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Auf der vorletzten Seite von "Kalendarium #1" wird das Projekt beschrieben, dessen ersten Teil man in Händen hält:
365 Gedichte in 12 Teilen bilden das KALENDARIUM, das in loser Folge in den nächsten Jahren erscheinen wird. (...) Die 12 Bände passen dann in einen Schuber, in dem viele Gedichte und ein ganzes Jahr stecken.
Wer diese 12 Bände schreiben soll, steht nicht explizit in der Beschreibung. Ist es ein Editions-Gimmick des Verlags, durch welches dann 12 kurze Gedichtbände verschiedener Verfasser in eine einheitliche Edition gezwängt würden? Oder doch (wie man ohnehin vermutet und hofft) der Auftakt einer umfangreichen Sammlung dieses einen Autors, Adrian Kasnitz? Man sieht sicherheitshalber nochmal im Internet nach: Nein, Irrtum ausgeschlossen, Kasnitz schreibt ein Gedicht für jeden Tag des Jahres, und was man in der Hand hält, ist der "Jänner"-Band.
Dieser erste Band umfasst nun naheliegenderweise 31 Gedichte und ausserdem vier Illustrationen des Autors selbst. Er zieht sich von "01.01. [Beginn]" bis "31.01. [Wintermeer]". In der Natur der Sache liegt, das die Gedichte unterschiedlicher Machart sind, unterschiedlichen Modi des Wahrnehmens und Reflektierens von Welt und Selbst, unterschiedlichen Bauprinzipien gehorchen; einem dieser alten Abreisskalender nicht unähnlich, die am einen Tag einen Sinnspruch, am nächsten eine Karikatur, am übernächsten ein Kochrezept zeigten. Gemeinsam ist den Gedichten, dass sie kurz sind - keines füllt die Seite ganz aus, auf der es steht - und dass ihnen wohl der Ehrgeiz zukommt (so zu lesen, legt einem die Aufmachung und der Projektkontext zumindest nahe), den jeweiligen Tag abzubilden, ihn auf einen lyrischen Punkt zu bringen.
Der Kontext ist hier von Bedeutung. Nicht jedes der Gedichte hätte nachvollziehbarer Weise seinen Ort auch in einem anderen Band - manches, das als Abrundung und Reproduktion dieses oder jenes Tages durchaus Sinn hat, würde anderswo Schulterzucken auslösen: "Was soll das hier zwischen diesen so viel interessanteren Gedichten?" Aber es gibt eben auch solche Tage im Monatslauf, und ihnen werden diese solchen Gedichte denn auch gerecht. Der Monat Jänner erscheint uns so erst richtig vollständig.
Das argumentierbar lustigste Gedicht ist das des 15.01., genannt [Tiersitter]:
In deinem Bett schnappt sogar der Plastik
Hund nach meinen Füßen die wie immer
Zittern wenn ich Weh und Scherze trage
Leg deine Hand in meinen Nacken, scheuch
Deinen Hund derweil trink ich den Tee
Aus einer großen Plastikkanne du sagst
Ich sollte weniger motzen über deine
Pandabettwäsche aber ich mag motzen wenn
Dein Hund nach meinen Füßen schnappt
... wobei wir noch einmal betonen müssen, dass es der Tonarten und Verfahren verschiedene gibt in diesem Band, dass also, was an obigem Beispiel repräsentativ ist, bloß die Länge ist, und die Konzentration auf die Ausrichtung zwischen Ich, Du, Topos/Moment und der Zeit, die eventuell vergeht. Ein weiteres Beispiel - "11.01. [Nagel]":
Leichter Wind, die Asche stiebt auf
du schreibst dich ein, Matrose der Kleinstadt
setzt Fähnchen als Segel, Fähnchen
zur Neueröffnung, house of the burning carsDeine salzigen Lippen, dein abgerissener Nagel
fährt über den polierten Lack, du küsst
die schöne makellose Linie des Kratzers
versöhnst dich, Matrose, mit dem (provo-)
provinzernen Meer
Es war übrigens erst bei der Suche nach dem doch irgendwie für "Kalendarium #1" repräsentativen Gedicht, beim nochmaligen Durchblättern Tage nach der ersten Lektüre, dass mir auffiel, wie häufig diese Kalendergedichte solche dezent-surrealen erotischen Elemente beinhalten.
Was unangenehm auffällt, ist der Satz einiger weniger Gedichte (nämlich jener zum 07.01., 14.01. und 24.01.). Hier wurde offenkundig die Entscheidung getroffen, die Schrift in Vergleich zu den umgebenden Texten zu verkleinern, um die Verse nicht entzweibrechen zu müssen bzw. um zu verhindern, dass das Gedicht die Buchseite ganz und gar füllt. Das Ergebnis stört den Lesefluss aber mehr, als ihn etwa ein Einschub oder eine Lösung mit verschiedenen Zeilenabständen gestört hätte, um bei jenen langen, zu brechenden Zeilen Kontinuität zu signalisieren. Dies mag wie eine Lappalie wirken, doch gerade bei Gedichten, und noch mehr bei sonst so bibliophil aufbereiteten Gedichten wie diesen, "isst das Auge mit".
Wir können "Kalendarium #1" so lesen, als schildere der Band die ersten 31 Tage aus dem Jahr, das ein bestimmter Protagonist erlebt, ein klar gesondertes Ich, welchen/welches wir über diesen und die elf Folgebände immer besser kennenlernen werden, angesichts eines Alltags und angesichts des Du, an welches es sich wendet (bleibt das Du ebenso durchgängig das gleiche, wie das Ich gleich bleibt?). Wir verhalten uns dann ungefähr wie die Fans einer Fernsehserie oder einer Band: versuchen, weit über das unmittelbar Manifeste hinaus, immer noch mehr Information, und zwar am besten Information mit "menschlichem Identifikationspotential", aus den Gebilden zu holen ... Wir können das aber auch bleiben lassen und Kasnitz' Kalenderblattminiaturen auch als solche lesen: Einfache, winterliche kleine Gedichte verschiedener Machart, deren vornehmste Eigenschaft ist, dass sie gar nicht mehr sein wollen.
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