Tokyo Fragmente 12
Der Weg nach Tokyo (1) Diesmal nehme ich den Shinkansen, allein. Mit dem Fahrrad zum Bahnhof, der hier weitab vom Stadtzentrum und vom alten Bahnhof liegt, wo die Lokalzüge halten. Der neue Bahnhof ist einer von denen, die man ins Nirgendwo gesetzt hat, das Bahnhofsgebäude nicht viel mehr als eine Hütte. Kein Knotenpunkt, keine sich kreuzenden Geleise, eher eine Haltestelle. Mit großem Autoparkplatz daneben, zwei Konbinis und ein Hotelturm nebst Pachinkohalle gegenüber: praktisch für eilige Geschäftsreisende.
Das Nirgendwo erweist sich bei näherem Hinsehen – und was sonst sollte ich tun, als näher hinsehen, zumal ich nicht weit von hier wohne – als sehr genau geprägte, bäuerliche Örtlichkeit mit langer Geschichte, wie die Strukturen der Felder, der Bewässerungskanäle, der Terrassierungen sowie die Bauernhäuser mit ihren übereinandergesetzten, im zweiten und dritten Stockwerk kleiner werdenden, durch Schiebetüren unterteilten Hallen beweisen. Im Grunde genommen nicht anders als die Schreine, Tempel und Burgen, es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen profaner und sakraler Architektur. Alles strebt maßvoll in die Höhe, das Irdische, die Pflanzen, die Tiere, die Menschen; der Geist, die Gebete. Fische tauchen in die Wellen der Dächer, die Schwänze zum Himmel gereckt. Vögel haben sich niedergelassen. Der Besucher klatscht zweimal in die Hände, zieht dann am herabhängenden Seil und bringt die kupferne Kugel zum Scheppern, damit der Gott erscheine.
Erscheinung An diesem Schrein komme ich vorbei, wenn ich mit dem Fahrrad talwärts fahre durch einen dichten Wald auf einem schmalen asphaltierten Weg. Manchmal sitze ich hier im Schatten auf den Stufen eines Seitengebäudes, den Computer auf dem Schoß. Im Kampf mit den Stechmücken, bis ich aufgebe und die Stiche hinnehme. Kleine rote Flecken am Hals, leichtes Jucken, egal. Von diesen Schreinen gibt es zahllose in unserer Gegend, die meisten am Waldrand oder in einer Lichtung, manche noch tiefer im Verborgenen. Zeremonien finden hier selten statt, ab und zu kommt jemand, um einen Gott zu rufen, und zwei oder drei Mal im Jahr finden gesellige Zusammenkünfte statt, alte Leute mit Enkelkindern an der Hand singen Lieder mit Orchesterbegleitung vom Band, Karaoke im Freien, oder Halbfreien, um genau zu sein. Am Sonntag stellt sich frühmorgens eine kleine Schar aus der Nachbarschaft ein und macht sauber, mit den unter dem Schreinboden gelagerten Ruten werden gefallene Blätter weggekehrt.
Lange darf ich mich nicht aufhalten, schließlich geht der Shinkansen sekundengenau, auch ich habe mich dem strengen Zeitrhythmus zu unterwerfen. Schaue trotzdem seitwärts, auf die neue Felder, Lotospflanzen, wie groß die Blätter schon sind, Handflächen unsichtbarer Götter, Podien für Morgentau, Insekten, manchmal ein Frosch, der irritiert umherblickt. Letztes Jahr wuchs hier etwas anderes, weiß nicht mehr, was, die Aussaat wechselt. Nur die Reisfelder bleiben am selben Ort, seit einigen Wochen stehen sie unter Wasser, die Pflanzen noch zart, dünne Striche. Tengame, Himmelsschildkröte, ein Restaurant, früher Sake-Brauerei, vor dem Eingang die schweren steinernen Wesen, gar nicht engelhaft. Konbinis, drei an diesem Streckenabschnitt, vor dem Family Mart stehen vier junge Männer mit Sandwichs und Teeflaschen bei ihrem Wagen. Lieblingstreffpunkt der Jugend, das Konbini. Heimeliger Unort. Dann die Steigung, im ersten Gang, ob ich es bis zur Hochebene schaffe, ohne abzusteigen? Geschafft. Auf der schnurgeraden Straße, die die Ebene durchquert, kommt mir ein Taxi entgegen. Wenn ich viel Gepäck habe, nehme auch ich ein Taxi zum Bahnhof. Zweimal ist es bisher geschehen, daß der Lenker meine Frau wiedererkannte. Er hatte sie, acht Jahre ist es nun her, zum Bahnhof gebracht, als sie Geburtswehen hatte. Zehn Minuten im Kodama, ein Schaffner telephonierte mit der Klinik, der Ambulanzwagen wartete dann schon am Bahnhof. Ich saß zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Zug, einem Nozomi (gleich Hoffnung), vom Flughafen in Osaka kommend. Daran denke ich jetzt, während ich die letzten Fahrradmeter abstrampele.
