Adonis in Zürich
„… man kann sich den idealen oder zumindest aussergewöhnlichen Leser nicht auswählen. Es gilt, ähnlich wie beim Übersetzen, dass am Ende jeder seine eigene Lesart erschafft. Wenn man sich dem grossartigsten Text mit kleinen Gedanken, engstirnigen Visionen annähert, dann wird auch der Text eng und klein. Und leider mangelt es unserer Zeit zunehmend an grossen Lesern – in der arabischen Welt wie im Okzident. Die Kultur des Lesens hat sich verflacht, sie ist funktional und oberflächlich geworden. Es dominiert die horizontale Lektüre; was wir jedoch nötig hätten, wäre die vertikale Lektüre, die in die Tiefe geht.“ der 1930 geborene syrisch-libanesische Dichter Adonis, der am vergangenen Wochenende beim Internationalen Festival Mutanabbi in Zürich zu Gast war, in einem Interview in der NZZ.
Erschreckende Fragen stellt er zum „Arabischen Frühling“ in Syrien: „… als gewisse Kräfte im Orient und im Westen erkannten, dass sich ein Wandel abzeichnete, haben sie den «Frühling» gestohlen und – besonders in Syrien – etwas Entsetzliches daraus gemacht. Statt eine Bewegung gegen die Regression zu sein, ist die Revolution nun die Regression selbst. Hätte ein Revolutionär der ersten Stunde, wie wir ihn in Tunesien, auf dem Kairoer Tahrir-Platz oder in Syrien sahen, je einen Menschen in Stücke gehackt und diese an die Eltern des Ermordeten geschickt? Hätte er es vermocht, einer Schwangeren den Bauch aufzuschlitzen und vor ihren Augen das ungeborene Kind herauszureissen, bevor er sie tötete?“
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