Leute, lest Kunst!
„Ich bin mir schon lange darüber im klaren, wie
Gefährlich Sehnsucht sein kann, sie ist die
Übertriebenste, aber auch die unaufdringlichste
Strategie der Enthaltsamkeit.“[aus: Wenn in der ersten Phase des Verliebens einer stirbt]
Die Sehnsucht bleibt nie haften, erfüllt sich erst dann, wenn sie - immer wieder ansetzend - Dinge, Menschen, Namen an sich zieht. Sie öffnet die Welt an wenigen Stellen ins Glück und trägt doch bereits die Trauer, sich nicht stillen zu können, als Nomade suchen und suchen zu müssen, nach dem, was fehlt und mangelt. Als bewegende Kraft des Sprechens hält die Sehnsucht viele Gedichte des Auswahlbandes Kunst. Gedichte 1984-2014 zusammen, der zum 50. Geburtstag des in Stralsund aufgewachsenen und seit 1987 in Leipzig lebenden Autors und Musikers Thomas Kunst im Dresdner Verlag edition azur erschienen ist und der mich mit einer großen Lust entlassen hat, selbst wieder neugierig in die Welt zu wünschen.
„[D]u weißt, warum ihr Herz wächst, sich nicht irrt / Weil es im Ganzen zu uns rüber will“ [aus: Unsere Hündin sie wird alt, ich weine].
Weiterziehen von Verlag zu Verlag musste bedauerlicherweise auch Thomas Kunst mit seinen Gedichtbänden und Romanen, von Kowalke zum Druckhaus Galrev, von der Connewitzer Verlagsbuchhandlung zu Reclam, von der Frankfurter Verlagsanstalt zur Lyrikedition 2000 zur Edition Rugerup. Umso schöner ist es, dass neben dem gerade bei Jung und Jung veröffentlichten Roman Freie Folge jetzt bei der Dresdner edition azur ein von Thomas Kunst selbst aus den, teils vergriffenen, acht Gedichtbänden zusammengestelltes Best of erschienen ist, das Gedichte aus dreißig Jahren umfasst. Der Großteil der Texte wurde aus den Bänden Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd, Was wäre ich am Fenster ohne Wale, Estemaga und Legende vom Abholen übernommen, die zwischen 1998 und 2011 erschienen sind. Nur wenige Gedichte finden sich aus den frühen Bänden Besorg noch für das Segel die Chaussee, Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr und Estemaga sowie aus dem 2013 ebenfalls in der edition azur erschienenen wundervollen Band Die Arbeiterin auf dem Eis, dessen erste Auflage zwischenzeitlich ausverkauft war. Die Texte sind in vier Kapitel verteilt, wobei sich Autor und Verlag dagegen entschieden haben, sie chronologisch anzuordnen. Stattdessen sind sie in einer atmenden Bewegung gruppiert: Langgedichte und Sonette - die beiden bestimmenden Formen im Schaffen Kunsts – sowie kürzere Gedichte mit ungebundenen Versen wechseln sich ab und erzeugen so eine eindringliche Stimmung von Lebendigkeit. Themen sind das Sich-finden, Miteinander-aus-kommen und Auseinander-gehen in der Liebe, die Wut, Eifersucht, Geborgenheit und Fürsorglichkeit, die darin entsteht, plötzliches Fernsein in der Nähe, Sehnsucht nach Nähe im Getrenntsein, und immer wieder das Meer. Viele Gedichte erwähnen Schiffe, Buchten, Wasser, Nässe, Küsten und Strände.