Der Weg nach Tokyo (2) Schmale, lange, etwas abschüssige Einkaufsstraße in Kyodo, vom Bahnhof weg südwärts. Der Fußgeherstrom hier und da von tastenden, niemals klingelnden Fahrradfahrern und geparkten Kleinlastwägen aufgerissen, schließt sich gleich wieder. Wo das Strömen schwächer zu werden beginnt, steht rechts das Business-Hotel, neben einem Pachinkoladen und einer Drogerie. Die Abstände seitlich zwischen den drei- vierstöckigen Häusern sind gerade so breit, daß ein Erwachsener durchgehen kann, ohne die Wände mit den Achseln zu berühren. „Urbane Dichte“ sagen die soziologisch Interessierten dazu. Das Hotel ganz normal. Hier bin ich abgestiegen, weil ich in der Nähe meines Hauptinteressenpunkts nächtigen wollte. Musashikoyama... Nicht weit von hier, aber das alte Hotel dort ist verschwunden, ein neues inzwischen nicht aufgetaucht. In Kyodo herrscht kein Mangel an Izakayas, aber ob ich hier eine Kneipe wie Yoshiyukis Show-ten finden werde?
Nein, nicht gefunden. Dafür ein Restaurant mit langer Theke, hinter der man die Köche bei der Arbeit bewundern kann. Weißes Handtuch um den Schädel, hinten zusammengebunden, so schneiden sie mit riesigen Messern an kleinen Stücken Fleisch, Fisch und Gemüse herum. Lassen mich kosten, warten auf meine Reaktion, man muß hier auch nicht dauernd oishii sagen. Der Genuß des Essens, des Schmeckens; die Freude des Zubereitens; das Vergnügen des Betrachtens. Der Chef ist ein kantiger, breit und hoch gewachsener Mann mit großen Händen und jener Sanftmut, die die übermäßig Gewachsenen oft haben, wie zum Ausgleich für den körperlichen Überschuß. Ich bestelle Fleischbällchen mit grüner Paprika, gebackene Melanzani mit Zwiebel, geraspeltem Bonito, Ingwer, Dashi... Viele Speisen sind aus Innereien zubereitet, horumon, anscheinend eine Spezialität des Lokals. Die Ausübung der Kochkunst bringt überraschende Kombinationen hervor, das ist eines ihrer Ziele. Wenig Vermischung und Verschmelzung in der japanischen Küche, eher das ausgesuchte, oft harmonische, manchmal auch widersprüchliche oder aufreizende Nebeneinander.
In letzter Zeit denke ich in japanischen Restaurants und Izakayas gern an ein Buch von Hiromi Kawakami, und noch mehr an die Manga-Fassung der Geschichte, gezeichnet von Jiro Taniguchi. Sensei no kaban, die Tasche des Sensei, deutsch mit dem komischen Titel „Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß“. Es ist eine sehr schlichte Liebesgeschichte zwischen einer Frau mittleren Alters, Single wie all die Tausende beruflich erfolgreichen Frauen in dieser Stadt, eine Liebesgeschichte, und ihrem ehemaligen, längst pensionierten und geschiedenen Lehrer. Der Sensei versteht viel vom Essen, der bevorzugte Treffpunkt der beiden ist ein Izakaya, in dem man täglich eine Vielzahl kulinarischer Köstlichkeiten nebst gutem Sake genießen kann, und Jiro Tankiguchi zeichnet das – Interieur, Speisen, Teller, Schälchen, Eßstäbchen, Gesichtsausdruck – so realistisch und zugleich so anrührend, daß die Bilder eine Art Seelenwärme verströmen und sich für lange Zeit immer wieder in meinem Gedächtnis regen. An einem solchen Ort bin ich in Kyodo gelandet, mit einer gewissen Instinktsicherheit, die ich mir mittlerweile, nach so vielen Jahren in diesem Land, zuschreiben darf.
