Interview

Wie kannst du gleichzeitig sein und nicht sein

Francisca Ricinski im Gespräch mit Matei Visniec

Francisca Ricinski: Am Anfang war das Wort, also die Aussprache, jene Mitteilungen, die, den Abgrund transzendierend, das Leben in seiner Sinn- und Übersinnlichkeit geschaffen haben. Wenn die Worte, deren sich ein Schriftsteller bedient, noch nicht die Bindung zu dem Wesen jenes Wortes, von dem der Evangelist spricht, verloren haben, könnte sein Werk, wenn schon nicht das Licht wiederbringen oder die Welt zurechtrücken, sie wenigstens vor dem totalen Fall bewahren. Wie verstehen Sie den Sinn oder gar die Botschaft der Worte eines Dichters? Als sähe ich den Herrn mit der Sherlock-Holmes-Allüre und andere „zweifelhafte Gestalten“ aus ihrem Roman „Negustorul de începuturi de roman“ (Der Romananfangs-händler), wie sie in die Buchhandlung eintreten und die Bücher an die Ohren drücken, um zu lauschen, wie diese „schnauben, flüstern, girren“ …

Matei Visniec: Was mich betrifft, ich glaube an die Arbeit und die Demut des Schreibens. Meine Demut vor den Wörtern beruht auf meinem Standpunkt, dass eigentlich sie mich schreiben, nicht ich sie. Die Poesie ist für mich die Geschichte einer Jugendliebe geblieben. Eigentlich war es meine erste Liebe. Mit zehn, elf Jahren schrieb ich schon Gedichte und veröffentlichte sie in der Schulzeitschrift. Ich hatte als Student in Bukarest die Chance, 1986 Gründungsmitglied des Montagszirkels zu werden. Was mir jetzt interessant vorkommt, ist das Gemeinschaftsgefühl jener Zeit, das uns, alle Achtziger, durch die Bedeutung unseres ästhetischen Kampfes verband. Es war wichtig, eine Alternative aufzubauen, wenn auch nur metaphorisch, zur Sprache der Macht, der marxistischen Ideologie … Es war wichtig, ironisch die ganze mentale Verstopfung und Ideologie des Regimes, seine gesamte geschichtliche Unbeweglichkeit und sein delirierendes Benehmen zu sprengen. Jeder stilistische Sieg  der Poesie, jeder „Wespenstich“, jede Erfindung, jedes Mutzeugnis auf der sprachlichen Ausschöpfungsebene der Poesie waren ebenso viele Bloßstellungsformen der Dummheit und offiziellen Stumpfsinnigkeit wie auch der patriotischen Zeremonien, die unser Leben vergifteten. Mein Wunsch war, mit meinen Schriften zu „schockieren“ oder zu beeindrucken und nicht mit dem Gestikulieren meiner Person. Ich habe Gedichte geschrieben wie ein Verrückter. Für mich, für andere, um die mir von den Wörtern gegebene Freiheit auszuschöpfen, um das totalitäre System zu zerstören … Natürlich war es zum Schluss nicht die Poesie, die den Kommunismus gestürzt hat, aber sie hat es uns in gewisser Weise ermöglicht, nicht psychisch, ästhetisch und intellektuell zu ersticken. Die Kraft der Metapher war stärker als jene der Zensur, diese Tatsache scheint mir offenkundig.

F.R.: Sie sind ein Autor mit einem reichen Oeuvre: Gedichtbände, Kurzprosa, Romane, Theaterstücke etc. Die Dramatik scheint aber die „erste Geige“ zu spielen. Woher stammt diese Option und eine derartige Leidenschaft für dieses literarische Genre, einschließlich der Bühne?

