeitung und gucke Nachrichten, Podiumsdiskussionen usw. Auch wenn man nicht will, erfährt man viel über das, was läuft. Und es läuft eben leider schlecht, deswegen erwähne ich das jetzt auch. Ich habe sehr viele russische Freunde, ich habe Freunde in der Ukraine, ich habe Freunde in Weißrussland, wo alles ganz, ganz schwierig ist und einige Freunde wirklich Angst haben, dass sie vielleicht festgenommen werden, gerade in Weißrussland. Ungarn muss ich auch erwähnen, wo ich ja sehr viele Freunde habe, die unter Orbáns Politik enorm leiden. Zur Türkei habe ich nicht viele direkte Verbindungen, aber es ist für mich eine solche Enttäuschung, dass Erdogan es jetzt geschafft hat, die Verfassung umzukrempeln. Also es macht einem furchtbar Angst, wenn man liest, wie viele Journalisten und wie viele Professoren und Lehrer und auch andere Menschen einfach mundtot gemacht werden und eingesperrt, in der Türkei, in Russland, in der Ukraine. In der Ukraine ist Krieg, das ist nicht nur einsperren, da ist Krieg im Osten. In Weißrussland wurden in den letzten Wochen nicht nur Regimegegner, sondern auch friedlich protestierende Bürger eingesperrt. Ungarn ist hochproblematisch. Der Brexit ist sozusagen on the way. Und Herr Trump war auch nicht meine Wahl. Das Abdriften in den Nationalismus macht mir Angst. Ganz Osteuropa ist nicht nur nationalistisch, sondern auch fremdenfeindlich und islamophob. Das sind Entwicklungen, die hätte ich mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können.
Ja, und jetzt die Frage eben, was soll man als Schriftsteller tun? Da muss man sich doch irgendwie äußern. Und kann die Literatur überhaupt etwas bewirken? Ich wurde neulich von der Zeitung „Die Welt“, „Die Literarische Welt“, angefragt, mich zu äußern: Also was kann der Schriftsteller tun, wenn die Wirklichkeit verrückter spielt, als die Literatur es überhaupt kann? Die Wirklichkeit übertrifft ja schon geradezu die Literatur. Es passieren Dinge, die muss man gar nicht mehr erfinden, die geschehen.
Ich bewundere Schriftsteller, die auch mal auf die Barrikaden steigen und sich engagieren. Ich tue das manchmal in Zeitungsartikeln oder Essays, da rede ich Klartext. Zum Beispiel kürzlich in der "Neuen Zürcher Zeitung" über Ungarn. In meinem literarischen Schreiben hat Politik kaum einen Platz, ich wüsste nicht, wo und ob ich das überhaupt will. Außer im Kleinen, manchmal. Aber man kann natürlich Politik auch etwas breiter und weiter definieren und sagen: Ich sehe meine Rolle, und die ist wirklich bescheiden, aber ich sehe sie wenigstens darin, auf meine Art auf die Welt zu schauen und nicht Aggressivität, Unzufriedenheit und Hass zu schüren, sondern zu sensibilisieren für das, was ist, genau zu sein und auch mal dem Guten, Schönen und Wahren eine Hommage zu bereiten. Es gibt ja auch sehr viel Schönes, man muss es nur entdecken und zur Sprache bringen. Und dadurch ein Gegengewicht schaffen zum anderen. Übrigens auch durch Langsamkeit und stille Töne. Das Mediengeschrei ist furchtbar schrill und laut und die Medien sind so übermächtig und auch die Informationsflut, wie kann man dagegen halten? Die Literatur kann das nicht überbieten und soll es auch nicht. Literatur ist eher ein langsames Medium, wir können gar nicht sofort reagieren. Wir können nicht heute schon den Flüchtlingsroman schreiben, das sind Probleme, die uns beschäftigen, aber wer sagt, dass wir sofort reagieren müssen? Der Journalismus soll das, der ist schnell, der ist von Natur aus schnell. Aber bei uns Autoren, und ich spreche jetzt im Plural, denke ich, es ist nicht die Aufgabe, schnell zu sein, sondern eben anders zu sein, diesen anderen Blick zu kultivieren. Diesen sensiblen Blick, diesen differenzierten Blick. Die Politik, vor allem die propagandistische Politik ist immer simplizistisch, sie will immer vereinfachen: Das ist gut, das ist schlecht, black and white. Der Schriftsteller tut genau das Umgekehrte, er differenziert, er ist zuständig für die Zwischentöne, für die Nuancen. Und es geht niemals um gut oder schlecht, so einfach ist das Leben nun mal nicht. Es geht um die Komplexität. Und die Komplexität, das ist das, was wir eigentlich zeigen müssen. Die Komplexität in zwischenmenschlichen Beziehungen, die Komplexität des Lebens selbst. Und natürlich kann man auch ein bisschen Wege weisen, auf eine diskrete Weise, aber nicht mit dem Zaunpfahl, und nicht, indem man mit dem Messer herumfuchtelt. Ob das etwas nützt, weiß ich nicht, aber ich sehe einzig diese Möglichkeit, auch für mich. Nämlich bei den leisen, differenzierten Tönen zu bleiben und dieses laute Gerede halt eben sein zu lassen. Das tun die Medien und die tun das zur Genüge. Und meine Aufgabe ist eine andere.
Aber es macht mich trotzdem sehr, sehr nachdenklich, dass wir 2017 in einer solchen Situation sind und dass so viel Unzufriedenheit herrscht, so viel Spannung in den Gesellschaften, so eine Polarisierung, manchmal wirklich 50 zu 50, wo ein Teil der Bevölkerung das eine will, der andere das andere. Wie können die miteinander? Und wo ist die Toleranz, und wo ist das Übergreifende? Auch in der Religion – ich interessiere mich für Religion, der Mensch ist ein metaphysisches Tier, er braucht mehr als nur Brot und materielle Dinge. Aber wenn die Religion zur Ideologie verkommt, zur fundamentalistischen Ideologie, verdient sie ihren Namen nicht. Wir sehen das heute überall, nicht nur im Islam. Es gibt auch fundamentalistische Juden, es gibt fundamentalistische Christen. Das ist alles sehr, sehr schlimm, weil es auf der Annahme beruht: Wir haben Recht, ihr habt Unrecht. Das ist genau der falsche Ansatz, weil er ausgrenzt.
Ja, und auf das immer wieder hinzuweisen, auch mal in einem Gedicht, aber jedenfalls auf eine feine, differenzierende Art, mehr kann ich nicht tun. Und ich glaube auch nicht, dass ich je in der Lage sein werde, irgendwie mal aufzuschreien. Ich kann auf Podien sehr deutlich werden, wenn es sein muss. Wenn es wirklich rein um Politik geht, bin ich sehr klar. Ich habe auch schon meine Meinung. Aber ich möchte das nicht in die Literatur selbst, in die Kunst, verlagern, diesen Diskurs. Das ist ein anderer Diskurs. Das Gedicht hat eine andere Dringlichkeit. Und es spricht von anderen Dingen. Spricht auch von ganz kleinen Dingen. Und ich bin überzeugt, dass Humanität im Detail beginnt, im Kleinen.
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