Lichtstill auf Autopilot
Das Positivste zuerst: "Lichtstill" von Axel Görlach, der achtundvierzigste Band der Reihe "Lyrik der Gegenwart" in der Edition Art Science, bedient sich freundlicherweise der Methode der (sparsam gesetzten) Fußnote, um entlegene Informationen, derer man zu Verständnis eines Textes bedarf, heranzuschaffen. Das ist für den Leser erheblich besser, als auf die Schnelle raten oder googeln zu sollen, was zum Beispiel ein "Ishak pasa" ist. Warum diese Verfahrensweise sich nicht viel weiterer Beliebtheit bei den Verfassern und Herausgebern von Lyrik erfreut, ist mir seit Jahren schleierhaft.
Was sind es nun für Texte, die solchermaßen vorteilhaft dargeboten werden? - Ich zähle siebenundfünfzig Gedichte, gegliedert in drei große Kapitel - "low key portraits", "engramme" und "bildstörungen". Deute ich diese Titel richtig?: Zuerst simple Darstellungen einfacher, alltäglicher Sachen und/oder Leute, "low key" eben; dann, im Gegenteil dazu, geht es in die Abstraktion - Kräftefelder, "Engramme"; als drittes aber würde thematisiert, wie die ersten beiden Verfahren nicht funzen, wie "Bildstörungen" eintreten bei bestimmten Gegenständen der Abbildung in Kombination mit jenen Verfahren... Deute ich das also richtig, oder überinterpretiere ich? Wohl letzteres.
Der erste Teil versammelt sozusagen typische Natur-, Stadtraum-, Landschaftsgedichte; Anknüpfungen an die deutsche Klassik bzw. den Bildungshorizont, dem diese angehört (so gibt es da beispielsweise ein "blackout * lied des gilgamesch", das aber dann den Duktus just nicht des Gilgamesch-Epos, sondern des biblischen Hoheliedes zitiert...), Storytelling mit den gehobenen poetischen Mitteln der Jetztzeit allenthalben. Die Betitelung dieses Teils mit "low key portraits" scheint andeuten zu wollen, dieses sei sozusagen der "volkstümliche" Zungenschlag, die unsophisticated-einfache Art, zur Sache zu kommen... Wenn es so wäre, wär's charmant gedacht - aus den Gedichten selber ist der Gedanke jedenfalls nicht zu erschließen. Sie sind eben nicht hauptsächlich "Portraits", bzw. das relevante Zeug geschieht im Mittelgrund.
Der zweite Teil begründet mein habituelles Misstrauen dem ganzen Bändchen gegenüber. Handelt es sich bei dem, was Görlach "Engramme" nennt, doch um eine Sammlung von Reisegedichten, nicht nur, aber vor allem über die Türkei, nebst ein bisschen Balkan noch... Und leider herrscht hier der ganz ganz alte Exotismus vor, Orientalismen, Arabesken, colonial gaze...
