Family wie noch nie
Nancy Hünger (Quelle: edition AZUR)
Maren Jäger bespricht aktuell auf literaturkritik.de Nancy Hüngers ‚Familienalbum‘ „Wir sind golden, wir sind aus Blut“ aus der edition AZUR:
„Wie eine Notiz am Ende des Bandes verrät, fanden die Autorin und der Fotograf in einem Abrisshaus eine Kiste mit Fotos, die die Feuchtigkeit zu Stapeln verklebt hatte. Nancy Hünger und Andreas Berner wurden zu Archäologen dieser fremden Familiengeschichte: „Schicht für Schicht lösten sie die Bilder voneinander ab und verfolgten – jeder für sich – verschiedene Stränge der sich vor ihnen ausbreitenden Erzählung.“ In den behutsam bearbeiteten Fotos scheinen Fragmente, Augenblicke von Familiengeschichte auf, manchmal treten aus den opaken, schlierenhaften Quadraten Figuren hervor, das Profil eines Mannes, mal die Hand eines Kleinkinds, mal ein Hund, eine Strandszenerie, Handtücher, Körbe, Kisten, Requisiten heimischer Wohnräume. Die Fotos sind vielschichtig, beschädigt, gleichsam sedimentierte, verdichtete Zeit, in Schichten übereinandergewachsen – wie auch die Prosa von Nancy Hünger Zeitschichten aufeinanderlegt, ineinanderflicht zu einer Gegenwart, in der Erinnerungen aus unterschiedlichsten Tiefen implodieren: „Wir haben also nichts in der Hand, nur unser beschädigtes Gedächtnis: Etwas war einmal, bevor wir denken konnten, hatte alles bereits begonnen, wir wissen nichts mehr und das ist nicht wahr.“
…
Ist das Prosa? Lyrik? Ein Langgedicht? Wer spricht hier? Und: mit wem? Philologische Orientierungsmarken versagen: Nicht nur der Flattersatz ist – wie schon Heissenbüttel konstatierte – dem Gedicht abhandengekommen, auch das ‚lyrische Ich’ ist längst obsolet geworden. Immer wieder geht hier das vor sich hinsprechende, die Dinge besprechende, Erinnerungen beschwörende Ich in einem Wir auf, wird eins mit seinen Geschwistern, seinem Cousin und seinem Gegenüber: „wen kümmerts, sind wohl wir, weil wir ja identisch, schreibst du, du bist ich und umgekehrt, die Rechnung gefällt mir nicht, ich rechne, eins und eins ist eins“.“
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