M.V.: Als ich in Rumänien lebte, vor dem Fall des Kommunismus, hatte ich immer das Gefühl, dass die Macht das Theater mehr fürchtete als andere Kunstformen (Film, Literatur, Malerei, Musik …). Schlussendlich war das auch normal, denn das Theater, als lebendige Kunst, kann schnell zu einer öffentlichen führen. Lebende Menschen (die Schauspieler) wenden sich mit den Zweifeln und Dilemmas eines dramatischen Konflikts an andere Menschen (die Zuschauer). Die freigesetzten Emotionen während eines solchen Dialogs bergen das Risiko, schneller zum Aufruhr anzuheizen als das Lesen eines Gedichtbandes oder eines Romans. Die Bücher, wie aufrührend sie auch sind, werden von Menschen in ihrer Einsamkeit gelesen. Das Theater aber wendet sich an die Massen, und die können für Machtapparate gefährlich werden durch diesen Funken, die kollektive Emotion, der zum Aufruhr führen kann. Wenn ich mich erinnere, dass ich mein erstes Stück mit 17 Jahren geschrieben habe und jetzt 59 bin, dann ist die Rechnung einfach: Ich schreibe seit 42 Jahren Theater. Ich zähle noch einmal zusammen, um keinen Fehler zu machen: 17 plus 42 sind 59. Wann sind sie verstrichen? Jetzt merke ich, dass es eine Symmetrie meiner Etappen als Schriftsteller und Dramatiker gibt: über 20 Jahre literarisches Leben in Rumänien und über 20 Jahre in Frankreich. Seit mehr als 34 Jahren glaube ich an die von den anderen einverleibte Macht des Wortes.

F.R.: In Rumänien, in Piatra Neamţ, habe ich kürzlich in einer Aufführung des Jugend-theaters ihr Stück „Frumoasa călătorie a urşilor Panda povestită de un saxofonist care avea o iubită la Frankfurt“ („Die schöne Reise der Pandabären, erzählt von einem Saxophonisten, der eine Geliebte in Frankfurt hatte“) gesehen. Schon der Titel, lang wie ein Zug, suggeriert den besonderen Charakter des Stückes, pendelnd wie Türen zwischen offenen Bedeutungen und Zweideutigkeiten, oder überraschend durch den Übergang vom kapriziösen Spiel der Berührungen, Emotionen und Erwartungen zu den Momenten innerlicher Verdichtung,  übertragen in eine Körpersprache mit großer Ausdruckskraft,,bis an die mystische Schwelle der Exaltation. In ihrer kurzen Ansprache vor der Aufführung, oder es war woanders, sagten Sie, dass Sie ein Mensch sind, ein Autor, dem die Bewegungen gefallen, die lebhaften Änderungen. In jener [Die] schöne[n] Reise der Pandabären..., herrschte aber eine Atmosphäre, die eher zum Nachdenken, zur Kontemplation anregte, blieb doch der Rhythmus, trotz der einige Male brüsken Eintritte und der unerwarteten Bewegungen der Personen oder der audiovisuellen Effekte, vorwiegend langatmig. Natürlich bestimmt nicht der Autor, sondern in letzter Instanz der Regisseur den Puls, die Atmosphäre eines Stückes. (Ich hätte dieses Stück gerne auch 2007 in der Inszenierung des Japaners Yoshinari Asano gesehen!) Es gibt genügend Elemente, die mich zu einem Vergleich dieser Stückeart mit dem poetischen Theater eines Giraudoux oder Anouilh anregen.

M.V.: Bereits als ich so um 16 – 17 Jahre alt war, begann meine Poesie sich langsam im Theater aufzulösen. Es war auch so, dass ich eine Poesie pflegte, die jede Art von Fabeln, kleine Szenarien und dramatische Miniatursituationen in sich versteckt hielt. Einige von ihnen haben sich entwickelt und wurden Stücke. Das Gedicht hat mich ununterbrochen im Theater begleitet und ich kann kein Stück konzipieren ohne eine poetische Etage, ohne Metapher, ohne diese Kraft der Poesie, die zu gleicher Zeit sowohl Botschaft, aber auch Doppelsinnigkeit erzeugt. Die Gedichtkunst generiert Spitzfindigkeiten und erweitert den Konfliktraum. „Die schöne Reise der Pandabären, erzählt von einem Saxophonisten, der eine Geliebte in Frankfurt hatte“ ist eigentlich ein lyrisch-philosophisches Stück, weit entfernt von jeder suprarealistischen oder absurden Färbung.

F.R.: Welche Autoren waren Ihnen im Lauf der Zeit Leuchttürme – im dem Sinne, den Baudelaire diesem Wort gab, als er die großen Maler der Welt bedachte.