bolvadin
sie schließt die vierzig augen tauchen
unter atemlose schleier tief im mohn
dreht sich ein derwisch in die rose
mevalans treibt auf weißen flötentönen taumelt eine safrankarawane
wenn in bittren jadesonnen sinken
über seidnen straßen die die herzen
scheiden leuchtet leere aus dem schilfrohr steigt dreißig vögel sieben täler
weit die trommeln treiben und das ziel
ist keins die bögen überschlagen sich
zum tanz der pfeiler um das lichtgewordne wort ana 'l-haqq
Der Orient als Welt der Wunder und der Wundergeschichten, dem Zugriff des europäischen Reisenden dargegeben - Schwundformen dieser Haltung scheinen ein wenig durch, wenn Görlach sich türkischer Landschaftseindrücke und eines klassisch-türkischen Kanons (zumindest muss ich z.B. im oben zitierten Text einen solchen am Werk vermuten) bedient. Wobei alles das auch selbstverständlich wieder in den Gedichten reflektiert wird - aber diese Reflexion bleibt hinter den Möglichkeiten und der Fähigkeit zum Detail zurück, die Görlach in Teil I, den "low key portraits", schon gezeigt hat. Case in point:
blenden weiße minarette. auf dem bosporus ziehen die containerschiffe wie kantige bergrücken aus stahl. hinter üsküdar stehen rote flaggen im wind schaukeln zwei fischkutter hinunter zum marmarameer. zwischen ihnen wolken aus möven die sich auflösen wieder verdichten davondriften. auf den kais schreiende händler das das dunkle hämmern der fährmotoren bunte seidentücher dieselschwaden glänzende früchte der geruch von tang und gebratenem fisch. menschenmassen drängen sich vor der emönu iskelesi sitzt ein mann auf dem boden wiegt den oberkörperim rhytmus seiner klage. er hält eine hand in den undurchdringlichen wald aus beinen die aus dem takt geraten stolpern stoppen einen bogen beschreiben um sein ausgestrecktes nacktes bein bildet sich eine kleine insel der leere. sein unterschenkel ist verkrümmt der fuß ohne zehen ein klumpen fleisch. fliegen sitzen am rand der münzgrossen offenen wunde. manchmal stößt von oben herab in die leere eine hand un ein geldstück fällt in die des mannes. zwischen den kontinenten pendeln die fähren durch die abenddämmerung. schritte schlagen hinter dem einbeinigen zusammen fliegen weiter wie die möwen über den wellen der wasserstrasse schimmern lichtgirlanden auf den decks weisser schiffe.
Um zu sehen, warum ich diesen Text für eine äußerst schwache, ungenügende Selbstreflexion des Aneignungs- und Cavaliersreisen-Gestus in "Engramme" halte, möge sich der geneigte Leser bloß vorstellen, wie dieser selbe Text auf ihn wirken würde, wenn der Aufbau zwischen Bettler und Treiben-der-Großstadt ganz unverändert bliebe, aber statt Marmarameer und Möwen, statt Fährmotor und gebratenem Fisch stünde da beispielsweise: Donau und Tauben, Straßenbahn surren und Burenwurst ...
Trotz allem diesem vermochte es Teil drei, "Bildstörung", noch, mir so etwas wie Begeisterung für "Lichtstill" zu entlocken. Wenn ich mich nach dem Kapitelnamen richte, darf ich annehmen: Was Görlach wie ein gestörtes Bild vorkommt, erscheint mir als ein endlich Geglücktes. Das fängt mit einem netten kleinen erotischen Gedicht an ("kritik * der reinen unvernunft [auf einer parkbank]") und geht gleich darauf mit einer Art Gesang weiter, der so beginnt -
wir haben uns an das fallen des herbstes in den
schneefallfreien winter gewöhnt an den fall
gorleben im strahlenden wendland die fallsucht
(überflüssiger) selbstmörder auf brücken &
u-bahnsteigen (...)
- und später in den folgenden klugen Dreizeiler mündet:
aber ganz ausgezeichnet gut gewöhnt haben wir uns
an das missfallen das uns befällt wenn wir denken
dass die welt alles ist was der fall ist
Mit dem, was nach diesem Text noch kam, konnte ich einiges anfangen. Teil III des Bandes macht Teil II für mich annähernd wieder wett. Wie ein und derselbe Autor diesen wie jenen hervorbringen konnte, ist dabei keineswegs rätselhaft: Allen drei Teilen gemeinsam ist, wie schon leise angedeutet, das bruchlose Vertrauen in das Prinzip "Schilderung" eigen, Schilderung wo auch nicht notwendig wirklicher, so doch möglicher Dinge; mithin ein sehr bestimmter Begriff von moderner Lyrik, der viel mit dem barocken Konzept der Wunderkammer zu tun hat. Darüber würde es sich mal lohnen, zu diskutieren.
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