„Ins Wasser rein, ins Wasser raus, die Schuhe
Verloren auf der Reise ihr Vertrauen
In meine Gegenwart und in mein Glück;Sie waren Fische ohne jede Ruhe
Und wollten nur auf meine Schritte bauen:
Wer so das Meer betritt, will nicht zurück.[aus: Ich werde dich nachher erschießen]“
Orts- und Figurennamen aus aller Welt können in die Gedichte Eingang finden, ohne sie narrativ festzuzurren. Die Sprecher in den Texten zählen oft Bezeichnungen auf, die aus ihrem Referenzzwang in der Welt gelöst sind, stellen sie nebeneinander und führen sie zusammen, allerdings nicht so, dass es beliebig wirkt, sondern mit einer ausschließlichen Dringlichkeit, genau diese Dinge zu meinen. Dadurch übermitteln sie mir eine tröstende Klarheit gegen das manchmal überfordernde Namensgeflecht der Wirklichkeit. „Nenn es, wie du willst. Aber mach es / mit Liebe“ [aus: Nizeser Apathie]. Teils erscheinen Dinge nebeneinander, speziell Bezeichnete und allgemeinere Konkreta, wenige Abstrakta, die sich in der Wirklichkeit nicht beieinander finden bzw. in ihrer Beziehung durch andere Bezeichnungen überlagert sind. Es eröffnet sich so eine Gegenwelt, in der der Sprecher des Gedichts den Dingen ihren Platz anweist. Räume und Figuren werden aufgemacht, aber nur gestreift, nicht auserzählt, können sich ändern und neu justieren. Dadurch entsteht bei mir das Gefühl von befreiender Leichtigkeit, ein Loslassen von der Notwendigkeit der wirklichen Fügungen. Ich komme aus den Gedichten und atme ruhiger, gelöster, bin glücklich.
„DU MUSST MICH DIESE RAUSCHHAFTEN FESTE SCHON ZU ENDE
Feiern lassen, Paticz, wenn du nicht willst, daß es mit uns
Beiden den Berg runtergeht, wenn du das nicht vorhast, was
Du willst, dann stell mir bitte nie mehr Wasser hin
Für Wein, nie mehr Spaziergänge und andere Ausflüge für
Gedichte und Musik, ich paß schon auf uns auf, [...]“
In den Langgedichten lebt die sprechende Stimme ihr Verlangen aus, zu schweifen. Sie holt in einem Bewusstseinsstrom immer wieder neue Gegenstände, Begebenheiten und Personen aus den ihnen zugewiesenen Bereichen der Wirklichkeit, zieht sie in die grundierende Emotion bzw. Stimmung und macht sie im Irritationsfeld des Gedichts in neuartiger Weise in ihrer Zufälligkeit erfahrbar.
„Bist du bereit, Körperchen, ich habe alles da, was wir
Für unsere Liebe brauchen, unbehandelte Zitronenschnitze,
Die Weite Rußlands, die Anfänge deiner und meiner
Aufmerksamkeit, Drambuie, die Kinder in den Ferien, als sie
noch kleiner waren, oder schon größer, als sie noch
Kleiner waren, Schneeschnee, die ahnungslosen Filme
Von der Couch aus, bist du bereit, Körperchen, ich habe
Alles da, was wir für eine ganze Weile brauchen, allein
Für uns, Bénédictine, deutsche und amerikanische
Wolken, gekühlt, sibirische Matrosen, zum Umrühren,
Auf dem Grund, du siehst, ich habe wirklich alles da,“[aus: Vielleicht in Briefen, aber wenigstens in Briefen]
Der Ton ist kräftig und fragil zugleich: klar und bestimmt im Ziel des Wünschens und Sehnens, wütend im Einfordern einer Erfüllung, nachdenklich und traurig im Bewusstsein des dauernden Wandelns, angreifbar im Schweifen von Name zu Name, von Ding zu Ding, in der Unbeständigkeit. Die ersten Verse der Gedichte sind in Großbuchstaben gesetzt, rufen oftmals bereits eine Anrede auf, enden mit einem Versbruch, der den Eingangsvers in die nächste Zeile übernimmt, und ziehen den Leser so unmittelbar in den Text. Die Sprache wirkt manchmal beiläufig, schnoddrig und sprunghaft, ist nicht übermäßig rhythmisch organisiert, schiebt sich vielmehr immer weiter, verliert eine Aussagerichtung, sackt in sich zusammen, nimmt sich wieder auf und fängt neu an. Die Verse der Langgedichte brechen oft an verletzlichen, kleinen Wörtern, Pronomen, Präpositionen und Partikeln: die Stimme öffnet sich an diesen Punkten ganz, zeigt ihr sprechendes Scheitern und ihre Ehrlichkeit, nichts hinter einer wattierten, perfektionistisch designten Oberfläche zu verstecken.
