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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

In den Himmel fallen

Noch ein Berlin-Roman? Ja, bitte!
Hamburg

Wie eine Sonne sehe die Kugel des Fernsehturms aus, findet der namenlose Ich-Erzähler in Boris Pofallas Debütroman „Low“. Er selbst, und alle, die ihm begegnen, drehen sich um dieses imaginäre Zentrum Berlins, auf ihren separaten Umlaufbahnen, die sich nur selten überschneiden. Flüchtige Begegnungen finden statt im Sage Club, im Golden Gate, auf Privatparties, bei denen in wahlloser Folge Haschisch, Speed und MDMA konsumiert werden, oder auf obskuren Performances, bei denen „jemand durch ein Fenster springen und dabei ein Gedicht aufsagen oder eine Fensterscheibe aufessen und dann ein Gedicht aufsagen soll“. Alles ist unglaublich edgy und selbstzerstörerisch und letztendlich auch wieder ziemlich egal. Denn selbst wenn mal etwas eine wirklich gute Story hergibt, sind alle Beteiligten doch viel zu breit, um sich hinterher noch daran zu erinnern. Ein Umstand, der nun auch dem Ich-Erzähler zum Verhängnis wird. Sein Mitbewohner und bester Freund ist seit einer Woche spurlos verschwunden. Auf der Suche nach Moritz irrt Pofallas Hauptfigur nun durch Berlin, befragt gemeinsame Freunde und Bekannte. Erfolglos, denn überall bekommt er eine Variation der Antwort „Ernsthaft, wer von uns weiß schon, wo er vor ‘ner Woche mit wem was gemacht hat“ zu hören.

Je länger Moritz‘ Verschwinden zurückliegt, desto mehr verschwimmen die Ereignisse. Und noch etwas muss der Ich-Erzähler erkennen: Wie leicht ersetzbar ein Mensch ist in einer Szene, in der es vor allem darum geht, jemand anders zu werden. Wenn einer rausfliegt aus dem Kreislauf permanenter Neuerfindung, muss halt ein neuer DJ, ein neuer Dealer, eine neue Affäre, ein neuer Mitbewohner her. Und das geht meistens ziemlich schnell. Einzig für den Ich-Erzähler schließt sich die Lücke nicht so umstandslos. Etwas in ihm ist gekippt. Selbst wenn ausnahmsweise keine Drogen im Spiel sind, glaubt er zu fallen, wenn er nach oben schaut, direkt in die blaue Leere des Himmels hinein. Mit Moritz ist ihm der Halt im Leben abhanden gekommen.

Wobei leider nicht ganz klar wird, was genau an Moritz eigentlich so charismatisch war. Warum es ihm gelang, den Ich-Erzähler derart in seinen Bann zu schlagen, dass er ihm auch nach seinem Verschwinden noch wie gezogen folgt. Der Prolog über das schnelle Ausbrennen, nach dem Moritz sich offenbar gesehnt hat, klingt eher nach pubertären Rockstar-Allüren als nach den Worten eines verkannten Genies. Klischeehaft-pathetisch wirkt auch Moritz‘ Begeisterung für Freaks und Außenseiter jeglicher Couleur, für pseudo-rebellische Rundumschläge à la Aleister Crowleys „The Book of Lies“ oder Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“. Aus dieser ungerichteten Anti-Haltung will sich kein klares Bild des Menschen zusammensetzen, der hier verloren ging. Wesentlich spannender ist da schon das angedeutet homoerotische Verhältnis zwischen Moritz und dem Ich-Erzähler, die gefährliche Symbiose der beiden jungen Männer.

Aus der drogenvernebelten Gegenwart derart brutal herausgerissen, läuft der Ich-Erzähler mit verändertem Blick durch Berlin, nimmt die Stadt und seinen Freundeskreis auf einmal wie von außen wahr. Und gerade darin liegt die Stärke des Romans, das gewisse Etwas, das ihn von anderen ach-so-abgefuckten Berlin-Romanen wie Henning Kobers „Unter diesem Einfluss“ (2009) oder Thomas Martinis „Der Clown ohne Ort“ (2013) abhebt.

