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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Der ausgeschlossene Leser

In seinen Essays aus den letzten zehn Jahren verschließt Kurt Drawert weiten Teilen der Leserschaft den Zugang.
Hamburg

Das wirklich anziehende an Essays ist für mich der Versuchscharakter dieser literarischen Form, die Möglichkeit des Scheiterns.

„Drawert liebt das essayistische Schreiben, das leider immer etwas Belehrendes hat und sich nicht einfach liest“, schreibt Simone Trieder in ihrer Rezension zu „Spiegelland“. Und überhaupt beschreibt sie in ihrer Besprechung genau das, was auch ich beim Lesen von Drawerts Essaysammlung empfunden habe. Hier schreibt einer, der eine so dezidierte und festgefahrene Meinung hat, dass er seine Leser häufig verliert.

Mir jedenfalls ergeht es so bei der Lektüre. Weniger bei seinen Überlegungen zu Flaubert, wenn Drawert Orte aufsucht, die in „Madame Bovary“ eine Rolle spielen. Wenn er Gedanken ausführt, die sich aus Zitaten aus Flauberts Briefen, Zitaten aus dem Roman selbst, und dem vergleichenden Blick auf den Ort Ry ergeben, dem Ort, der Ausgangspunkt war für Flaubert und seinen „Roman über nichts“ gewesen ist.

Drawert stellt in diesem Essay nicht zuletzt die ewige Frage, wie viel Persönliches in scheinbar fiktiven Geschichten steckt, warum einer schreibt, was er schreibt, was das mit ihm selbst, seiner eigenen Lebensgeschichte zu tun hat, und legt dabei frei, was bis heute die Bedeutung und den eigentlichen Kern von Flauberts Roman ausmacht: „[...] genaueste Reproduktion einer Totalbeschriftung des Lebens durch die Grammatiken einer Gesellschaft [...], deren Dramatik sich allein in den Bewegungen der Sprache konstituiert [...]“

Der fehlende Zweifel begegnet mir wieder in den zeitkritischen Essays Drawerts, darunter auch immer wieder solche, die die Wiedervereinigung Deutschlands, den Umgang in und mit der DDR, thematisieren. Auch die Überlegungen zum Phänomen der Postmoderne und der Beliebigkeit einer Zeit, in der alles gleichberechtigt zu sein scheint, scheinen mir als Leserin eher die Tür vor der Nase zuzuschlagen, als mich zu neuen Sichtweisen einzuladen.

„Das Internet ist eine Deponie für wertlose Infos“, schreibt Drawert, und ein paar Seiten später: „Die vielbeschworene neue Freiheit, wie sie das Internet angeblich bietet, ist oftmals nur eine Freiheit von Dilettanten, ein Produkt in die Welt zu setzen, das auf konventionellem Weg niemals die selektiven Zirkel der Herstellung überstünde.“ In den neuen Medien sieht Drawert offenbar in erster Linie eine Bedrohung. Statt Freiheit erkennt er Gleichgültigkeit, statt Vielfalt Beliebigkeit. „Wir aber leben in einer Welt von erbarmungsloser Präsenz und Gleichzeitigkeit, wie sie die elektronischen Medien uns eingerichtet haben, und sie bedienen allein das Reale in seiner blinden Kontingenz.“

Allerdings gibt es in Drawerts Essays auch Thesen, die ich im Grunde teile. „Diese Einrichtung der Welt ist zu bedauern“, schreibt Drawert, „aber nicht mehr sinnvoll zu kritisieren, denn es gibt keinen Ausstieg, den man einfach so öffnen und benutzen könnte – es gibt ja nicht einmal ein System der Kontrolle, das über die Systeme und Subsysteme, die irregulär sind und zu fremden destruktiven Ordnungen werden, Auskunft geben kann. Um es klar zu sagen: Ich spreche hier nicht für eine neue Romantik (auch wenn ich mich wie ein Romantiker fühle), und ich spreche nicht von der je unerkennbaren Objektivität und Fremdheit des Repräsentanten, deren Konsequenz nur ein radikaler Subjektivismus sein kann – ich spreche von der aufgeklärten Position, in Modellen der Erkennbarkeit zu denken und im Zentrum dieser Modelle auf das nicht mehr Denkbare zu stoßen (das nämlich gedacht werden kann).“

Trotz der denkbar größten Bereitschaft (ich teile die Meinung generell und ich muss eine Besprechung über dieses Buch schreiben), versperren mir Drawerts komplexe Formulierungen den Zugang. Was mich an den bedauerlicherweise seit Jahrzehnten fortbestehenden Unterschied zwischen englischsprachigen und deutschsprachigen Essays denken lässt, die englischen sind weitaus zugänglicher, ohne deswegen weniger zu sagen zu haben, und das gilt von einer Anne Carson bis zu einem John Jeremiah Sullivan.

Gegen Ende meiner Lektüre markiere ich beinahe jede Stelle, die ich halbwegs verstehen und nachvollziehen kann, als zitierwürdig, damit ich überhaupt etwas über das Buch schreiben kann, außer, dass es mich überfordert hat. Vielleicht weil ich zu dumm bin, oder Drawert zu klug. Vielleicht aber auch, weil ich einfach dicht mache, wenn jemand so selbstsicher die Welt definiert, und jeden Zweifel und damit auch mich als Leserin, ausschließt.

Ich glaube an den Unterschied zwischen der Bewahrung eines unabhängigen Denkens und der (gefühlten) Notwendigkeit, sich abgrenzen zu müssen. Mir scheint gerade diese Abgrenzung führt bei den Essays Drawerts zu jener Leere auf die er selbst ständig aufs Neue als bedauernswertes Gegenwartsphänomen zurückkommt.

Kurt Drawert
Was gewesen sein wird
Essays 2004 bis 2014
30 Abb.
C.H. Beck
2015 · 295 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-406-67488-4

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