Brief aus Berlin [27]
Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr an wechselnden Orten in Berlin stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Hin und wieder melden sich auch alte Weggefährten der beiden zu Wort, wie ein Fräulein Ohm aus dem nördlichsten Brandenburg oder der eigenartige Thomas Reger aus Chemnitz.
Was bleibt mir übrig
Nun ja, Madame Schoscha,
ich komme nicht umhin zuzugeben, dass ich Ihren lange erwarteten Brief mit einem beklemmenden Gefühl geöffnet habe. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Jede konkrete Nachricht ist unterm Strich besser fürs Gemüt als in dauernder Ungewissheit zu leben. Und so stellte sich dann unmittelbar nach dem Lesen das Gefühl bei mir ein wie beim Abspann eines tragikomischen Filmes. Auf der Suche nach der passenden DVD zu dieser Stimmung fand ich „Synecdoche, New York“ im Regal wieder. In einer Beerdigungsszene heißt es dort:
„Den Großteil unserer Zeit verbringen wir tot oder noch nicht geboren. Aber während wir leben warten wir vergeblich, wir verschwenden Jahre auf einen Telefonanruf oder einen Brief oder einen Blick von jemandem oder etwas, das alles wieder richtig macht.“
Ich fühlte mich ertappt, dass ich mir insgeheim immer solch eine Rettung durch Sie gewünscht habe. Was für ein Holzweg wenn man an bestimmte Menschen derartige Erwartungen knüpft! Dieser irreführende Mythos von der fehlenden Hälfte, die uns erst ganz macht, ist trotz Gender und Tinder nicht totzukriegen. Ich plädiere dafür, dass jeder junge Mensch zur Volljährigkeit ein Beratungsgespräch geschenkt bekommt, indem erklärt wird, dass man selbst dafür Sorge trägt, sich vollständig zu fühlen. Das müsste doch indirekt aus den Grundrechten abzuleiten sein. Auch meine Funktion als Mentor in der Akademie für nachwachsende Kulturgüter hat sich inzwischen dahin entwickelt, mehr Austauschpartner für die Lebensfragen der Studenten zu sein, als ihre künstlerischen Ergebnisse zu bewerten.
Es freut mich zu hören, dass Sie sich diesmal Hilfe gesucht haben, als die alte Freundin Dunkelheit zu lange bleiben wollte. In dem vorgenannten Film verstrickt sich die von Philip Seymour Hoffman gespielte Hauptfigur in dem Versuch ein umfassendes, wahres Theaterstück über seine menschliche Existenz zu kreieren. Er lässt dafür eine lebensgroße Replik von New York City in einem Lagerhaus nachbauen und spielt sein gesamtes privates Umfeld mit Darstellern und Doppelgängern nach. In der originalgetreuen New York Kulisse steht wiederum ein großes Lagerhaus mit dem Nachbau New Yorks, indem Schauspieler das Mammutstück proben. Wie nicht enden wollende Spiegelungen eines Spiegelbildes verschachtelt sich die Handlung während parallel das Privatleben des Protagonisten auseinanderfällt. Sie ahnen, Madame, warum ich Ihnen den Film empfehle. Endlose Reflexionen und wenig Leben. Dass der Autor und Regisseur Charlie Kaufman bei der Umsetzung dieses Drehbuchs nicht verrückt geworden ist, scheint mir zumindest keine Selbstverständlichkeit.
Being Madame Schoscha. Was gäbe ich für fünf Minuten in Ihrem Kopf. Wir könnten uns so viel Briefpapier sparen.
Sie fragten, ob ich angesichts handfester Krisen noch wüsste, warum wir uns dem Künstlerischen verschrieben haben. Sie wissen sich mit der Frage in guter Gesellschaft. Hölderlin rief schon vor mehr als 200 Jahren in den diskursiver werdenden Raum: „(…) und wozu Dichter in dürftiger Zeit?“
Wenn es darauf eine glasklare Antwort gäbe, wäre der menschliche Kanon vermutlich im gleichen Moment in einem schwarzen Loch verschwunden und wir hörten aus dem weißen Rauschen alle Stimmen. Oder man hüpft eher wie ein schlafloses Kind in ein galaktisches Wurmloch und landet in der Welt der Fragezeichen. Wenn ich mir als Kind zu große Fragen stellte, konnte ich meist nicht einschlafen. Fragen nach dem Tod oder die unendliche Ausdehnung des Universums. Letztendlich beruhigt hat mich dann keinerlei Erklärung, sondern das warme Bett der Eltern. Zeitweilige Verschnaufpausen lieferten mir als Heranwachsender einige Woody Allen- Filme aus der Edding beschrifteten Videosammlung meines Onkels. Wie zum Beispiel in Annie Hall die pointierte Bemerkung der Mutter zu ihrem ewig grübelnden 9jährigen Sohn: „You´re here in Brooklyn! Brooklyn is not expanding!“
Der russische Filmemacher Andrej Tarkowski fand im Laufe seiner schöpferischen Tätigkeit eine radikale Antwort. Er formulierte, das Ziel der Kunst bestehe darin, den Menschen auf seinen Tod vorzubereiten und ihn in seinem tiefsten Inneren betroffen zu machen.
Als literarischer Archäologe und Totengräber macht sich seit einiger Zeit der Publizist Martin A. Völker aus Berlin verdient. Seine Essays zu vergessenen Autorinnen und Autoren, bilden eine echte Fundgrube jenseits des Kanons. Die von ihm im Elsinor Verlag herausgegebenen Novellensammlungen „Krähendämmerung“ von Katarina Botsky und „Im alten Schloß“ von Peter Baum haben es mir besonders angetan. Baum starb als Soldat im Ersten und Botsky als Zivilistin im Zweiten Weltkrieg. Beide versammeln in ihren Geschichten eigenwillige Stimmen im Ringen um die Abgründe des zutiefst verunsicherten Menschen in der Moderne. Wenngleich ich glücklicherweise in Friedenszeiten aufgewachsen bin, erscheint mir das alles nicht von gestern. Ein Buchpaket ist bereits für Sie geschnürt, Madame.
Ein lieber Freund sendete mir neulich aus dem Nichts einen berührend schlichten Lebenssatz von Hanns Dieter Hüsch:
„Die einen spielen Tennis, die anderen Aufklärung, die meisten aber sitzen an der Bettkante und wissen nicht weiter.“
Gönnen Sie sich eine Auszeit vom kreativen Produzieren wenn Sie sich dabei gerade als künstlich und leer empfinden. Und seien Sie bitte aus dem erlebten Ohnmachtsgefühl und der verrutschten Perspektive nicht ungerecht zu sich selbst. Jetzt gilt es erst einmal, Ihre Kräfte wieder aufzulesen. Sie stehen mit allem was Sie bisher geschrieben haben für die Vielstimmigkeit der Welt ein. Das ist zwar keine laute politische Geste aber ganz gewiss kein geringer Einsatz Ihrer Talente.
Anna Maria, mein fünfjähriges Patenkind, verblüffte mich neulich mit der Aussage, man könnte ein zweites Leben bekommen, aber nur wenn man nicht lüge. So früh geht es also los mit den Versuchen, der Endlichkeit ein Schnippchen zu schlagen. Und es wird beim Ausbau der Synapsen vermutlich nicht nachlassen. Nur besser getarnt oder als guter Nährboden für Fiktionen.
Ihr Freund Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie eine Illustration der Berliner Künstlerin Larisa Lauber. Sie hat sich wieder bereit erklärt, meinen Brief um eine wunderbare Dimension zu erweitern.
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