Wanderung
Gerd-Peter Eigner ist gestern gestorben. Das erfahre ich aus dem Rechner, dem Benachrichtigungskasten. Nicht hier in meiner Nähe, sondern zehntausend Kilometer entfernt ist sein Leben zu Ende gegangen. Er war Schriftsteller, hinterläßt zwei Töchter, einige Bücher, zwei oder drei gute, immerhin, und es hieß früher, als noch von ihm gesprochen wurde, er sei ein Vitalist, ein... Lebenskünstler? Nein, eher ein Lebenskämpfer, denn ohne Kampf, ohne Kämpfe – in der Mehrzahl – konnte er nicht existieren. No peace, kein Frieden.
Gerd-Peter Eigner (c) Hartwig Riemann
Im Kampf, höre ich ihn aus dem Jenseits sagen, vom anderen Ufer des Teichs, liegt die Kunst. Und noch einmal, Echo: Ohne Kampf keine Kunst. Welche? Die Sterbenskunst, ars moriendi. Mich hat er früher, als ich jung war und er alt, zu den Stillen im Lande gezählt. Was er nicht wußte, erst später ahnte, als wir beide alt waren: Ich lag auf der Lauer, da ist Stille geboten. Die Kunst des Sterbens, ich fürchte, er beherrschte sie schlecht, interpretierte sie – handelnd – als Selbstzerstörungskunst. Nur die Lebenskünstler, die mit der feineren Klinge, kriegen das Ende einigermaßen hin. Zwei Seiten derselben Klinge!
Was ich sagen wollte... Meine heutige Wanderung verstand sich als Totengedenken und will so verstanden werden. Ihm nachgehen, an einem weltöffnenden Frühlingstag, einem der ersten in diesem Jahr. Offenen Auges, mit nach außen gerichtetem Blick, kein Gedanke an Tod, sieht man von jener Schlange ab, die im vorigen Jahr überfahren wurde und nur noch eine Kringelform darstellt, in der sich das ehemalige Rückgrat abzeichnet. Ihm nachgehen, den Tod verdrängen, mich – den Lebenden – erinnern, mich von ihm, dem Toten, erinnern lassen, memento mori, ach wo, denk an den Tag, den deinen, jetzt, carpe diem, laß ihn glücken, wie ich mein Leben glücken ließ, lassen wollte, und dann in Wahrheit verpfuschte, vertat. Wir können uns nur vertun, höre ich die Stimme aus dem Jenseits, das ich mir, weiß Gott warum, als gemütlichen Ort denke.
Was ich sagen will... Der Tod hat keinen Stachel, Freund, sagt die Stimme, und sie gibt Nachricht:
Jetzt ruhe ich endlich in Frieden. Und du, mach weiter, du, gedenke dessen, was ist, laß es mich mit dir sehen und riechen, heute ist doch ein duftender Tag, oder nicht? Und wirklich, Blüten wirbeln durch die Luft
- Naht schon das Ende der Pracht? -
und ein Zitronenfalter flattert dir voran, nicht der erste, sondern derzweite, dritte, vierte in diesem Jahr und wenn du dich hinsetzt ins Moos an der steinernen Rampe des Wäldchens von Kiefern und Kirschbäumen, nähern sich nach geraumer Weile einige Tiere, zum Beispiel der Vogel, der hinter deinem Rücken, über deinem Nacken, dessen Haarflaum sich aufrichtet, in regelmäßigen Abständen sein Trällern losläßt: als Aufforderung zu verschwinden, oder zu bleiben?
Und: kleinwinzige Vögel, die sich in waagrechter Lage, Rücken nach unten, Schnabel nach oben, an ein Zweiglein im Ahornbaum klammern und an den kleinen, neuen, lichtgrünen Blättern picken und dann, aus einer Laune heraus, im Zickzack zu einem anderen Baum fliegen und später, wieder aus einer Laune, zum Ahornbaum zurück, und so weiter, den ganzen lieben Vormittag.
Und: das Plätschern des Springbrunnens und die drängenden Strähnen des Wasserfalls, die interesselosen Schwanzbewegungen der kreuzenden Fische, ein gleichgültiges Zickzack im Teich, mal hierhin mal dorthin. Und sogar eine Libelle, die erste in diesem Jahr, einen Augenblick steht sie in der Luft, ehe sie abschwirrt...
Jetzt? Zwei Zitronenfalter über dem Teichrund, diagonal aufflatternd, kreuzend auf ihre Art. Als hätten sie sich in der Zwischenzeit vermehrt. Und haben sich vermehrt. Es ist die Zeit der Vermehrung, jeder Tod deplaziert.
Ein Fels ragt ins Wasser, ragt aus dem Wasser und duldet, beherbergt, nährt – kann das sein? – nährt das Naß und, über dem Spiegel, gespiegelt, Flechten und Moos, die Farben in ihren Schattierungen, das Licht der Sonne, den eigenen Schatten und den fremden, den Schatten des Farns, der sich – dank Lüftchen – leise bewegt wie zum Ansporn des Felsens, der sich wahrhaftig leise bewegt in einer ganz, ganz anderen Zeit.
Indessen ging alles seinen Gang, ein Habicht zog seine gleichmäßigen Kreise, da tauchte plötzlich eine Krähe über den Waldwipfeln auf und schoß auf den Raubvogel zu, wiewohl viel kleiner als dieser, vertrieb ihn, den Feigling, würdest du sagen, Freund, oder eskortiert den, der sich die Kreise niemals zerstören läßt, sie lieber mitnimmt in ein anderes Revier während ein Trupp Wildschweine sich aufscheuchen ließ von meiner wandernden Wenigkeit und steil bergaufwärts die Flucht ergriff.