M.V.: Für Eugen Ionescu und Beckett empfinde ich eine große Liebe. Sie haben mich aus der Monotonie der klassischen und realistischen Literatur gerissen, als ich so um die 13 oder 14 Jahre alt war. Sie haben mir auch geholfen zu verstehen, dass die Literatur den Menschen und seine Widersprüche besser erklären kann als die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik und alle anderen Wissenschaften, die sich mit dem Menschen befassen. Beckett habe ich zum ersten Mal gelesen, als „Warten auf Godot“ in der hervorragenden Zeitschrift Secolul XX erschienen ist. Mit 17, in meiner Heimatstadt, war ich schon beeinflusst von den Essays Albert Camus’ und erklärte mich zum Existenzialisten, was die Auffassung von Welt und Leben betrifft. Als künstlerische Haltung schwankte ich aber zwischen Surrealismus und Dadaismus. Meine Begegnung mit der Avantgarde fand also sehr früh statt ... Schwer zu sagen, wie in die Bibliothek eines meiner Professoren, noch zu meiner Lyzeumszeit, eine Nummer der Zeitschrift UNU (EINS) gelangt war. Sicher ist, dass eines Tages mein Rumänischlehrer, Herr Hlinski, mir ein Gedicht von Tristan Tzara, „Tristeţe casnică“ (Häusliche Trauer), zu lesen gab: „Das Pferd frisst die Schlange der Nacht / der Garten hat sich Königsauszeichnungen zugelegt ...“ So habe ich Tristan Tzara eher als einen Propheten und eine Persönlichkeit und weniger als einen Dichter kennen gelernt. Es waren die Jahre, als eine relative kulturelle Öffnung das Wiederentdecken der Avantgarde ermöglichte, der Vergangenheit und der Zugehörigkeit der Rumänen zu Europa. Wenn das Phänomen der Avantgarde mich faszinierte, so hat die „dadaistische Insurrektion“ mich konvertiert. Tzaras Geste, der nach dem Zufallsprinzip ein Larousse Großwörterbuch öffnet und das Wort findet, das die Wahrheit der Epoche ausdrücken sollte, wurde für mich synonym mit der Werdung der Welt.

F.R.: Wie war die Atmosphäre der Stadt in jener Zeit? Waren Sie unter den Dichtern ihrer Heimatstadt der einzige„Konvertit“bei der Dada-Bewegung?

M. V.: Schwer vorstellbar ein einsamerer Ort an der Grenze zweier Imperien als der bukowiner Marktflecken Rădăuţi/Radautz, wo in den 70er Jahren die deutsche Sprache noch auf der Straße zu hören war und der österreichische Stil der Gebäude im Zentrum eine Brücke zwischen der erdrückenden Anonymität des Ortes und dem fernen Okzident schlug. Nur dass es im Ort nur so kribbelte von Energie und Kulturrevolte, denn ich war in meinem dadaistischen Abenteuer nicht allein: Die Stadt hatte auch andere empörte Dichter, und einige Maler, meine besten Freunde, waren zum Surrealismus konvertiert. Gemeinsam, die Anonymität und die offizielle Ideologie herausfordernd, und nur wenige Kilometer entfernt der große „Bruder“ vom Osten, stürzten wir uns damals in eine vermeintlich dadaistische Lebensweise. Die Geheime dadaistische Akademie von Radautz funktionierte etwa zwei Jahre, mit Tristan Tzara als abwesender Zeremonienmeister. Die Zusammenkünfte fanden im Atelier eines Malers und im städtischen Friedhof an einem Gedenkstein mit den deutschen Namen einiger Soldaten aus dem ersten Weltkrieg, die auf der falschen Barrikadenseite kämpften, statt.

F.R.: Einige Figuren sind von einer trügerischen Transparenz. Eingeschlossen in dünnen Konturen, bleiben sie, jenseits der Situationen, in die sie eingebunden sind oder Erwähnung finden, ja sogar in deren Kern, geheimnisvoll, verklärt, meteorisch. Ich erinnere mich, dass Godot, diesmal in Ihrer dramatischen Inszenierung „Ultimul Godot“ (Der letzte Godot), Samuel Beckett empört und hochmütig vorwirft, er habe ihn gedemütigt, zu einem Phantom gemacht, einer Marionette: „Das ist eine Gestalt?... So schreibt man? Wo hast du eine Gestalt gesehen, die nicht erscheint?… Für wen hältst du dich? Schau auf Shakespeare! Alle Personen erscheinen. Sogar der Geist erscheint … Wie kannst du gleichzeitig sein und nicht sein?“ …, worauf Beckett nur eine einfache Antwort hat: „Ich weiß nicht. Es hat sich schlicht und einfach so ergeben.“

Ist das die Antwort, die auch Sie geben würden, wenn Sie nicht nur von Ihren eigenen Gestalten gefragt würden, sondern auch von irgendeinem ob der „Ketzereien“ des modernen Theaters frustrierten Kritiker? Es hat sich schlicht und einfach so ergeben?