Seelenballungsraum und Macdo (international, exciting, eye catching...), vom Izakaya-Eingang aus betrachtet Sonntagmorgen, acht Uhr in einem Doutor-Café, gegenüber vom Ausschank und den Rücken der um diese Zeit noch nicht sehr zahlreichen Gäste schläft einer, die Reste des Frühstücks vor sich auf dem Tablett auf dem Tischchen, unbeeindruckt von dem bereits ziemlich regen Hin und Her der Körper, Arme, Hände, Stimmen, Geräusche der Leute und Dinge hinter und vor der Theke. Ich höre umso aufmerksamer, als müßte ich für den Schläfer mithören, aber vielleicht geht das alles ja viel schöner, weil vielfach verwandelt, in seinen Traum ein: dumpfes Zuklappen einer abgedichteten Kühlschranktür; Auffalten und Beklopfen einer Papiertüte zum Mitnehmen von Waren; Zusammenfalten der Tüte, Abreißen eines Klebestreifens (winziger Knall); Münzengeklimper; Schiebegeräusch einer Schublade; Kaffeereiberauschen, das schwungvoll verschwindet; „elektronisches“ Fiepen von Tasten, die gedrückt werden (eigentlich fiept der Rechner); Gebläse eines Föhns oder Abzugs; Musikrieseln (zum Vergessen); Scheppern von Tassen, als ein Tablett abgestellt wird; Rascheln von Papier bzw. Verpackungsfolie; maschinelles – immer noch elektronisches? – Fiepen: tief tief hoch, dunkel dunkel hell: kann man das noch als Töne beschreiben?; Plätschern eines Wasserstrahls; Grummeln einer Geschirrspülmaschine; aufeinanderfolgendes Scheppern, mal dort, mal da: eine kommunikative Kette; Echos von alldem. Eine Art Stille, in die langsam, fast zögernd, der Tageslärm vordringt, bis man dann später, in der Mittagszeit, die Stillereste als Inseln wahrnehmen wird.
Notizbuch und Kamera, ergibt das hier. Kenzaburo Oe wohnt in der Nähe, wenige Vorortbahnstationen von Kyodo entfernt. Für 14 Uhr bin ich in sein Haus eingeladen. Ich liebe es, vor solchen Verabredungen in der Umgebung des Treffpunkts herumzuschlendern, nicht nur, um mich ein wenig auf das Gespräch einzustellen, sondern auch, weil ich in diesen kurzen, unverplanbaren Zeitspannen manchmal in einen anderen Zustand gerate, wo sich Aufmerksamkeit und Zerstreutheit begegnen und für Augenblicke die Waage halten. Diesmal gerate ich in eine Wohngegend mit den für den Westen Tokyos typischen Steigungen und Senkungen, und es herrscht eine andere Ruhe als an gewöhnlichen Sonntagen, denn heute sind Wahlen, nicht wenige Leute unterwegs zum Wahllokal, das sich in einer Grundschule befindet. Fast nur alte Leute, die sich in Grüppchen unglaublich langsam fortbewegen. Die Jungen gehen scheinbar nicht zur Wahl. Oder wohnen hier gar keine Jungen? Doch, Familien mit Kindern, ab und zu sieht man einen Vater mit Sohn oder Tochter vor dem Haus spielen.