„LONG, LONG BLEU, MUSS ES WIRKLICH EIN
Stückchen Schnee sein, Missis. Ginge dieser
Knopf hier nicht auch. Steig aus, steig endlich
Aus. Das wird gar nichts. Ich will mit dir
Schlafen üben ohne abzusetzen. Es geht nicht.“
In refrainartigen Passagen, die meist den Gedichteingang aufgreifen, erhalten die Langgedichte ihre Zentren, dort kehrt die Stimme wieder zu einem Ausgangspunkt zurück, der das Ansetzen des Sprechens selbst ist und von dem sie erneut aufbricht in die Welt, hin zu einer neuen Liebe, zu neuen Verletzungen, zu neuen Inanspruchnahmen und Absetzungen. Die Texte, obgleich äußerst anspielungsreich, stellen in keiner Weise ihre Kennerschaft oder Artistik zur Schau.
„ICH WILL GEDICHTE, DIE DAS LAND EINENGEN,
Die stur und lichterlos die Sprache nutzen,
Sich vor dem Ende nicht den Mund abputzen
Mit Heimatschwüren in den Satzanfängen.“
Sie zeigen vielmehr völlig offen eine Gefühlswelt in all ihren unvorhersehbaren Übergängen, das heißt sie leben ganz und gar. Sie sind so einfühlsam und sanft, weil sie sich nicht davon abbringen lassen, unbedingt zu wollen, dem Scheitern entgegen trotzend auf eine Vereinigung fixiert bleiben, ihre absolute Erfüllung in der Unerfüllbarkeit der Existenz und ihren Widersprüchen zu suchen.
In den Sonetten sammelt sich diese Wucht der Aussprache, so mein Eindruck, in einem ruhigeren Anfügen der Verse. Hier konzentriert sich die Stimme im angedeuteten Zeilenstil stärker, fasst ganze Szenen in einen einzigen Vers. Aber auch in den Sonetten schweifen die Bilder, setzen mit jeder Zeile neu an, verweigern sich, außerhalb der strengen Form, mit den Versen verkünstelt ein Zentrum zu umfahren. Mit einer an Nicolas Born erinnernden Lakonie registrieren die Sprecher eine beliebig erscheinende Welt, nehmen sie auf und spüren ihrem Einfluss auf die Beziehung zwischen sich und der angeredeten Person nach.
Ich bin wohl oft am Wasser, an der Luft.
Im Badezimmer faulen Seil und Holz.
Natürlich glaubst du längst, ich sei verrückt.Ein Haargummi trägt innen seinen Duft.
Bin selten krank, ich habe meinen Stolz.
Ich weine, weil du denkst, ich komm zurück.[aus: Sekunden vor Regalen, selten Jahre]
Die Zeilen schwemmen sich mit einem klar metrischen, aber an vielen Stellen alltagssprachlich gebrochenen Rhythmus in die unaufdringlichen Reime, mit denen Thomas Kunst ebenso großartig verfährt wie Thomas Brasch. Indem der Sprecher ein Du direkt anredet, den Namen repetiert und es in ein Wir einbezieht, wirken die Gedichte wie Gespräche in einem Näheraum, wie das Aushandeln von Nähe und Freiheit in einer intimen Beziehung. Und wie es vielleicht nur in solchen Momenten möglich ist, überträgt sich mir beim Lesen der Gedichte das Gefühl, dass in dieser Verbindung mit eben diesen Texten alles möglich ist, jede Regung, alle Schwächen, Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten hier ihre Berechtigung haben, eher sogar ihre Akzeptanz finden.
Sich fernzuhalten, dafür sind die Hände
Gedacht habe ich nichts an dieser Küste.