M.V.: Als Schöpfer muss ich durch das, was ich schreibe, eine starke Emotion hervorrufen, denn ein literarischer Text bleibt nur in der Geschichte, wenn er es schafft, eine Emotion zu übertragen. Der Rest ist Aufgabe der Kritiker. Was mich betrifft, haben mich einige in die Kategorie des Absurden placiert, um mich dann auch anderweitig unterzubringen, von traumwandlerisch zu grotesk und von Phantasie zum magischen Realismus ... Andere fanden, dass mein Theater eine Mischung aus Poesie und Surrealismus ist, und meine letzten Stücke wurden entweder als historisch oder zu hundert Prozent realistisch eingestuft, aber einen chirurgischen Realismus betreffend. Und wahrscheinlich wird die Liste damit nicht geschlossen sein.

F.R.: Und aus dieser imaginären Auseinandersetzung der beiden verstehe ich, dass Sie der Verfechter eines Theaters sind, das auch weiterhin die Regeln aufbricht und großzügig Platz lässt für Improvisationen, Aufbauvariationen, aus Blickwinkelwechsel resultierende Effekte, Vermengung des Realen mit der Imagination, Spiel mit der Zeit. Ich würde aber gerne von Ihnen erfahren, wie Sie die Beziehung zwischen Autor und Person verstehen. Sind Sie zum Beispiel jemals in Versuchung geraten, eine Gestalt zu entwerfen, im Theaterstück oder Roman, von dem Sie wie Stendhal und viele andere nach ihm sagen würden: „Madame Bovary c'est moi?“ Ziehen Sie gerne die Fäden aus dem Schatten wie ein virtuoser Puppenspieler, während die Beziehungen und Geschehnisse großteils zentrifugal eingeführt und geleitet werden, nach einem gut geordneten Konzept, oder entfernen Sie sich lieber von ihren Personen, ihnen die Freiheit gewährend, sich zu zeigen und zu handeln, eigeninitiativ zu werden, oder sogar um nichts zu machen?

M. V.: Das Schreiben eines Stückes, Romans, einer Novelle ist ein Unterfangen voller Gefahren … Wenn du einer Gestalt zum Leben verhilfst, kreierst du ihr auch ein Schicksal, bist also irgendwie in der Position des Allmächtigen. Plötzlich fasst du den Entschluss, eine Person umzubringen, du nimmst ihr also das Leben, so als wärest du … Gott. Und in der gleichen göttlichen Manier kannst du dir erlauben, die Person etwas später wieder ins Leben zurückzurufen. Der Schriftsteller vor seinem weißen Blatt kann sich als eine Art Gott vor der Erschaffung der Welt fühlen … Du benötigst aber schon einen gesunden Menschenverstand, um zu begreifen, dass diese Sichtweise eigentlich ein … Spiel ist. Wenn ich versuche meinem Gehirn eine Emotionen provozierende Geschichte (das Einzige was mich wirklich an der Literatur interessiert) zu entlocken, weiß ich mich im Verhältnis zu allen Energien der Welt, zu mysteriösen Kräften und dem Gedächtnis der Sprache, in der ich schreibe … Ich stelle mich in eine Gleichung mit den anderen, mit Gut und Böse, Leben und Tod, mit dem Wunsch, eine Spur zu hinterlassen und der Angst, im Nichts spurlos zu verschwinden … Das Schreiben ist Erschütterung, und der Vorgang des Schreibens ist, zumindest für mich, durchdrungen von Schüttelfrösten des Risikos, des Unbekannten. Manchmal fühle ich mich wie jemand, der eine Botschaft überbringt, von der er nichts oder nur sehr wenig versteht, der aber weiß, dass sein Schicksal in der unbedingten Zustellung dieser Botschaft liegt …

