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Kritik

Ladies Night und Wartetage

Ulrike Ulrich zeigt in ihren Erzählungen Draussen um diese Zeit viele Facetten des Lebens
Hamburg

Beginnen wir mit Polly. Sie hat es geschafft, sich von einer anfangs erfolglosen Zeichnerin zu einem Star der Comicszene zu entwickeln, indem sie in verschiedenen Hotels Männer abschleppt, um sie später als Sexpartner zu zeichnen. Sie bekommt in der Schweiz eine eigene Ausstellung, sogar ein Film soll anhand ihrer Comics gedreht werden. Soweit so gut. Wäre da nicht der Kellner Matteo, der in sie verliebt war, sie heimlich in freien Zimmern (ohne Männer) schlafen ließ, was ihn den Job kostete. Nun plagt Polly das schlechte Gewissen, dass sie auch ihn, ohne zu fragen, für ihre Bilder benutzt hat. Doch wir erfahren auch die Perspektive von Matteo. Wie in einigen der elf Erzählungen wird die Handlung aus zwei Blickwinkeln beschrieben, so dass die scheinbar offenkundigen Inhalte immer wieder in einem anderen Licht erscheinen. Und während Polly sich fragt, woran sich Matteo denn stören sollte, schließlich habe sie ihn doch als Sympathieträger gezeichnet, findet er ein Bild am allerschlimmsten, auf dem er nicht zu sehen ist, Polly aber von einem Arschloch zusammengeschlagen wird und einfach nur froh ist, dass er sofort gekommen ist.

Die Erzählung Hotel Roosevelt hat mit Polly die ungewöhnlichste Protagonistin, während die anderen Figuren mit eher alltäglicheren Problemen zu kämpfen haben. So spielt die Geschichte Le Refuge in einem Pariser Café, das an einer Metrostation liegt. Dort sind die Tische mit vielen Menschen besetzt und gleichzeitig tummeln sich davor Obdachlose. Und nicht nur für Julie ist das Café tatsächlich eine Zuflucht, weil ihr Freund an seiner unendlichen Dissertation schreibt, die ihm wichtiger als Julie zu sein scheint.

Es ist seltsam einfach nach Hause gehen zu können. Sie könnte das natürlich auch sonst. Es ist ja nicht so, als ob Gérard etwas dagegen hätte. Sie darf bloß nicht mit ihm sprechen. Bis er fertig ist, muss sie ihn in Ruhe lassen.

In dieser Erzählung gelingt es der Autorin mit leichter Hand mehrere Schicksale, Beziehungen, Liebesgeschichten zu verknüpfen, wobei die Welt der Cafébesucher und die der Obdachlosen ineinanderfließen.

Auch in den anderen Erzählungen stehen die Menschen in unterschiedlichsten Beziehungen zueinander. Da gibt es Isabelle, die mit Antonin musizierend durch die Metro zieht. Sie spielt Tamburin, er Akkordeon. Antonin war aus Berlin nach Paris gekommen und scheint russischer Herkunft zu sein. Dies wird allerdings nur angedeutet.

Er spielt das Lied, das sie sich an einem der ersten Abende in der Bar gewünscht hat, außer ihr saß nur ein alter Herr in der Bar, der sich kaum auf dem Hocker halten konnte. Those were the days. Antonin hat gespielt und plötzlich begonnen leise auf Russisch dazu zu singen

Es ist zu vermuten, dass Isabelle wegen Antonin mit ihrer Familie gebrochen hat. Auch das wird nicht ausgeführt, aber Isabell will nie in der Métro Ligne 4 (dies ist der Titel der Erzählung) fahren, weil sie dort leicht auf ihre Mutter treffen kann.

Ihre Mutter hat sich so wenig geändert, dass Isabell dachte, sie wäre es doch nicht. Die Haare noch immer honigblond, das Gesicht dezent geschminkt. Ihre bald sechzig Jahre kann man ihr nicht ansehen, ihre Traurigkeit schon. Eine Tochter verloren. Nicht ihr einziges Kind, aber vielleicht jetzt das Kind, an das sie am häufigsten denkt.

Ulrike Ulrich gelingt es, in einem einzigen Satz eine unausgesprochene Geschichte zu assoziieren. Unausgesprochen bleibt auch das Motiv, weshalb in der Geschichte Stauffacher sich die Ehefrau des Schweizers Georg Mandler nicht meldet, obwohl sie wissen muss, dass ihr Mann sie nach einem Tsunami als vermisst gemeldet hat und sie verzweifelt sucht. Sechzehn Seiten Liebe, Verzweiflung, Hoffnung und Verrat.