Nach und nach klinkt sich der Ich-Erzähler aus der Dauer-Berieselung aus, verweigert sich dem richtungslosen Tempo, das kein Innehalten und keine Rückschau erlaubt. Dabei erzählt „Low“, genau wie all die anderen Berlin-Romane, natürlich permanent von Belanglosem und Beliebigem. Wie zum Beispiel der halbherzigen Wiederbelebung einer Ex-Affäre in Form eines Kusses mit kokaintauben Lippen. „Ich bin nicht in Anna verliebt, glaube ich“, konstatiert der Ich-Erzähler und entlarvt zugleich die Taubheit seinem eigenen Innenleben gegenüber. Lieber nicht allzu genau nachdenken, Problemen nicht auf den Grund gehen, Gefühle im Ungefähren belassen – Pofalla versteht es, das Diffuse zu beschreiben, ohne sich auch sprachlich darin zu verlieren. Dazu dient ihm eine schlichte Syntax, die meist lakonisch bleibt, selten poetisch wird, und manchmal auch einfach nur banal daherkommt. In ihr verdichtet sich ein äußerst lebendiges, scharf beobachtetes Bild von Berlin vor rund zehn Jahren. Der Ausverkauf in Prenzlauer Berg hat sich bereits vollzogen; jetzt übernehmen die Engländer Friedrichshain, weil London ihnen zu teuer geworden ist. Subtil verwebt Pofalla die Stadttopographie mit dem ziellosen Mäandern seiner vergangenheitslosen Protagonisten: „Ich bin froh, dass sie die Mauer hier noch nicht abgerissen haben, denn das Ding wirf einen ziemlich breiten Schatten, und in dem gehen wir.“ Geschichte ist etwas, das sich trotz aller Häutungen nicht abstreifen lässt. Manche Fassaden, hinter denen die angesagtesten WG-Parties steigen, sind noch heute bedeckt mit 70 Jahre alten Einschusslöchern.

Ebenso leuchten wunderbar zugespitzte Dialoge aus dem Erzählfluss heraus, wie zum Beispiel folgender Gesprächsfetzen im Krankenhaus, in dem der Ich-Erzähler nach einem Drogenexzess erwacht:

„Welcher Tag ist heute?“, frage ich.

„Ich glaube September.“

Das Wechselspiel zwischen glasklaren, oft unterschwellig ironischen Beobachtungen und einem schwülen Flirren, als würde man auf unbekannten Substanzen in sehr grelles Sonnenlicht blinzeln – siehe die Cover-Fotografie von Ryan McGinley – bildet einen reizvollen Kontrast, der unschwer durch das gesamte Buch trägt. Und noch etwas unterscheidet „Low“ von der Sackgassen-Tristesse anderer Berlin-Romane: Pofalla versucht sich an einer Figurenentwicklung, zumindest einem Hauch von Coming-of-Age, das der totalen Perspektivlosigkeit sonstiger Pop-Literatur entgegensteht. Auch wenn man die großspurig im Klappentext angekündigte „Selbstfindung“ nicht ganz so ernst nehmen darf, zeichnen sich zumindest gegen Ende ein paar Veränderungen ab: Der Ich-Erzähler lernt einen aufstrebenden Künstler kennen, in dem er einen modernen Alchemisten zu erkennen glaubt, nimmt an einem Reinigungsritual teil, bei dem unter anderem ein Michael-Jackson-Album verbrannt wird, und wird, obwohl er vorher noch nie einen Bass in der Hand hielt, Bandmitglied bei den Sympathischen Kommunisten. Realistisch ist das nicht unbedingt, aber irgendwie freut man sich doch über diese kleinen Schubser in eine hoffentlich erfülltere Zukunft.

Moritz bleibt im Rahmen dieses Szenarios natürlich ein Phantom. Ob er tot ist oder irgendwo ein besseres Leben führt – beides scheint lange Zeit gleich wahrscheinlich.

Boris Pofalla
Low
Metrolit
2015 · 222 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-8493-0365-5

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