Schließlich geht das Land zu Ende, und das Meer beginnt. Das Land hat sich befestigt, aber dem Meer ist das egal. Auch ein Kampf? Koexistenz... Die Wellen fliehen und kehren zurück, so lange, das heißt immer, bis das Hin und Her, wenn das Auge lang genug teilgenommen hat, ein Bild von Glätte entsteht. Aus diesem Spiegel springt im seltenen Augenblick ein silberglänzender Fisch, zuckt einmal und taucht unter. Das sieht man alle heiligen Zeiten einmal, aber ich, an diesem, deinem Sterbetag, zweimal.
Saß dann, meiner Höhenangst trotzend, auf der Mole, etwa zehn Meter über dem Wasser und den Steinquadern, und dachte an deine – seien wir ehrlich! – immer ein wenig aufschneiderischen Geschichten von Turmspringern und Hafenlotsen und fühlte mich, nun ja, mulmig und ein bißchen erhoben, erhaben.
Schließlich die Schönheit, mein eigentliches, übliches Ziel, der Anblick der Frau, zu der ich pilgere, nur um ihn zu genießen, den Anblick. Sie würde dir gefallen, Freund... Oder auch nicht. Es will mir nicht einmal gelingen, zu sagen, worin ihre Schönheit besteht. Du kennst – oder kanntest – doch auch die Grenzen der Wörter, der Sprache, über die man hinausgehen kann? Nein, du tatest so, als ließe sich alles sagen, wenn man nur über genügend Wortkraft verfügt. Laß dir, ins Jenseits, gesagt sein: Dem ist nicht so. Ich saß mit verschränkten Beinen und Armen und betrachtete gebannt den schneeweißen Unterarm, der neben der Trennwand, die den restlichen Körper verdeckte, die Tischplatte von Essensresten säuberte, und das Weiß der gar nicht so zierlichen Fessel über dem Sportschuh, den deutlich hervortretenden Knöchel, das mehrmals ins Bild rückende und wieder daraus verschwindende Bein.
Also, was soll ich dir sagen? Daß die Schönheit nur Phantasie ist. Ich muß sie nicht mehr, wie ich einst glaubte, verwirklichen, das heißt zerstören. Die Phantasie soll bleiben, wo und was sie ist, mit ein paar Wirklichkeitsfragmenten vermischt. Was mich betrifft, ich habe gefunden, was ich verdiene. Zum Nachtisch bestellte ich mir Eis, um noch einmal in den Genuß ihres Anblicks zu kommen, aber dann fiel mein Blick nur auf die teegrüne Kugel im Schälchen mit den abgerundeten Ecken, verweilte beim Erdbraun, das unter dem Hellblau der Keramik stellenweise durchschien, und bei der verhaltenen Harmonie dieser drei Elemente, Formen und Farben. Die Schönheit, die weibliche, verschwand, als ich aufblickte, im Türstock des Gebäudes, das einst zur Erzeugung von Reiswein gedient hatte.
Genau so wie wie die Bäume und Büsche, die Farne und Fische, die Schönheiten im Norden und im Süden wollten wir, Freund, unsere Töchter aufblühen sehen. Aufblühen und heranwachsen, genauso und endlos – wie unbescheiden, wie unrealistisch von uns! Es ist zu spät, und ich weiß, die Moral der Geschichten war nie deine Sache (aber ich sage dir, diese Moral dient dem Leben), ich sage trotzdem, daß wir das Unsere dazu tun müssen, und nicht nur unseren Samen. Es geht nicht um uns, es geht nicht um den eigenen Fall, nicht gegen den eigenen Verfall. Es geht um das, was uns auf unserer Wanderung beschieden gewesen sein wird.
(c) Leopold Federmair
Zu guter Letzt dann der Tempel, Tor zum Jenseits, wo noch etwas von deinem Geruch war, wie ich ihn aus dem Mansardenzimmer über den Dächern der Weltstadt kannte und kenne – eine deiner provisorischen Bleiben, die du mir eine Zeitlang überlassen hattest (sei noch einmal bedankt!). Unweigerlich wird mein Schritt in die Richtung der rautenförmig zugeschnittenen Papierstreifen und des fast blinden Rundspiegels gelenkt, in dem ich den Anflug meines – oder deines? – Schattens zu erkennen glaube. Eine Trommel steht seitlich in der einen Ecke, daneben ein Schlögel, und in der anderen Ecke ein tragbarer Heizkörper, den wir jetzt nicht mehr brauchen, weil die Wärme überall wächst. Erschöpft von der Wanderung, brauche ich ein bißchen Ruhe – keine ewige, nur fünf Minuten. Beim Seitenpavillon lasse ich mich auf dem Bretterboden nieder, und so, auf dem Rücken liegend, tastet mein Blick nach dem dunklen Gebälk des Vordachs, dessen geschnitzte Wellen in den blauen Himmel hineinspringen
Takehara, 14. April 2017
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Kommentare
... immerhin ...
Über die jüngste Neuerscheinung findet sich seit Ende März eine (immerhin eine) kritische Würdigung: http://signaturen-magazin.de/gerd-peter-eigner--mammut.html
Neuen Kommentar schreiben