Kein Dessert
Auf Isabells Frage hin, was genau „dynamische Risse“ seien, erklären ihr die Handwerker, die auf dem Gerüst vor den Fenstern herumturnen: „Sie kommen vom Mauerwerk und sind nicht beruhigbar.“ Isabell ist beeindruckt, aber auch ein wenig unangenehm berührt. Lässt sich diese Metapher doch allzu leicht auf ihr Innenleben übertragen, auf das nervöse Zittern, das sie und ihren Mann Georg seit geraumer Zeit erfasst hat, das ungute Rumoren, das den ersten Teil von Kristine Bilkaus Debütroman „Die Glücklichen“ durchzieht.
Dabei deutet zunächst nichts darauf hin, dass Georg und Isabell mit den Zehen am Abgrund stehen. Zusammen mit ihrem Baby Matti leben sie in einer großzügigen Altbauwohnung, deren Fassade gerade schick gemacht wird. Georg ist Redakteur im Gesellschaftsressort einer Zeitung; Isabell spielt Cello in einem kleinen Musicalorchester. Ihr Alltag ist perfekt aufeinander abgestimmt.
Doch die Risse sind bereits zu erahnen: Das Musical-Ensemble schrumpft; bald sickert durch, dass nicht alle Verträge verlängert werden. Hinzu kommt Isabells unkontrollierbares Zittern, das unaufhaltsam von ihren Gedanken in ihre Hände wandert und ihre Karriere als Musikerin zu beenden droht. Derweil kämpft Georgs Zeitung einen aussichtlosen Kampf gegen das Printmedien-Sterben. Die knappe Belegschaft hat stets vollzählig anwesend zu sein. Nur noch selten darf Georg losziehen, um Reportagen über Aussteiger und Selbstversorger auf dem Land zu machen. Das fünfstöckige Jugendstilgebäude, in dem seine Redaktion sitzt, erinnert ihn zunehmend an ein gealtertes Grandhotel. Tief drinnen spürt er wohl bereits: Auch er selbst ist eigentlich nur noch ein Relikt, dessen Ende absehbar ist.
Der Niedergang der Mittelschicht vollzieht sich bei Bilkau nicht mit großem Trara, sondern anhand subtiler Details und dadurch umso beklemmender. Bis einen selbst beim Lesen ein unkontrollierbares Zittern ergreift und die Augen geschärft sind für die allgegenwärtige Bedrohung. Die ja auch in der Bauplane steckt, die nicht nur schönes milchiges Licht und eine gemütliche Höhlenatmosphäre schafft, sondern letztendlich Verdrängung: Renovierung bedeutet Aufwertung, und Aufwertung bedeutet höhere Mieten. Und die können sich Isabell und Georg vielleicht bald nicht mehr leisten.
Im zweiten Teil hat sich die Abwärtsspirale mit verhaltenem Knirschen in Gang gesetzt: Isabell und Georg sind arbeitslos. Einen Kita-Platz haben sie trotzdem bekommen, sodass Matti nun als einziger einen Alltag außerhalb des Hauses hat. Während sich Isabell und Georg in den heimischen vier Wänden mit stummen Vorwürfen gegenseitig zerfleischen und die unausgesprochenen Demütigungen in sich hineinfressen. Ferienwohnung statt Strandhotel, Billig-Marmelade statt Bio-Aufstrich, beim seltenen Restaurantbesuch lieber doch kein Dessert. All diese kleinen Einschnitte sind nicht existenzbedrohend, doch zusammengenommen verkörpern sie etwas Essentielles: Die Aufgabe des schönen Scheins. „Ein Vormittag auf der Hotelterrasse, den zweiten Obstsalat und den dritten Kaffee vor sich, während das Zimmermädchen die Betten macht, besiegelt das beruhigende Gefühl: alles so, wie es sein soll.“ Diese Sicherheit, die sich auch nach außen hin gut demonstrieren lässt, ist nun dahin.
Anstatt in der Krise näher zusammenzurücken, driftet das Paar auseinander. Ihre Vereinzelung und Entfremdung voneinander macht Bilkau durch die kapitelweise abwechselnden Perspektiven auf eindringliche Weise nachvollziehbar. Eine tückische Technik, denn die Autorin versteht es, einen in die Gedankenwelt ihrer Figuren hineinzuziehen, mal auf die eine, mal auf die andere Seite.
Während Georg sich langsam mit der Vorstellung arrangiert, statt ins Fitnessstudio lieber kostenlos im Park joggen zu gehen, verachtet Isabell seine vorauseilende Anpassung an die veränderten Umstände, in der sie gar schon eine selbsterfüllende Prophezeiung wähnt. Trotzig kauft sie weiterhin getrocknete Wildfeigen, Himbeeressig und Maronenaufstrich. Und schließlich sogar das Plisseekleid, das eine Viertelmonatsmiete schluckt. Für diese Verschwendung wiederum straft Georg sie mit vorwurfsvollem Schweigen. Doch auch er frönt seiner Art des Eskapismus, indem er stundenlang auf Immobilienportalen virtuelle Touren durch Bauernhöfe in Ostseenähe oder Cottages in Irland unternimmt, die er sich nie im Leben wird leisten können. Letztendlich wollen beide ihre Privilegien nicht aufgeben und werfen sich gegenseitig das Scheitern ihrer Lebensentwürfe vor. Das macht die Figuren nicht unbedingt sympathisch, dafür aber zutiefst menschlich.
Natürlich könnte man ihnen Blasiertheit oder Paranoia vorwerfen. Doch geht es letzten Endes nicht darum, ob der Abstieg von A nach B, oder von B nach C erfolgt. Sondern um das Zerbrechen des Selbstwertgefühls. Die Frage: Was bleibt, wenn die Statussymbole verschwinden? Was macht ein erfülltes Leben aus? Wenn die Autorin Isabells krampfhaftes Bewahren-Wollen beschreibt, ihren Rückzug in sich selbst und das Anklammern an ihr Kind, legt sie den Finger in die Wunde der Generation Y. Es offenbart sich hier eine innere Leerstelle, die erst durch den Wegfall eines Berufsalltags und äußerer Erfolgserlebnisse sichtbar wird.
Doch auch die Metaebene verliert Bilkau nicht aus den Augen. „Gentrifizierung“ ist bei ihr nicht bloß ein mit müdem Schulterzucken geseufztes Wort, sondern manifestiert sich ganz konkret in den Zukunftsängsten eines Paares, gespiegelt in den schleichenden Veränderungen ihres Viertels. Da wo früher der alteingesessene Bäcker Graubrot, Bienenstich und Schokoladeneclairs verkaufte, steht jetzt eine „Manufaktur“ für handgemachte Brötchen, jedes garantiert ein Unikat. Und die Floristin verkauft Isabell einen Strauß Wiesenblumen, den sie als Kind „achtlos wieder fallen lassen oder einer Kuh unters Maul gehalten“ hätte, für fünfunddreißig Euro.
Bilkaus Roman ist so aktuell, dass er sich bereits selbst überholt hat. Denn die freien JournalistInnen, die prekären LiteraturwissenschaftlerInnen mit ihren nutzlosen Doktortiteln, die dieses Buch lesen und besprechen, werden innerlich die Köpfe schütteln – den zweiten Obstsalat, den dritten Kaffee, geschweige denn überhaupt einen Hotelurlaub können sie sich schon lange nicht mehr leisten.
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