Berührungen sind Trümmer, kein Besitz.Ich habe doch gesagt: ich brauche Strände
Und Zeit, als wenn ich es nicht besser wüßte.
Das hat uns aber alles nichts genützt.[aus: Du wirst doch jetzt nicht etwa traurig werden]
Kritisieren muss ich an den völlig überzeugenden Texten des Bandes einzig, dass mir die Sprecher an wenigen Stellen zu übertrieben männlich geraten sind, zu eitel, zu erobernd-übergriffig, zu untröstlich verloren. Dass viele Gedichte Kunsts eine (vermute ich) männliche Perspektive einnehmen und aus ihr die Liebe zu einer Frau thematisieren, ist für mich auf jeden Fall akzeptabel. Jedoch rücken die Sprecher die Frauenfiguren in manchen Fällen in Rollenmuster der Überhöhung oder Erniedrigung, von denen ich in einem Gegenwartsgedicht erwarte, dass sie, wenn sie erscheinen, gebrochen werden. „Ich starrte auf die satten, verchromten/ Küchenarmaturen und konnte mir ihren Körper / Von innen vorstellen, keine Organe, kaum Schlacke, / Nur besonnenes Gewässer, ihre Brüste, im Nebel / des Pullovers, gaben nicht im Geringsten / Nach [...]“ [aus: Die Geschichte von der Frau in der Schweiz]. Frauenbeschreibungen, die sich aus Aufzählungen von Körperteilen und Bekleidungsstücken zusammensetzen (und damit ein Mittel u.a. des barocken Liebes- und Porträtgedichts aufgreifen) sind, wenn sie mit einem deutlich männlichen Blick kombiniert sind, für mich problematisch. (vgl. auch den Beginn von Naftis Roman, Naftis kleiner Roman). Auch manche Verniedlichungen in den Anreden wie „Schwesterchen“ oder „Pupperl“ ebenso wie einige exotistische Namenswahlen für die Angeredeten muss ich hinterfragen. Für diesen Punkt versuche ich einfach aufmerksam zu sein, vielleicht denke ich in dieser Hinsicht auch zu musterhaft, aber ich finde, dass dafür in zeitgenössischen Gedichten andere Lösungen und Formen gesucht werden sollten. Andererseits kann es auch in Missdeutungen führen, literarische Texte in soziologischen Kategorien wahrzunehmen. Die in den Gedichten entworfenen Liebesgeschichten irritieren trotzdem durch die raschen Übergänge von Zärtlichkeiten in Vorwürfe, von Annähern und Absetzen, von Idealisierung und Entwertung, und erreichen es vielleicht gerade durch diese Aufrichtigkeit, die Intensität menschlicher Beziehungen völlig abzubilden.
Im Nachgesang „Meine DDR war die Ostsee, und die war nie tief“, mit dem der Band schließt, beschreibt Kunst nicht nur seine Anfänge als Dichter und seine Abkehr von Celan und Trakl hin zu Born und Brasch, stichelt er nicht nur gegen den Literaturbetrieb, die Preisvergabe und die seiner Ansicht nach überschätzte deutschsprachige Lyrikszene der letzten Jahrzehnte (Meinungen, die ich überhaupt nicht teilen kann), sondern findet auch ein sehr präzises Geschmacksurteil: „Ein Gedicht ist für mich ein Gedicht, wenn mich die gewöhnlichsten Dinge in ihm auf das Heftigste irritieren. Nüchternes Metapherngeflimmer in beruhigter Normalsprache, die blinkt.“
Thomas Kunsts Gedichte irritieren und funkeln so sehr, dass man auf die Straße rennen und rufen möchte: Leute, lest Kunst! Es stellt sich irre viel von dem ein, was Poesie haben kann: „Sehnsucht und Wut, Melancholie und nördlicher Trotz“ und bei mir zusätzlich: Vertrautheit und Fremdheit, Kühlheit und Zärtlichkeit, Akzeptanz und Widerstand, Verzweiflung, Lebenslust und Glück. Also: eine ganze Lebendigkeit!
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben