Weglaufen
„Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar“ ist eine Graphic Novel über den Tod einer somalischen Athletin auf der Flucht nach Europa. Autor und Zeichner Reinhard Kleist geht mit einem entsetzlichen und relevanten Stoff in jeder Hinsicht angemessen um.
Das massenhafte Sterben auf dem Mittelmeer, das derzeit stattfindet, ist ein obszöner Vorgang. Es ist unserer sogenannten Kulturnationen nicht würdig, ihn zuzulassen. Dass sie untereinander über Flüchtlingszahlen feilschen, anstatt den offenkundigen Katastrophenfall auch als solchen zu behandeln und mit derselben Verve zur raschen, effizienten und unbürokratischen Hilfe zu schreiten wie beispielsweise im Fall von Flutkatastrophen in Norddeutschland, ist ihre moralische Bankrotterklärung. Der Umstand, dass zumindest abseits der Mittelmeerküsten eine Normalität herrscht, die von alledem nichts wissen will, sagt uns, was es mit dieser Normalität auf sich hat: Sie verdankt sich der notwendigen Sedierung, des Tunnelblicks, den sich zulegen muss, wer halbwegs ungestört seinen Lebensunterhalt verdienen und seine ausgleichenden creature comforts geniessen will; eine Ausweitung des Horizonts auf die realen Grundlagen unseres vergleichsweisen Wohlstands und die Effekte, die diese in anderen Erdteilen zeitigen, würde bedeuten, „so nicht mehr weitermachen zu können“. Zu den Dingen, die in diesem Sinne ausgeklammert werden müssen, gehört Empathie - das grundlegende Bewusstsein, zu derselben Menschheit zu gehören und fundamental denselben Zwängen zu gehorchen wie die Leute, die da jetzt gerade am Ersaufen sind.
Mit all dem ist auch gesagt: Damit es nicht so weitergeht wie bisher, ist mehr Empathie nötig; und solange wir Wohlstandswestler mit Abgrenzungsritualen auf allen Ebenen beschäftigt sind, stellt Empathie sich nicht verlässlicherweise dadurch ein, dass in der Nachbarschaft jemand mit „Asylhintergrund“ (schreckliche Sprache) einzieht oder im Ort ein Flüchtlingsheim entsteht. Was es braucht, sind die realen Geschichten realer Leute, in denen deutlich wird - nein, nicht „deutlich“: in denen uns unabweisbar eingebläut wird, was wir „intellektuell“ schon alle wissen: dass die, die da auf Nussschalen im Nichts versinken, genau dieselbe Art von Leben, Geschichte, Hoffnungen, Träumen usw. haben „wie wir“. Was wir brauchen, sind mehr Narrative zum identifikatorischen Rezipieren, deren Protagonisten jenem ausgeblendeten Teil der Menschheit angehören.
Mit dem Hinweis, dass Reinhard Kleists Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ genau an dieser Stelle und genau auf diese Weise funktioniert, und dass Kleist so ziemlich alles richtig macht, was man in diesem Kontext richtig machen kann, sollte eigentlich für den Zweck der vorliegenden Rezension alles gesagt sein (und das Buch also übermorgen ausverkauft).
Der Band erzählt die Geschichte der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar, die im Jahr 2008 die Ehre hatte, ihr Land als Fahnenträgerin und Läuferin bei den olympischen Spielen zu repräsentieren. Zurück in Mogadischu findet sie sich mit dem Schwinden der Möglichkeiten konfrontiert, noch zu trainieren und ihre sportliche Karriere voranzutreiben. Widerstände kommen von verschiedenen Seiten: Zum einen ist da der materielle Mangel, der ihr Leben einschränkt - seit der Vater erschossen wurde, kann sie nicht mehr in die Schule gehen, sondern muss zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Zum anderen sieht sie sich der Korruption und Misswirtschaft im nationalen Sportverband gegenüber. Dann gibt es noch Anfeindungen von Seiten der selbstbewusst auftretenden Al-Shabaab-Milizen - Todesdrohungen, Einschüchterungsversuche...
Zu den Aspekten an Kleists Arbeit, die besonders zu loben sind, gehört, dass er es hier schafft, den somalischen Alltag unter unklaren Machtverhältnisse nachvollziehbar zu schildern: Sind die Islamisten eine Bande von verhetzten jungen Männern ohne etwas Besseres zu tun, die durch die Strassen streifen, oder repräsentieren sie so etwas wie eine Gegenregierung? Macht das einen Unterschied für den einzelnen Bürger? Wer entscheidet aus welchen Gründen über Teilnahme oder Nichtteilnahme von Athleten an Wettbewerben?
Aus den genannten Gründen versucht die Protagonistin zunächst vergeblich, im Leichtathletik Team des benachbarten Äthiopien unterzukommen, bevor sie sich schließlich, unter weiter zunehmendem Druck, dafür entscheidet, zusammen mit ihrer Tante die Flucht nach Europa zu wagen. Damit beginnt eine einjährige Irrfahrt durch den Sudan und Libyen. Das Ende der Reise ist ein kenterndes Schlauchboot im Meer vor Sizilien.
Die Geschehnisse auf Samia Omars Reise, die den Gutteil des Buches einnehmen, sind keine Fiktion - bis zum Ablegen des Schlauchbootes, auf dem sie umkommen sollte, blieb sie das ganze Jahr über per Facebook in Kontakt mit ihrer Familie, unter anderem der Schwester, die mittlerweile in Helsinki lebt und Reinhard Kleist als Gewährsperson dient. Die meisten der ursprünglichen Facebook-Posts sind inzwischen gelöscht, sodass Kleist in „Der Traum von Olympia“ nicht den Wortlaut jeder einzelnen Meldung wiedergeben konnte - doch was ihr zugestossen ist, und in welcher Reihenfolge, das können wir wissen und nachlesen.
Kleist weiss darzustellen, wie die materiellen Bedingungen das Verhalten der einzelnen Figuren prägen. Unter ähnlichen Verhältnissen, unter dem Druck ähnlicher Armut - das ist der m.M.n. wichtigste Eindruck, den wir von der Geschichte der Samia Omar mitnehmen können - würde Europa für seine Bewohner ganz ähnlich aussehen wie das Horn von Afrika für Samia und ihre Familie.
In Zusammenarbeit mit dem Autor Tobias O. Meissner schuf Kleist die recht bekannte, surreale Comicalben-Reihe „Berlinoir“. Dort wird die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert als Geschichte der Infights einer die Stadt beherrschenden Klasse von Vampiren verhandelt, denen die Menschen als Blutspender und potentielle Widerständler gegenüberstehen - wobei die Klarheit dieser Fronten zunehmend aufbricht. Näher an realen Personen und reicher an Recherche sind Kleist Soloarbeiten als Verfasser und Zeichner: Er verantwortet zahlreiche Graphic Novels mit historischen bzw. sozialhistorischen Themen (z.B. „Cash“ und „Castro“). Mit „Der Traum von Olympia“ hat er sich meines Wissens erstmals eines Stoffs im Jetzt angenommen, worin auch die Aussage verborgen liegt: Dass es von allen erzählbaren Geschichten gerade diese hier - die von der Katastrophe im Mittelmeer - sei, worüber man unser Zeitalter historisch werde definieren müssen.
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