In Seijo wird die Gegend plötzlich flach, die Bäume und Baumgruppen, hohe Kiefern darunter, oft Restbestände der Wälder, die sich vor nicht langer Zeit hier erstreckten, werden zahlreicher. Auf einem unbebauten, grasbewachsenen, aber nicht ganz verwahrlosten Grundstück steht ein Nissan Pao, eines der niedlichen japanischen Autos aus der Nachkriegszeit, die kaum exportiert wurden. Ich jedenfalls habe früher keines zu Gesicht bekommen, und wenn ich eines entdecke, das noch läuft, was hin und wieder geschieht, weil viele Japaner nicht nur für neue Technik schwärmen, sondern auch alte Dinge sorgsam warten, nähere ich mich, um es ausgiebig zu bewundern. Das Grundstück wurde früher vermutlich als Parkplatz genützt, und der Besitzer des Pao hat ihn wohl einfach für ewige Zeiten stehen lassen, schon vor vielen Jahren. Ein Seitenfenster des kleinen Wagens ist geöffnet, im staubigen Inneren liegt fast gar kein Müll – anscheinend wagt niemand, Plastikflaschen und dergleichen ins Wageninnere zu werfen. Am Armaturenbrett ein altmodisches Autoradio; zwischen Fahrersitz und Lenkrad wächst eine schlanke Pflanze aus dem Fahrzeugboden, auf dem sich wohl ein wenig Erde angesammelt hat. Gegenüber vom Pao befindet sich eine Kirche, ein Langhaus mit niedrigem Turm, oben ein einfaches Kreuz. Helle Wandschindeln, ein Gebäude wie in Massachusetts. Grace Episcopal Tokyo Church steht über dem Eingang. Im Garten neben der Kirche ein Glockenturm, eigentlich nur ein Gestänge; die Glocke habe ich vorhin, als ich meinen Kopf durchs Pao-Fenster steckte, läuten gehört.
Hier in der Nähe war der Pao. Auf den Spuren meiner selbst: als ich Kenzaburo Oe besuchte, hatte ich keinen Fotoapparat dabei, und den Pao – in Wahrheit ein Retro-Modell aus den achtziger Jahren, wie ich inzwischen weiß – mit seiner in den vergangenen Monaten noch höher, wahrscheinlich bis zum Dach aufgeschossenen Pflanze hätte ich gern abgelichtet und hierher transferiert. Ich bin nicht fündig geworden, obwohl ich dieselben kleinen Brücken am selben verbauten Flüßchen mehrmals überschritten und einige Orte wiedererkannt habe, darunter die betuliche, auf alt getrimmte Bäckerei französischen Stils mit dem kleinen, von gepflegten Damen frequentierten Café. Aber weit und breit kein Pao, auch keine Gnadenkirche. Dafür, auf der anderen Seite der Durchzugsstraße, eine größere katholische Kirche. Und ein kleines Museum, das beim Vorbeigehen eher als Privathaus mit großem Garten erscheint. Taiji Kiyokawa hat es selbst entworfen, ein Künstler, von dem einige Bilder in den Räumen hängen. Mehr als die abstrakten Gemälde in amerikanisch-nachkriegszeitlicher Manier sprechen mich Kiyokawas Fotos aus Chicago an, die hier ebenfalls zu sehen sind. Sie sprechen mich an im buchstäblich Sinn, ziehen mich gleichzeitig hinein, von Stadt zu Stadt. Eines Tages wirst du durch Chicago spazieren, wie du hier und jetzt durch Tokyo spazierst. Ob es diese Stadt aber noch gibt? Eine Bemerkung von Anna Kazumi Stahl fällt mir ein: New Orleans, die Stadt, in der sie aufwuchs, sei heute verschwunden. Nicht oder nicht nur durch den Wirbelsturm Katrina, sondern durch kulturellen, politisch motivierten Ausverkauf. Mir würde es genügen, Reste, Lücken, Ruinen zu sehen. Auch verschwunden? Vielleicht kann ich Chicago doch nur hier, in Setagaya, dank dieses japanischen Künstlers erfahren, der sein kleines, nicht übermäßig beachtetes Vermächtnis so wohlgeordnet hinterlassen hat.
