Die unendliche Differenz der Dinge
Zur Buchpremiere von Marion Poschmanns Geliehene Landschaften und Mondbetrachtung in mondloser Nacht
Der abendliche Kollwitzplatz mit seinen Klettergerüsten und seinem zerzausten Gestrüpp ist kein Anblick, bei dem sich die Bezeichnung "Landschaft" aufdrängt. Der common sense vermisst hier die naturhaften Elemente, sucht erfolglos nach dem richtigen Blickwinkel, von dem aus die lose zusammengewürfelten Einzelteile den Eindruck erwecken, eine bedeutungsvolle Komposition zu bilden. Irgendwie, und auch das ist mehr ein vages Gefühl als ein handfestes Charakteristikum, fehlt es an Entfernung, an Weite. Man könnte sich freilich eines Kunstgriffs bedienen: Im 18. Jahrhundert war es Mode, die Umgebung in einem eingefärbten, leicht konvex geformten Spiegel zu betrachten, sodass die Felsen, Wiesen, Wälder darin aussahen wie eines der Landschaftsgemälde von Claude Lorrain. In ihnen war eine neue Art aufgekommen, das Gegebene wahrzunehmen, die aus den einzelnen Elementen ihrer natürlichen Umgebung ein Gesamtes machte, das gewissen ästhetischen Ansprüchen genügte. Hier, im abendlichen Prenzlauer Berg, könnte man das Gleiche tun. Man könnte versuchen, den Trick zu imitieren, und ein Claude-Glas auf den laternenbeschienenen Kollwitzplatz richten, in der Hoffnung, dass Büsche, Kinderschaukeln und Parkbänke sich von selbst zu einer harmonischen, malerischen Einheit formieren.
Im alltäglichen Leben klingt so etwas wie Unfug. In der Literatur dagegen geht es genau um solche, man möchte sagen: Taschenspielertricks, die es ermöglichen, sichtbar zu machen, was dem bloßen Auge verborgen bleibt. Zumindest sieht das Marion Poschmann so, die diesen Gedanken noch einen Schritt weiter führt, wenn sie daran erinnert, dass "das Bild nicht auf dem Papier, sondern erst im Geist des Lesenden entsteht."
Marion Poschmann, Foto: Heike Steinweg / Suhrkamp Verlag Am Mittwoch stellte Poschmann, deren Lyrik und Prosa bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, im Georg-Büchner-Buchladen am Kollwitzplatz anlässlich des zweiten "Literatur: Berlin"-Festivals ihr Neuerscheinungs-Doppel Geliehene Landschaften und Mondbetrachtung in mondloser Nacht vor. Während Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe in seiner Anmoderation ein wenig den Eindruck erweckte, rechtfertigen zu müssen, warum beide Titel gleichzeitig auf den Markt kommen, stellt sich diese Frage beim Blick in die Bücher eigentlich gar nicht erst. Beide Bände kreisen mit viel Witz und sprachlicher Raffinesse um das Thema der Wahrnehmung, das Wechselspiel von Natur und Literatur, und stehen dabei in fortwährendem Dialog miteinander.
Geliehene Landschaften, das durch die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit gerückt ist, macht in neun mal neun Gedichten – im Untertitel als "Elegien und Lehrgedichte" ausgewiesen, wobei sich glücklicherweise wenig allzu Wehmütiges oder Belehrendes in ihnen finden lässt – die Lyrik zum Ausgangspunkt der landschaftlichen Erkundungen. Die kaum weniger lyrische Prosa in Mondbetrachtung in mondloser Nacht darf wiederum nicht einfach nur als poetologische "Gebrauchsanweisung" für die Gedichte verstanden werden, sondern ist vielmehr selbst ein collagenhaftes Experimentierfeld für Sprache, in dem man unter anderem einer Liste mit hundert Moosarten begegnet. Auch wenn die einzelnen Reflektionen sich wie Lexikonartikel um fettgedruckte "Stichwörter" formieren, karikiert die Wahl dieser nicht alphabetisch, sondern vielmehr assoziativ angeordneten Begriffe ("Bekleidungssysteme", "Springkraut", "Nebelmaschinen") jede taxonomische Absicht.
Was könnte die Beziehung der beiden Bücher besser beschreiben als das Bild der geliehenen Landschaft? Dieser Begriff bezeichnet, wie der Klappentext verrät, in der ostasiatischen Gartenkunst das Einbinden von außerhalb des Gartens liegenden Elementen wie Berge oder Pagoden in die Gartengestaltung. Elemente aus den Gedichten finden sich in der Mondbetrachtung wieder, wo sie in einen anderen Kontext eingebettet eine neue Deutung erfahren, so dass sich ein neues, weitläufigeres „Sprachpanorama“ öffnet, wie es im ersten Gedicht ihres Bandes heißt.
Stellvertretend für so viele treffende Bilder, die daran erinnern, dass im Konzept der "Landschaft" Natur und Kultur, Betrachter und Betrachtetes aufeinandertreffen, findet sich die Vokabel "Plattenbaulaub" im Zwillingsband als Foto wieder und entpuppt sich hier als ganz konkreter Fassadenschmuck eines DDR-Kindergartens ... der uns wiederum darauf aufmerksam macht, dass in Poschmanns verspielter Typologie des Gartens Kindergärten ebenso wie Vergnügungsparks ihren festen Platz haben ... wenn auch als "Landschaften weit unter / dem Durchschnitt".
