Is there no alternative?
Mit der Essaysammlung »Sag alles ab!« will das Berliner Haus Bartelby den »lebenslangen Generalstreik« ausrufen. Das aber kommt eher einem dem Kapitalismus zuarbeitenden »Popwiderstand« gleich, von dem ein Essayist schreibt. Sowieso: Verhungert Bartelby nicht am Ende von Melvilles Kurzgeschichte?
Sag alles ab! Das ist ein Claim. Nur: Alles absagen, was heißt das? Was ist alles, schließt das wirklich, wirklich alles mit ein? Die Feierabendbiertreffen mit alten Bekannten, die zu lange zu viel sabbeln und sich nach dem dritten Bier in passiv-aggressiven Kommentaren verlieren? Die Termine beim Finanz- oder Bürgeramt, bei dem Dermatologen und der Therapeutin? Den nächsten unterbezahlten Freelance-Auftrag für irgendein prestigeträchtiges Unternehmen, in dessen Fahrwasser sich gut Schwung holen lässt für zukünftige Projekte? Die feste, monogame Beziehung? Das Leben im Kapitalismus? Den Tod? Bedeutet eine Absage zwangsläufig Entsagung? Braucht es für eine Absage eine Ansage wie diese: Sag alles ab!? Und letztlich: Wohin führte das, was brächte das alles? Freiheit etwa? Wovon? Und was wäre mit ihr dann anzustellen?
Der vielleicht größte Absager der Literaturgeschichte ist Hermann Melvilles Bartleby, The Scrivener. Ein halbes Jahrhundert, bevor Franz Kafka verhalten das Parkett betritt, schafft Melville eine Art Umkehrung des kafkesken Absurden. Hier ist es nicht das System, das dem Protagonisten immer mehr Rätsel aufgibt und Türen zu neuen Türen öffnet, es ist der Protagonist selbst, der das System zur Verzweiflung bringt. Der Anwaltsgehilfe leistet soweit exzellente Arbeit, bis er anfängt, auf alle Fragen mit Variationen einer einzigen Phrase entgegnet, die so unvollständig ist wie die meisten von Kafkas Werken: »I prefer not to«. Das ist eine Absage gegenüber allen Befehlen und Pflichten, aber auch dem Sinn. Am Ende von Melvilles Kurzgeschichte hat sich Bartleby totgehungert, nicht etwa wie Kafkas Hungerkünstler, weil er keine ihm schmeckende Nahrung gefunden hätte – sondern weil er es vorzog, das nicht zu tun. Das Tun und die Arbeit, die damit verbunden ist, sie werden aus Bartlebys catchphrase a priori herausgestrichen.
Das Haus Bartleby, ein selbsternanntes »Zentrum für Karriereverweigerung« mit Sitz in Berlin, hat sich programmatisch nach der Melville-Figur benannt und sich als Titel für die hauseigene Anthologie Sag alles ab! deren Titel ebenfalls geliehen. Von Tocotronic nämlich, die auf ihrem Album Kapitulation die Absage nicht allein im Titel tragen, sondern von Sänger Dirk von Lowtzow ausbuchstabieren lassen: »Sag alles ab / Geh einfach weg / Halt die Maschine an / Frag nicht nach dem Zweck«. Das ist ein schöner Schlachtruf, der einem performativen Widerspruch entspringt, wie er das Werk der Band seit jeher auszeichnet. Denn, so schreibt es Nils-Momme Stockmann in seinem Essay Zum K-Wort pointiert: Die einen arbeiten dem Kapitalismus zu, die anderen »betreiben Popwiderstand […]. Und arbeiten ihm so zu«. Das knallt, das ist eine Ansage. Vielleicht sogar eine Absage an das Prinzip der Absage.
Es ist bemerkenswert, dass viele von den über 20 Essays in Sag alles ab! sich kritisch mit der schieren Möglichkeit einer solchen Absage auseinandersetzen, obwohl das Vorwort »den lebenslangen Generalstreik« ausrufen möchte. Elisabeth Voß schreibt Über das Privileg, eine Karriere verweigern zu können und spitzt qua Titel zu, warum Sonja Eismann es an anderer Stelle »maximal unpassend […] von einer studierten Professorentochter« fände, sich auf eine Arbeiterbewegung zu berufen, zu der sie keinen wirklichen Bezug hat.
Der Kader, aus dem sich die Anthologie Sag alles ab! bezieht, er setzt sich ähnlich zusammen wie die Band Tocotronic: Aus allesamt hochgebildeten, überwiegend weißen Menschen, die auf den ersten Blick alle der Mittelschicht zuzuordnen sind und wenn dann unter zumeist prekären Umständen Bullshit-Jobs verrichten, wie David Graeber diejenige Berufe nennt, die der Kapitalismus antikapitalistischer Weise über die de facto pragmatischen gebaut hat. Wie Tocotronic oder etwa andere protestelnde Popper wie etwa Peterlicht widerstehen sie mit durch und durch kapitalistischem Erfolg, das heißt Erfolg für sie selbst oder aber Erfolg für den Kapitalismus. Wo also bleiben die Absagen, was wird abgesagt, wozu und was kommt danach? Neben viel Reflexion auf der Metaebene wird das kaum und höchstens in altlinker, adornitisch donnernder Kampfrhetorik thematisiert.
