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Kritik

Familienglück

Hamburg

Antonia Baum schreibt über eine ziemlich missratene Familie, in einem fantastischen Stil und gibt dem Ganzen einen herrlichen Titel: „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“

Vor langen Jahren (1995) gab es einen Film, in dem der alternde Jerry Lewis noch einmal eine brillante Rolle hatte: „Funny Bones“ handelte von der harten Arbeit, die es macht, wenn jemand wirklich komisch sein will. Und von der Nähe der Komik zum Entsetzen, von dem das Lachen uns dann endlich befreit.

Romy, Clint und Johnny spielen die Hauptrollen in einem solchen Film, der hier allerdings pure Literatur geblieben ist. Sie sind die Kinder eines einäugigen Arztes und Erzganoven, bei dem nie wirklich klar ist, was er wirklich gerade macht: praktizieren, geklaute Autos zusammenbauen und verticken, ein Wettbüro einrichten oder eine Kneipe führen.

Theodor, also Gottesgeschenk, heißt dieser Vater, dessen Verhältnis zu seinen Kindern zwischen Lieblosigkeit, Vernachlässigung und Großzügigkeit pendelt. Die Mutter der Kinder starb bei der Geburt des Zwillingspaares, Romy und Clint, wie es heißt. Ob das so stimmt, bleibt bis zum Schluss offen und eine Frage, die immer noch zu beantworten ist.

Und das ist auch gut so. Denn es geht in Baums Roman nicht um den Verlust der Mutter und Frau, sondern um das Überleben der drei Kinder in einem Freiraum, der ihnen zufällt, auch wenn sie ihn nicht wirklich gewünscht haben. Sie überleben eben, in der Nachbarschaft zu jenem Mann, der ihr Vater ist. Heraus kommen keine Bilderbuchkinder.

Romy kleidet sich wie ein Junge, weil es praktisch ist, Clint tickt früh aus, Johnny, der Älteste, wird Drogendealer, bis sie ihn doch schnappen und alles ganz gut ausgeht.

Theodor kümmert sich nicht. Er verschwindet immer wieder auf Tage und lässt die drei Kinder allein. Dann kümmern sich andere um sie, Sultan zum Beispiel, den Theodor aus dem Wettbüro kennt, oder Rita, die in der Kneipe arbeitet, in der er trinkt.

Meistens müssen sie sich um sich selbst kümmern. Da ist es dann für Romy, aus deren Sicht die Szenerie geschildert wird, schon eine wirkliche Erleichterung, wenn sich jemand wie Sultan um alle kümmert, sie weckt, Frühstück macht, sie zur Schule schickt, kocht und sie allesamt ermahnt, sich zu benehmen, wie das normale Menschen tun.

Das Leben, das diese Kinder führen, widerspricht der heilen Weltidee, die durch jede Illustrierte und jeden Erziehungsratgeber mäandert. Auch in die Multikulti-Welten passt diese Familie nicht, in der Patchwork nur ein müdes Wort für ein ungemein hartes Leben ist, das hier geführt wird.

Diese Leute sind nicht normal, Theodor nicht, der meistens keine Augenklappe trägt und alle verschreckt, die nicht darauf vorbereitet sind (also alle). Johnny nicht, der die harte Nuss Theodor endlich knacken will und sein Leben lang sich vergeblich daran versucht. Clint nicht, der einfach nur größenwahnsinnig ist, und auch nicht Romy, die früh erwachsen werden muss und so gern Kind ist.

Aber auch Romy und Rita oder Kalli, alle, die in diesem Buch auftauchen, bewegen sich außerhalb einer Skala, die nur halbwegs Normalität signalisiert. Kein Wunder also, dass hier Schläger auftauchen, die die Gestalt von Bergmassiven haben. Kein Wunder auch, dass selbst die Emissäre des Jugendamtes, das immer wieder auf die Familie aufmerksam gemacht wird, alles andere als normal sind. Und keine ihre Drohungen wahrmacht. Die Kinder bleiben bei Theodor.

Für solche Romane gibt es naheliegend einen Genrenamen und zahllose Vorbilder: Der Schelmenroman beginnt im 17. Jahrhundert. Er ist derb und ungehörig und auf der Höhe des gesellschaftlichen Bodensatzes angesiedelt. Seine Figuren sind dumm, bestenfalls schlau, Underdogs, die sich durchschlagen und dafür jedem nach dem Munde reden, wenn es denn sein muss (und es muss immer sein). Die sich gehen lassen und viel Spaß haben, gerade dann, wenn die anderen sich in ihren Regeln und ihrem Anstand verstricken.

Das hat seinen Sinn, unter anderem, weil es ungeheuren Spaß macht, sich um Regeln einen Deut zu kehren, beim Schreiben, nehmen wir mal an, und eben beim Lesen. Aber naheliegend – weils ja nun ein ernsthaftes Genre ist – steckt eben noch mehr dahinter. Schelmenromane sind Erkenntnismittel. Sie machen eine Gesellschaft erst wirklich kenntlich und machen deutlich, in welcher Münze in ihr tatsächlich gezahlt wird. Grimmelshausen wusste das, Thelen wusste das, Grass wusste das – und Baum weiß das auch.

Die Szenerie, in der der Roman angesiedelt ist, zeigt das an: Es ist jenes kleinkriminelle und fast schon mystische Milieu, das jede Gesellschaft unterfüttert und von ihr tunlichst ignoriert wird.

Das ist natürlich ein Trick, will sagen, eine Fiktion, aber das funktioniert. Besser als man glauben mag.

Selbstverständlich aber ist dieser Schelmenroman ganz anders als alle anderen, und das macht ihn so – aktuell. Denn es fehlt diesem Personal und der sozialen Schicht, in der sie agieren, einfach an einem gegenüber, an einem Normalen, an dem es sich reiben kann. Es existiert bestenfalls in sehr sehr vagen Vorstellungen, die Romy durch den Kopf gehen. Aber damit hat es sich. Ansonsten sind Theodor und die Seinen völlig abgenabelt, was dann heißt, dass ihnen ihre Intelligenz nichts nützt.

Dazu gehört naheliegend eine andere Sprache, als sie von den Altvorderen der deutschsprachigen Literatur in Verwendung ist. Derbheit heute heißt eben etwas anderes als Derbheit um 1959.

Auch das Komische muss im heutigen Schelmenroman anders aussehen als noch vor 50 Jahren. In der Sprache Baums findet sich das, in ihrer Inszenierung und in der Erzählung selbst. Mithin: die Lektüre ist äußerst vergnüglich, und das Vergnügen will nicht enden.

Aber es ist eben auch grundiert mit der Katastrophe. Die scheint in einer Binnengeschichte auf, die durch den gesamten Roman geführt wird, der ansonsten in den frühen zehner Jahren der Kindheit Romys spielt. Für dieser Strang jedoch ist sie 25 Jahre alt, und es kommt zu einer Katastrophe, bei der bis zum Schluss nicht klar ist, ob sie nicht final ist. Tragik nun also doch?

Naheliegend nicht, denn dazu scheint Antonia Baum zu klug zu sein und zu gut. Denn zum Schluss scheint wieder alles so zu sein wie am Anfang, nur Jahre später. Und wer hat noch einmal gesagt, dass sich die Figuren eines Romans entwickeln sollen und nicht uns etwas zeigen?

 

 

Antonia Baum
Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren
Hoffmann & Campe
2015 · 400 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-455-40337-4

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