Chicago (in Tokyo) „Prairial“ heißt die Bäckerei. Ich muß eine Weile in meinem Gedächtnis kramen, um dem Wort eine genaue Bedeutung zuordnen zu können. Prairial ist ein Frühlingsmonat des Revolutionskalenders, den die Pariser Revolutionäre 1792 einführten und der dann einige Jahre in Kraft war, vermutlich bis zum Ende der Republik. Während ich das schreibe, frage ich mich, ob diese plötzliche Änderung nicht jede Menge Verwirrung im französischen Alltag stiftete. Keine Verwirrungen hierzulande, auch keine Revolutionen, in der Geschichte nicht (abgesehen von Palastrevolutionen), in der Gegenwart nicht, in der Zukunft vermutlich auch nicht. In den frühen Büchern Kenzaburo Oes ist öfters von Bauernaufständen die Rede. Sicher... In welchem Land hat es die nicht gegeben? Ich glaube aber, daß viel Wunschdenken in diese Erzählungen Oes eingeflossen ist. Im Gespräch wird er die Dringlichkeit einer politischen Veränderung beschwören, sehr bald, betont er, werde es zu spät sein, man werde nichts mehr machen können, wenn die autoritären Pläne der gegenwärtigen Regierung abgesegnet erst einmal abgesegnet seien. An die Möglichkeit einer Revolution oder einer anderen Art von Massenbewegung scheint Oe nicht wirklich zu glauben. Schulterzucken. In seinen Romanen entspinnt der alte Meister Phantasien. Aus dem fernen Shikoku ist er vor sechs Jahrzehnten nach Tokyo gezogen, mit seiner Familie schließlich hierher, nach Seijo, Setagaya, wo jedermann die Regeln und Konventionen gesellschaftlichen Zusammenlebens auf das peinlichste einhält. Im Café mit dem paradoxen Namen läßt sich das Wohlverhalten der alten Damen, jungen Mütter und braven Kinder minutiös studieren. Die sorgfältig aufgereihten Köstlichkeiten sind so schmuck wie in den besten Pariser Konfiserien. Die Nachahmung egalisiert oder übertrifft das Original und halbiert zugleich die Größe der Portionen. Klein ist hübsch, der Prairial ein wundervoller Monat. Dinge und Gäste werden umspielt von einer endlosen Spieldosenmusik aus dem Lautsprecher, die gut ins Versailles der Marie Antoinette passen würde.
Verborgenes Anwesen In der Nähe von Oes Haus fallen mir Anwesen auf, die einen ganzen Häuserblock umfassen. Oder besser gesagt, was mich neugierig macht, sind die langen Zäune aus dickem Bambusrohr und die Hecken aus hellem, zartem Bambus dahinter, während die meisten Fußgeher, der Intention der Besitzer entsprechend, rasch ihres Weges gehen. Durch die Hecken sind holzverkleidete Häuser zu sehen, ländliche Architektur Japans, Zeughäuser, Bäume und Wiesen, die ein Heer von Gärtnern beanspruchen, um so instandgehalten zu werden, wie es der Fall ist. Mercedes und BMW unter einem weiten Holzdach, mehrere Kameras, die mich unauffällig anstarren. Nicht, weil es in Tokyo von Einbrechern wimmeln würde, sondern aus einem eingefleischten Sicherheitsbedürfnis heraus. Hier in der Nähe hat der Dirigent Seiji Ozawa sein Haus, und bis zu seinem Tod 1996 wohnte der Komponist Toru Takemitsu hier, beides Freunde der Familie Oe. Deren Haus ist vergleichsweise bescheiden, ganz normal sozusagen, ebenfalls hinter Pflanzen verborgen, nur der weiße Aufsatz oben ragt hervor, das Schreib- und Ruhezimmer Oes, das mir aus einigen Romanen vertraut ist. Am Ende der Straße ragt eine luftige Kiefer empor, ein Baum ähnlich den Schirmpinien in Südeuropa, die mich, hier wie dort, durch ihren Anblick und ihre Fürsorge rühren.
Look! Über Kenzaburo Oe habe ich ein Portrait geschrieben und einen Essay, in dem ich ausführlich aus unseren Gesprächen zitiere. Das möchte ich hier nicht wiederholen. Andererseits sind mir aber Kleinigkeiten im Gedächtnis geblieben, Beobachtungen und Stimmungen, also Dinge, die nicht immer aussagekräftig sind in Hinblick auf Oes Werk, ja, vielleicht sogar auf Abwege führe (die mich, und vielleicht auch den Leser, auch wieder locken). Schlangenwege gewissermaßen.
