Andere Narrative
„Auf der Sprache der Zärtlichkeit lastet eine schwere Hypothek. Ihre Stärke und Lebendigkeit wurde zu Sentimentalität verwässert. Zärtlichkeit läuft heute Gefahr, mit Verweichlichung der Seele verwechselt zu werden. Roland Barthes nennt sie sogar den obszönen Aspekt der Liebe: «Historische Umkehrung: nicht mehr das Sexuelle ist unschicklich, sondern das Empfindsame».
Etwas muss dem Wort Zärtlichkeit zugestoßen sein, dass seine ursprünglich starke Bedeutung ins Pathetische und Peinliche abgleiten konnte. Das geht so weit, dass wir sogar gewisse Hemmungen haben, das Wort auszusprechen und zu schreiben. Das Unbehagen speist sich dabei aus vielen Zeichen – insbesondere den weichgezeichneten Reklamebildern, denen jegliche Lebendigkeit fehlt, und der Rhetorik der Werbung mit ihrer abstoßenden Süßlichkeit. Wo ernsthaft über das Leben nachgedacht werden soll, versteckt sich das Wort hinter einem resignierten Lächeln.“
Isabella Guanzini
Wolfgang Hellmich bespricht in der NZZ die Philosophie der Zärtlichkeit von Isabella Guanzini:
„Der Hebel ist die Sprache. Wir müssten, meint Guanzini, eine neue Sprache gewinnen, eine Sprache untergegangener Gefühle, um eine «neue Erzählung» vermitteln zu können. Heute seien allein «Gewinnertypen, Erfolgsmenschen und Karrierefrauen» gefragt. Kinder würden von klein auf dazu erzogen, «sich Geltung zu verschaffen». Der «Cosmo-Kapitalismus» habe die Welt ruiniert. Das Denken der Autorin trägt tendenziell antimoderne Züge. Guanzini empfindet Unbehagen in «von Stimmen, Nachrichten und Ereignissen vollgestopften Metropolen». Sie beruft sich auf den Grossstadt-Essay von Georg Simmel. Aber ist ein Leben in Zärtlichkeit nur in kleineren Städten möglich?“
Isabella Guanzini: Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht. Aus dem Italienischen übersetzt von Grit Fröhlich und Ruth Karzel. Verlag C. H. Beck, München 2019.
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