Nichts ist letztgültig zu definieren
Stil und Moral – der Titel des jüngsten Buchs des Schweizer Autors Lukas Bärfuss ist gleichzeitig auch der Titel des 24. und letzten seiner hier vorgelegten Essays, einer Rede, die er 2009 im Stuttgarter Literaturhaus hielt. Sie gehört zu den schwächeren Beiträgen dieses Bandes, für mich nicht ausreichend schlüssig in der Argumentation und offenbar mit dem drängenden Wunsch nach Provokation verfasst. Ausgehend vom Vorhaben, einen geistreichen, stilistisch fein ziselierten Text „ohne den üblichen Bildungsballast“ zu schreiben, wird daraus als Resultat einer banalen Begegnung ein Rundumschlag gegen Kunst(genuss) im Allgemeinen und das Lesen im Besonderen, da jede Lektüre „eine moralische Sauerei“ darstelle angesichts der Weltlage. Jetzt könnte ich, könnte jede(r) wissend nicken, weil wir uns unter dem Wort „Weltlage“ gewiss irgendetwas vorstellen können. Bärfuss expliziert nicht, was genau er damit meint und vertraut auf ein Wissen, das vielleicht kein gemeinsames ist, doch bleibt das Wort seltsam schief im Nichts hängen, denn es geht bei ihm zunächst gar nicht um die Weltlage, sondern beim Skilaufen bloß um das Interesse an einem jungen Mädchen, das eine zwar ordentliche, doch 20 Jahre alte Skiausrüstung hat und der er solange „individuellen Stil“ zugesteht, bis er erkennt, dass dieser Stil Ausdruck von Ärmlichkeit und Mangel ist, er fügt hierfür sogar das Wort „Elend“ ein, als ob es nichts Elenderes gäbe, als mit ältlicher Kleidung Ski fahren zu müssen. „Kunst ruft zur Kunst auf“, so Bärfuss verstiegen, „und wer einen Roman zu Ende gelesen hat, fragt sich nicht, wie er die Welt verändern kann, sondern welches Buch er als nächstes lesen soll“. Und deshalb sei auch „die Lektüre literarischer Essays ... in dieser Zeit moralisch nicht zu rechtfertigen“, schreibt Bärfuss. Nun ja, vielleicht bietet sich als so stil- wie moralgerechte Lösung (die ich hier, evt. unsachlich, andenke) eine Art Solidaritäts-Skifahren in unmodischer Ausrüstung an, um bärfussmoralgerecht zu handeln, was möglicherweise dann umso überzeugender gelingt, je weniger wir Skifahren können oder wollen?
Im Gegensatz dazu steht der zweite Essay, „Feuerofen“, der für mich zu den gelungensten Texten dieser Sammlung zählt und durch Wahrhaftigkeit und Authentizität der Bärfuss’schen Kindheits- und Jugenderfahrungen berührt. Auch dieser Beitrag ist, wie alle anderen der hier aufgenommenen, bereits an anderer Stelle publiziert und für diese Zusammenstellung überarbeitet worden. Aufwachsend in chaotischen Familienverhältnissen wie viele andere in seiner Umgebung, besuchte er „die schlechteste Schule der Stadt“ mit gleichwohl sehr engagierten Lehrern. Allein „die Probleme, die wir zu Hause hatten, konnten sie nicht lösen“:
Wir wussten, dass draußen, jenseits der Neunten, niemand auf uns wartete ... Wir waren halbe Preise, unsere Eltern waren Säufer oder minderbemittelt, manchmal beides zusammen. Wir waren jung, wir hatten Pickel, und wir schämten uns für alles, was wir waren und was aus uns werden sollte. Was wir erreichen konnten, war eine lausige Arbeit zu einem lausigen Lohn, in einer miefigen Kleinstadt. Wozu hätten wir uns anstrengen sollen? Es würde kein Entkommen geben.
Und an anderer Stelle schreibt Bärfuss über sich als perspektivelosen Taugenichts und Tagedieb:
Ich war ein unausstehliches Miststück, ohne elterliche Kontrolle, verwildert, aufsässig und allergisch gegen jede Autorität. Ich trieb mich herum, wechselte meinen Wohnsitz alle paar Wochen, bis ich ... schließlich auf der Straße landete. Geld hatte ich keines, ich ernährte mich von dem, was man früher als Mundraub bezeichnete.
„Ich weiß nicht, was mich rettete“, notiert Bärfuss und er weiß es doch, denn es waren einerseits „ein paar Menschen“, Lehrer, die ihm halfen und, sei es in ihrer Hilflosigkeit, Vorbild waren, ein Buchhändler, der ihm Arbeit gab, und andererseits die Entdeckung des Lesens – ungewöhnliche Lektüren, die ihn in seiner Welt zu etwas Besonderem machten: Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit etwa oder Hegels Phänomenologie des Geistes. Lektüre also nicht als „moralische Sauerei“, wie im anfangs erwähnten Essay, sondern als Bildung, „als eine Möglichkeit, ein Mensch zu werden, der sich unterscheidet, der anders ist und der diese Differenz nicht als Makel, sondern als Auszeichnung versteht“. Und der dann, gerade zwanzig geworden, zu schreiben begann.
Die Themen der 22 anderen Essays sind vielfältig. In mehreren arbeitet Bärfuss sich an Lektüren ab, reibt sich an Werken von Robert Walser, Dürrenmatt oder Max Frisch, aber auch Nichtschweizer Literaten wie Tschechow, Shakespeare oder Büchner. Bärfuss zeigt sich in seinen Texten einmal mehr als politischer Autor, der über Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit räsoniert und gleichzeitig seine Rat- und Hilflosigkeit thematisiert, wenn er sich etwa mit den Thesen des Wirtschaftswissenschaftlers Nicholas Georgescu-Roegen auseinandersetzt, die für ihn überzeugend und alternativlos scheinen, doch konsequent umgesetzt in eine Ökodiktatur münden würden. Oder wenn er die Sinnhaftigkeit der Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen in der Schweiz hinterfragt und ihn plötzlich der Verlust seines politischen Enthusiasmus schmerzt. Oder wenn er im Essay „Habeas Corpus“ als Intellektueller für Menschenrechte eintritt, doch bei einer Reise zur Buchmesse in Abu Dhabi, als tatsächlich ein Schriftstellerkollege verschwindet, zwischen Gleichgültigkeit, Empörung und Komplizenschaft rasch an Grenzen stößt. Und immer wieder findet Bärfuss zum Ursprung, den beiden wesentlichen Fragen zurück, die ihn beim Lesen von Robert Walsers Literatur rührten: Bist du bereit? Willst du sehen?
Am 24.9.2015 wird Lukas Bärfuss in Berlin für sein bisheriges Schaffen der mit 20 000 Euro dotierte Nicolas-Born-Preis verliehen.
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