Die Autorin holt das Alltägliche, Visuelle immer wieder mit hinein in ihre Gedichte, überspringt also gewissermaßen den Gartenzaun zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit, wenn sie mit leuchtenden Augen und beschwörender Gestik Plakate mit Fotografien von Formsteinen und chinesischen Gelehrtensteinen entrollt oder davon erzählt, dass man in Baumärkten tatsächlich "Scherzfelsen aus Plastik" kaufen kann und "den Tiger umarmen und ihn zum Berg zurücktragen" eine Lektion im Taji ist. Das trägt keineswegs, wie man vermuten könnte, zu einer Profanisierung des Poetischen bei, sondern, im Gegenteil, zu einer Poetisierung des scheinbar Profanen: Im durchlöcherten Stein beginnt man unweigerlich nach den "schlafenden Drachen" aus dem Gedicht zu suchen. Dieses Wechselspiel ist keinesfalls unbedingt auf die physische Präsenz der Autorin angewiesen − etwa dank der Anmerkungen im Anhang von Geliehene Landschaften. Trotzdem entfaltete es sich besonders eindrucksvoll im Rahmen dieser Lesung in kleiner Runde, die Raum für Nachfragen und Gespräche ließ.
Der Fokus auf das Konkrete, Visuelle in den beiden Neuerscheinungen zeigt, dass es der Autorin gar nicht mehr so sehr um das Unsichtbare im engeren Sinne geht, dem sie sich in ihrem letzten Lyrikband Geistersehen (2010) gewidmet hat. Ihr Thema ist vielmehr, Altbekanntes auf eine neue Art wahrnehmen, also etwa die Laubkronen, die Landschaft im Plattenbau, den Garten im "Kindergarten", "die Erinnerung an eine weiße gestreifte / Raubkatze, die jetzt in Tausende Bambusstäbe zerfällt" … Kurz: Es geht um das Auflösen verkrusteter Sicht- und Denkweisen, den Kippmoment, in dem die Landschaft in ihre Einzelteile aufsplittert und andersherum. Poschmann trägt ihre Gedichte mit einer Behutsamkeit vor, als würde sie ein Geheimnis offenbaren, und so ist man angehalten, konzentriert zu lauschen und genau hinzusehen. Dann gerät man ins Staunen über die verborgenen Verknüpfungen, die ihre Komposita und Bilder in den Bedeutungsschichten einzelner Wörter aufdecken, die Verbindungen zwischen Wörtern, die sich durch Lautwiederholung und Rhythmik in ausgetüftelter Präzision scheinbar von selbst aneinander fügen – "Dichter- und Denkerkinder / üben die lindene Geste, die Buchengebärde, den / Eichengriff" und "später die langen Sandalentage, / die Windvogelkonstruktion, Schlittenfahrt". Manchmal lädt eine gewisse Albernheit zum Schmunzeln ein ("die Kekse des Philosophen"), immer jedoch erinnert das unendliche Spiel mit Identität und Differenz daran, dass Poschmanns Sprache sich jener Eindeutigkeit und Konformität verweigert, die etwa die in Stein gemeißelten DDR-Blattfresken verkörpern. Der Blick auf "verfeinerte Äderungen durch Brenngläser" offenbart "winzige Änderungen", die man beim oberflächlichen Sehen beziehungsweise Lesen leicht übersieht. Das Brennglas – oder das Gedicht – ist bei Poschmann nicht ein Werkzeug der Bestimmung, sondern des Unbestimmten, denn, erklärt sie, je genauer man hinsieht, desto unschärfer wird das Bild, da die Menge möglicher Details grenzenlos ist. Literatur zeichnet sich dadurch aus, eben genau diese Unschärfe zuzulassen und durch die Auseinandersetzung mit dem Konkreten eine "Berührung mit der unendlichen Differenz der Dinge" zu ermöglichen. Hier wird auch klar, inwiefern das Gedicht als geliehene Landschaft politische Implikationen hat: Der Text verschließt sich nicht vor der Welt – die Ausflüge in die Gartenlandschaften von Kaliningrad, Coney Island, Kyoto, Matushima, Shanghai oder Helsinki sind keineswegs als Realitätsflucht zu verstehen –, sondern tritt mit ihr in einen Dialog, der genau da ansetzt, wo jede Auseinandersetzung mit der Welt beginnt: in der Sprache.
So bot diese Lesung einen äußerst gelungenen Höhepunkt im Programm des "Literatur: Berlin"-Festivals, das sich in diesem Jahr über Themenschwerpunkte wie Hybridität, Kosmopolitismus und Migrationskultur in besonderem Maße mit Diversität beschäftigt. Unter dem Schlagwort "die neue Weltliteratur und ihre Erzähler in Deutschland" präsentieren der Georg-Büchner-Buchladen und die Kulturbrauerei noch bis zum 19. März einen Querschnitt der deutschsprachigen und internationalen Literatur zwischen Hoch- und Popkultur.
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