Von Hoffnung handeln noch weitere Geschichten. Da wartet zum einen die Endvierzigerin Hanna in einem Tierpark auf den dreißigjährigen Ivo, traut aber ihren eigenen positiven Gefühlen nicht.

Eigentlich denkt sie, war das mutig von ihm, sich zu ihr zu setzten, aber dann ruft sie diesen Gedanken zurück, denn er setzt ein Interesse voraus, das sie sich dann doch wieder nicht vorstellen kann.

Oder der namenslose Arbeitslose, der nachts am Hauptbahnhof heimlich Fahrräder repariert, in der Hoffnung auf eine Schlagzeile in der Zeitung und in deren Folge auf einen Job.
Dann gibt es Menschen, die sich durch ihr Verhalten in aussichtlose Situationen bringen. Wie beispielsweise Sylvie. Aus einer Laune heraus lädt sie einen Bettler ins Café Sperl zum Mittagessen ein, das sie aber bald wieder fluchtartig verlässt. Nora hingegen versagt in der Erzählung Donauinsel völlig bei dem Versuch, Arbeitslosen Bewerbungsschreiben beizubringen, weil sie nicht die nötige Distanz zu ihren Schützlingen hat. Die Ich-Erzählerin in Stadthallenbad will angeblich genau das Gegenteil, nämlich nicht dazugehören, niemanden berühren. Ulrike Ulrich beschreibt zwischen den Zeilen allerdings eine in Wirklichkeit sehr unglückliche Schwimmerin.

In den beiden letzten Erzählungen zeigt die Autorin noch einmal die Breite ihres Könnens. Nightfly’s Club ist mit drei Seiten eine der kürzesten Geschichten. Sie handelt von einer Frau, die alleine in diesen Club geht. Sie liebt die Musik, wollte Sängerin werden, aber noch nie wollte jemand, dass sie singt. An so einem Jazz-Abend spielt sie einsame Frau. Doch sehr viel spielen muss sie dabei nicht, denn – und dies sind für mich die schönsten Sätze in dem Buch:

Manchmal geht sie nur in das Lokal, damit sie wahrgenommen wird. Damit sie nicht verlorengeht.
Und wenn sie so augenscheinlich zuhört, so beschäftigt mit der Musik und dem Ende der jeweiligen Soli, mit dem Lächeln des Saxophonisten und dem Unterdrücken des Mitsingens, dann kommt sie sich sehr vorhanden vor.

Den furiosen Abschluss des Erzählbandes bildet die längste Erzählung. Villa Borghese hat knapp fünfzig Seiten und ist die einzige Geschichte, die zumindest teilweise in Rom spielt. Ihr Untertitel heißt Zwischenbericht und die erste Zeile ist an die sehr geehrten Damen und Herren der Kommission gerichtet. Dabei handelt es sich um einen Brief, in dem eine geförderte Autorin sich bei der Kommission für den Werkbeitrag bedankt und gleichzeitig darauf hinweist, dass die Geldgeber sich mit dem Zwischenbericht begnügen müssen, weil die Stipendiatin sich nicht in der Lage sieht, das literarische Projekt zu beenden. Nun habe ich also den Faden verloren, steht gleich auf der ersten Seite, ein Satz, der als Motto gelten könnte. Was sich anschließt, ist eine Wahnsinnsgeschichte, bei der die Berichterstattende vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt, sprunghaft berichtet und jede Nebensächlichkeit erwähnenswert findet:

Um diese Zeit vor einem Jahr hatte ich tatsächlich eine mehrwöchige Schreibpause, so möchte ich es einmal nennen, und das hing unter anderem damit zusammen, dass mein neuer Mitbewohner, ein Schauspieler, ursprünglich aus St. Gallen, und möglicherweise Ihren Kollegen der Theaterkommission bekannt, begonnen hat, mir Rückmeldungen über meine Aura zu geben, die Küche mit Salbei auszuräuchern…..

Der Satz ist noch lange nicht zu Ende. Aber lesen Sie selbst. Aus all dem Wirrwarr schimmert dann doch eine zusammenhängende, sehr vergnügliche Geschichte durch.

Ulrike Ulrich
Draussen um diese Zeit
luftschacht
2015 · 19,40 Euro
ISBN:
978-3-902844-61-3

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