Nachdem ich am Gartentor geklingelt habe, erscheint nicht, wie ich nach der Lektüre eines Interviews erwartet habe, Oes Frau, sondern er selbst. Mit kleinen, ziemlich raschen Schritten durchmißt er den Weg bis zum Tor. Überraschend, daß sich der Ort, wo Oe gewöhnlich Besucher empfängt, in nächster Nähe zum Eingang befindet. Man geht um eine Art Brüstung herum und setzt sich an einen niedrigen Tisch, vor dem mit der Rücklehne zum Garten ein riesiger Ohrensessel steht – der Platz des Meisters, wo er zahllose Stunden mit Gesprächen, vor allem aber mit Lektüre und Nachdenken verbracht hat. Wohl auch Stunden in sorgender Nähe zu Hikari, seinem behinderten Sohn, der unterdessen Musik gehört haben wird. Im Regal über dem Sofa die wichtigen Bücher, jene nämlich, die Oe ein ums andere Mal liest, Konstanten seiner geistigen Welt über Jahrzehnte hinweg: William Blake, T. S. Eliot, Northrop Frye, Simone Weil; ich nenne nur die, die ich auf Anhieb an den Buchrücken erkenne. Wenn ich jemanden sehe, der sich so lückenlos mit für ihn wichtigen, fast wie Personen dastehenden, immer noch und immer wieder auf ihn wartenden Büchern umgeben hat, kann ich nicht anders, als an meine eigenen Bücher zu denken, beziehungsweise an den Moment, in dem ich sie alle weggegeben, verkauft, ja, verschleudert habe. Es war ein tiefer und schmerzhafter Einschnitt in meinem Leben. Und ein Akt der Befreiung. Denn man kann sich mit Büchern auch ummauern. Man kommt dann von seinem Sitz- und Stehplatz, von seinem kleinen Auslauf nicht mehr heraus, auch wenn man in Rechnung stellt, daß Bücher ihrerseits Welten enthalten und Welten sind, also Öffnungen darstellen für den, der mit ihnen umgeht.
Schreibstube himmelwärts Aber meine Bücher sind ohnehin in meinem Kopf, und dort können sie sich noch besser ändern, entwickeln, verlieren, erneuern als in den Regalen. Unsere Bücher sind in unseren Büchern, nicht wahr, Meister? Der sichere Ohrensesselplatz und die Freiheit, aus dem Gegebenen etwas Neues zu schaffen, schließen einander nicht grundsätzlich aus. Nicht grundsätzlich... Ich sage Meister, Sensei, wie man in Japan sagt zu jeder Art von Respektsperson. Wie sonst soll ich ihn nennen? Gern hätte ich einen echten Meister gehabt, früher in meinem Leben, aber es war keiner unter denen, denen ich über den Weg gelaufen bin. Das liegt auch an mir, an meiner Scham und Scheu. Erst seit den Jahren, da ich selbst fast schon ein wenig meisterlich geworden bin, gerate ich hin und wieder an Personen, die diesen Namen verdienen, und kann den Umgang mit ihnen genießen. Aber zum Schülerdasein ist es zu spät.
Der Ort, wo wir uns unterhalten, eigentlich nur einer von vielen Winkeln in dem verwinkelten Haus, liegt etwas tiefer als der eigentliche Wohnraum, wo im Hintergrund die Silhouette eines Pianos auszumachen ist. Ein Schatten bewegt sich davor, es ist Hikari, der sich für die Besucher interessiert, aber nicht in Verbindung mit ihnen zu treten gedenkt. Oes Frau, eine Schwester des verstorbenen Filmregisseurs und Schauspielers Juzo Itami, der in mehreren Büchern Oes vorkommt (in Tagame ist er die Hauptfigur), seine Frau trägt Tee und später Kaffee und Süßspeisen auf. Sie beteiligt sich nur einmal kurz am Gespräch, als es um Hikaris Entwicklung geht. Sie ist es, die sich um die beiden kümmert, um das körperlich kräftige, fünfzigjährige, geistig behinderte Kind und um das intellektuelle, körperlich schmächtige, geistig außerordentlich rege Kind von achtzig Jahren. Die Frau im Hintergrund, der Mann im Vordergrund, das Kind dazwischen. Die Frau hinter dem Mittelgrund, in dem sich Hikari, der Lichtbringer, bewegt. Eine schöne Rolle, die weibliche, und eine gute Rollenverteilung. Seit jeher bezweifle ich, daß Ruhm und Ewigkeit – besser „Ewigkeit“, zwischen Geänsebeinchen – mehr wert sein sollen als Selbstlosigkeit, unscheinbares Wirken, Leben in der zugemessenen Zeitspanne, ohne große Spuren zu hinterlassen.