Mitherausgeber Patrick Spät etwa fabuliert von »Lohnsklaven« mit »Stockholm-Syndrom«, Anselm Lenz fordert pathetisch: »Stellen wir den Kapitalismus vors Gericht! Stürmen wir das Schloß!«, und spielt damit womöglich unbewusst auf Kafka an, zumindest arbeitet er Hendrik Sodenkamp zu, der im Abschlussessay für das Haus Bartleby das Prinzip des Kapitalismustribunals erläutert, das auf die »Überwindung« des Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Unterdrückung hinarbeitet. Denn, so Sodenkamp in Anlehnung an den Leitspruch der Iron Lady Margaret Thatcher: »Ein Satz wie ‚There is no alternative! ‘ markiert den Übergang zur Diktatur«. Wo aber sind zwischen all der kritischen Reflexion auf Metaebene und Us-vs-Them-Polemik die Alternativen zu finden?
Christian Dies fordert, frei nach Ernst Jünger den Arbeiter als Soldaten zu betrachten, Anne Waak möchte nach Laurie Penny der »Liebe®«, das heißt dem Ideal monogamer Lebenszeitbeziehungen absagen, Hans-Peter Müller will die Ökonomie wieder zur Moralwissenschaft werden lassen, Van Bo Le-Mentzel proklamiert für sein Konzept der »Crowducation«, es sollte mehr »Gewissen statt Wissen« unterrichtet werden. Das alles sind Alternativvorschläge, die zwischen dem Konkreten und Abstrakten pendeln, sich aber vor allem auf Mikroebenen abspielen. Der umfassendste Vorschlag kommt vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der seinen aber einen »bescheidenen« nennt und eine Alternative zur Eurokrise umreißt, die eine »schrittweise ‚Europäisierung‘ problematischer Banken« umfasst, das aber – allein schon, da der 2010 ersterschienene Originaltext Modest Proposal in Sag alles ab! nur ausschnittsweise wiedergegeben wird – nicht wirklich ausbaut. Am Ende bleiben Einzelvorschläge für minimale Änderungen, die einander zum Teil widersprechen. Keine Lösungsansätze fürs big picture, keine Schlüssel zum Ende internalisierter Ausbeutungsmechanismen.
Sag alles ab! zeichnet ein grundlegendes Dilemma ab, das sich in paradoxalen Wendungen wie Paul Herdens Forderung nach »aktivem Müßiggang als passiver Widerstand« enthüllt und das erneut Nils-Momme Stockmann mit frappanter Knackigkeit formuliert: »Es gibt entgegen der gängigen Meinung kein ‚Außerhalb des K-Worts‘: Ein Netzwerk hat kein Zentrum.« Deswegen die hohe Dichte an Texten, die ihren eigenen Standpunkt als von privilegierten Menschen erarbeitete Kulturware beleuchten: Auch diese Anthologie ist in jedem Sinne ein durch und durch kapitalistisches Produkt. Wenn es ihr Ziel ist, den Kapitalismus anzuklagen, muss sie notwendiger Weise bei sich selbst beginnen. So aber entlarvt sie den performativen Widerspruch, den wir von Tocotronic kennen. »Sag alles ab / Geh einfach weg / Halt die Maschine an / Frag nicht nach dem Zweck«, singt Dirk von Lowtzow und es stellt sich die Frage, wann der plüschophile Diskurspopper eigentlich das letzte Mal im Rahmen einer geregelten Lohnarbeit eine Maschine bedient hat.
»I prefer not to«, lautet implizit das Motto des Haus Bartleby und es stellt sich noch dringender als bei Tocotronic die Frage, warum sich das Kollektiv gerade diese Figur zum Vorbild genommen hat. Denn eine große Parallele zwischen Melvilles Erzählung und den Werken Kafkas existiert immerhin: Am Ende stirbt das Individuum, derweil das System fortbesteht. Das zeugt von Konsequenz, es schafft aber keine Perspektive auf mögliche Alternativen.
Anm.der Redaktion
Mit Beiträgen von: Mira Assmann, Antonia Baum, Niels Boeing, Deichkind, Christian Dries, Sonja Eismann, Alix Faßmann, David Graeber, Paul Herden, Das Kapitalismustribunal, Oliver Kociolek, Andrea Komlosy, Van Bo Le-Mentzel, Anselm Lenz, Dirk von Lowtzow, Hans-Peter Müller, Martin Nevoigt, Guillaume Paoli, Jörg Petzold, Volka Polka, Lucy Redler, Ulrich Renz, Holger Schatz, Heiko Sievers, Hendrik Sodenkamp, Patrick Spät, Nis-Momme Stockmann, TAPETE, Yanis Varoufakis, Elisabeth Voß, Anne Waak.
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