„Alles an ihr war geheimnisvoll, alles hatte eine Kehrseite, eine parallele Wirklichkeit.“
Heiß ist es, Hochsommer: "Die Stadt glich einer opaken Masse aus fernen Lichtern und disharmonischen Klängen." Lustlos lebt Emilio Renzi in Argentinien vor sich hin, wohnt in der Wohnung eines Freundes, schreibt "Drehbücher, die keiner verfilmte, übersetzte die immer gleichen Kriminalromane, bearbeitete trockene philosophische (oder psychoanalytische!) Werke". Einsam und verloren fühlt er sich. Er wird erst etwas aktiver, als er die Einladung einer US-amerikanischen Eliteuniversität in der Nähe von New York, ein Semester lang als "visiting professor" zu lehren, bekommt, erst als die Professorin Ida Brown ihn anruft: "Wo ich steckte? In einem Monat begännen die Vorlesungen, ich müsse sofort aufbrechen. Alle warteten auf mich".
Wieder wohnt er im Haus eines anderen, eines Philosophieprofessors, der ein Sabbatjahr genommen hatte. Kann oft nicht schlafen, geht nachts lange spazieren, sieht seiner Nachbarin Nina Andropowa, einer emeritierten russischen Slawistikprofessorin, beim Tai Chi zu oder trinkt mit ihr Tee - auch sie ist schlaflos.
Sein Seminar über den argentinischen Autor William Henry Hudson läuft gut: Seine wenigen Studenten, sechs Doktoranden, sind engagiert und interessieren sich aus verschiedenen Blickwinkeln für den Schriftsteller, der auf Englisch schrieb, mit 33 Jahren seine Heimat verließ und 1922 in London starb, als berühmter Autor und Ornithologe. Genau beobachtet der Außenseiter auch die Gemeinschaft auf dem Campus, die kleinen Intrigen und Eifersüchteleien, die oft versteckte Aggressivität.
Dann, eines Abends, legt Ida eine Hand auf seinen Arm und sagt: "Im Herbst bin ich immer heiß." Und geht dann weg. Renzi hat nicht genau verstanden: Vielleicht hat sie ja nicht gesagt, "I'm always hot", sondern "hawk": "Im Fallen bin ich immer ein Falke". Oder "sie meinte fall term, das Semester, das im Herbst begann. Natürlich konnte hot im slang auch speed bedeuten, und im Dialekt von Harlem war fall ein Gefängnisaufenthalt." Das Leben als sensibler Literaturwissenschaftler ist nicht einfach.
Sie meinte dann übrigens tatsächlich "heiß", denn bald unterbricht eine Affäre mit ihr Renzis eintöniges, ruhiges Leben. Sie treffen sich ab und zu in New York, in einem Hotel oder einer kleinen Wohnung. Und dann stirbt Ida bei einem Autounfall, ihre rechte Hand ist verbrannt. Das FBI ermittelt, nimmt auch Renzi in die Reihen der Verdächtigen auf. Er kennt die Verhörmethoden aus Argentinien gut, die Andeutungen, die ihn aus der Reserve locken sollen, der leichte oder stärkere Druck. Oder ist ihr Tod das Werk eines Serienkillers? In den letzten Jahren sind immer wieder Wissenschaftler Opfer eines Briefbombenmörders geworden. Und dann fasst man Thomas Munk.
Hier beginnt jetzt eine andere Geschichte, die der Argentinier Ricardo Piglia in seinem Roman "Munk" erzählt, die Geschichte des Unabombers, der von 1978 bis 1995 sechzehn Briefbomben an Professoren und leitende Angestellte von Fluglinien verschickte: Unabomber bedeutet "university and airline bomber". Wie der Thomas Munk des Romans war auch Theodore Kaczynski Mathematiker, zog sich in die Wildnis zurück und wollte mit seinen Bomben zeigen, dass eine anarchistische "direkte Tat" möglich ist: „Die Zeit des Einzelgängers ist angebrochen, die Zeit der privaten Verschwörung, der einsamen Tat.“
Fast würde der Roman auseinanderfallen, denn Piglia verlässt über viele Seiten seinen eigentlichen Helden und erzählt ausführlich Munks Geschichte. Fast, denn die vielen Subtexte laufen ja doch weiter mit, vor allem die Frage nach Unterdrückung und Widerstand, die alltäglichen Einschüchterungen und subtilen Drohungen, die in den USA mit der Suche nach Terroristen entschuldigt werden. Offener und brutaler in Argentinien, wo Renzi als Student einen Kommilitonen versteckt und seine Pistole aufbewahrt hatte: „Das hieß, zum Umfeld zu gehören. Teil der logistischen Unterstützung zu sein. Sie hatten den FAL gegründet, eine der ersten bewaffneten Gruppen.“
Es geht in diesem postmodernen Kriminalroman, in dem die Tat nie aufgeklärt wird, auch um Texte, fiktionale wie dokumentarische oder politische. Und es geht um die Frage, was sie verbergen, was sie offenbaren, ohne es zu wollen. Es geht um Romane von Conrad oder Joyce oder um Munks Manifest: Sie alle haben verschiedene Ebenen, auf denen man sie analysieren kann, wo ein Teil verständlich wird, wo sie etwas preisgeben.
Und die Liebesgeschichte: Denn natürlich will Renzi jetzt wissen, wer Ida, seine Geliebte, "wirklich" war. Viel erfährt er nicht aus ihrem Privatleben. Aber er findet ein Buch von Joseph Conrad, "Der Geheimagent", mit aufschlussreichen Markierungen über Politik und Anarchismus, die Ida gemacht hat. Diese Markierungen weisen darauf hin, dass sie entweder eine Mitwisserin war, denn sie kannte Munk aus ihrem Studium in Kalifornien, und beim Transport einer Bombe starb. Oder dass sie ihm auf die Spur gekommen war und ermordet wurde. Aber die einzige Erkenntnis, die ihm bleibt, ist: „Alles an ihr war geheimnisvoll, alles hatte eine Kehrseite, eine parallele Wirklichkeit.“
Auch der Detektiv, den Renzi anheuert, deckt eine Fülle von Fakten auf, kann aber nichts wirklich aufklären. Selbst, als der Argentinier Munk im Gefängnis besuchen und befragen kann, wird das meiste nicht viel klarer. Denn natürlich schweigt Munk zu dieser Tat, auch wenn er sonst viel sagt.
Und so bleibt vieles im Geheimnisvollen. Und das macht einen großen Teil des Reizes aus, den dieser melancholische, atmosphärisch oft sehr dichte und intelligente Roman hat. Es gibt viele Fragen in Piglias vielschichtigem, philosophischem und politischem Roman, aber keine Antworten. Viele Hinweise, aber keine Lösungen.
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