(E-mail) – Beim Meister Eine Zeitlang kauert Hikari auf dem Teppichboden uns zu Füßen, beschäftigt sich mit CDs, spricht mit seinem Vater über Musik, ein Konzert mit Kompositionen von Grieg, das sie im Fernsehen gehört haben. Ein ums andere Mal vertut sich Oe bei der Aussprache des Namens des Kompnisten, oder er verwechselt tatsächlich die beiden: Grieg und Gluck (es klingt wie Glück), Gluck und Grieg. Hikari korrigiert seinen Vater, ärgert sich über dessen Halsstarrigkeit: Nicht Glück, Grieg! Gespielter Ärger, glaube ich. Hikari dreht mir den Rücken zu, ich starre auf seinen Hinterkopf, das schüttere schwarze Haar. Gegensatz zum vollen weißen Haarschopf des Vaters.
Kira kira, funkelnd, étincelant. Oes Gesicht leuchtet, seine Augen funkeln, als ich vom funkelnden Stil rede. Sein französisches Lieblingswort. Mein japanisches. Kira kira suru. Oes Leidenschaft, wenn er von Literatur spricht, oder von Politik, von „der Gesellschaft“. Ganz gleich, wovon er spricht, ganz gleich, was er ansieht. Strömende Energie. Selten in Japan, wo jedermann das Vorgegebene, Vorgeschriebene wiederholt, wenn er nicht überhaupt lieber schweigt oder sich entschuldigt für seine Existenz. Boku wa ne... Doch, die japanische Sprache erlaubt es, die eigene Existenz in den Vordergrund zu spielen.
Ein wenig werde ich den Verdacht nicht los, beim Lesen seiner Bücher genauso wie jetzt, da er uns seinen Sohn vorführt, daß Oe an der Existenz seines Sohnes in erster Linie ein literarisches Interesse hat. Hikari dient ihm dazu, seine verschlungenen Reflexionen zu erproben und das Ergebnis der Erfahrungen, le resultat de ses expériences, seiner Experimente, in neue Bücher einfließen zu lassen. Mündet denn nicht alles in ein Buch? Ist nicht die verbale Schöpfung die Rechtfertigung der an sich selbst gar nicht sehr erfreulichen Existenz? Ich habe das Gefühl, daß sich der behinderte Sohn gegen die Verwendung durch seinen Vater insgeheim sträubt. Eine Sprache der Begründungen und Forderungen steht ihm nicht zur Verfügung, er kann nicht mehr tun, als zu bocken. Und wenn er einmal im verbalen Vorteil ist, weidet er sich an der Situation und versucht, ihre Dauer zu verlängern. Grieg, nicht Glück!
Wenige Minuten später sind wir wieder im literarischen Dialog, es geht um Thomas Mann, den Oe sichtlich bewundert, aber auch er habe im hohen Alter keinen Roman mehr geschrieben. Felix Krull ist Fragment geblieben, ja. Thomas Mann ist mit achtzig gestorben, und es deutet alles darauf hin, daß Oe den Deutschen um eine Reihe von Jahren überleben wird. Auch einen Roman will er jenseits der achtzig schreiben – und fertigstellen. Oe blättert in einem dicken Buch, der japanischen Übersetzung des Zauberberg, und es rührt mich zu sehen, wie er zusammenklebende Seiten beim Umblättern mit der Zunge ableckt, damit sie sich voneinander lösen. Unbekümmert wie ein Kind. Der Alte ist kindlicher als sein Sohn. Gemeinsam erinnern wir uns daran, daß Hans Castorp am Ende des Romans in den Krieg zieht, daß er dabei unentwegt ein Schubertlied im Kopf hat, Fremd bin ich eingezogen..., und daß der Erzähler zuvor die im Lied beschworene Ruhe als Todesruhe interpretiert hatte. „Thomas Mann hat fast gar keine Metaphern verwendet“, bemerke ich und stürze Oe damit in Verwirrung. Er überlegt, ob meine Beobachtung denn zutreffen kann, die Frage läßt ihm keine Ruhe. Wieder leckt er an einer Seite. Oes eigene Romane und Erzählungen, besonders die frühen, sind voller Metaphern und Gleichnisse, nicht zuletzt deshalb funkelt seine poetische Sprache.
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