F.R.: Ich habe den Eindruck, dass Sie in ihren Stücken nicht unbedingt die umfassenden, violenten Konflikte beschäftigen und auch nicht die Mitnahme des Zuschauers mit von Suspension zu Suspension angehaltenem Atem, als eher die Absicht, zu verwirren und bis zum Nonsens zu karikieren, bzw. der Wunsch, zu provozieren und enthüllen, zu warnen und anzuklagen, ohne ein hämischer Judex zu werden und, wenn möglich, ohne die Tragik und Melancholie oder das Paradoxe hinter der Groteske zu untergraben. Der Irrsinn – ein von Ihnen intensiv behandeltes Thema, besonders in den Theatermodulen des Bandes „Omul – Teatrul descompus“ (Der Mensch – Das zersetzte Theater) – hat nicht mehr die Gestalt eines Rhinozeros wie bei Ionesco, aber die Gehirne sind genauso infiltriert und giftig. Und in einem ihrer letzten Romane, eigentlich eine Parabel, dechiffriere ich die Konvulsionen eines Lamentos zwischen Prophezeiungen und widerstrebenden Akkorden: „Ihr Menschen werdet die Globalisierung ohne uns nie schaffen … Die Menschen und Ratten sind geschaffen, gemeinsam zu überleben, diesen Planeten gemeinsam zu verwalten.“ Wie recht hatte Dante, als er uns zum Lesen auf dem Tor des Infernos anhielt: „Lasciate ogni speranza voi ch'entrate“… Aber besser, Sie erzählen uns von ihrem eigenen Theaterkonzept!

M. V.: Mein große Offenbarung in der Jugendzeit war das absurde Theater. Wie ich mich eben hingezogen fühlte zu Kafka, Edgar Allan Poe, Dostojewski ... Das absurde Theater war aber für mich eine Form des Realismus, denn die Realität, in der wir lebten, war eigentlich absurd.  Siehe also meine Motivation zum Schreiben, am Anfang absurde Stücke, aber nicht nur, denn ich begeisterte mich auch für andere „Schlüssel“ zur traumdeutenden Literatur und zur fantastischen, wie auch zum grotesken Theater ... Ich liebte eigentlich alles, mit Ausnahme der sozialistischen, vom Regime aufgetragenen Literatur. Später habe ich aber Stücke im realistischen Schlüssel geschrieben, historische Dramen, poetische Dramen ... Mein Stück „Über den Sex der Frauen – Schlachtfeld im Krieg in Bosnien“ hat weder etwas onirisches noch absurdes an sich. Es entstand aus meiner Erfahrung als Journalist, wie übrigens andere Stücke auch. „Clowneinstellung“, das sehr viel gespielt wurde (in ca. 14 Ländern), ist ein Text über drei alte Clowns auf Arbeitssuche und ein absolut realistisches Stück, ein Stück über die Grausamkeit des Alltags, einkassiert von den Seelen dreier Künstler, die versuchen zu überleben. Also war meine Palette ziemlich verschiedenartig in den letzten Jahren. Auf jeden Fall versuche ich, mich nicht zu wiederholen, denn es macht gar keinen Sinn, Manierist zu werden. Der Reiz des Schreibens liegt eben im Suchen und Immer-wieder-Suchen.

F. R.: Arbeiten Sie lange an einem Szenarium? Welches ist der schwerere Geburtsweg, die Idee zum Stück oder das Stück selber?

M. V.: Ich habe die ganze Zeit mehrere Stücke auf der Pfanne, denn man weiß nie, welches von ihnen eine Dringlichkeit wird. Ich schreibe wie der rumänische Bauer, der früh aufsteht, um seinen Boden zu bestellen, ein Stückchen an jedem Tag. Diese Texte, oft in Eile niedergeschrieben, diese kleinen Erzählungen oder Zeilen ohne Kopf und Fuß, bewahre ich dann in meiner „Datenbank“ auf. Sie bleiben dort und warten manchmal ein, zwei, drei Jahre ... , um einen Platz in einem Gefüge zu finden. Wenn ich das Gefühl eines großen Themas verspüre, einer wichtigen dramatischen Situation, die ich unbedingt weiterentwickeln muss, dann werden die Krümel-Texte, die überall zerstreute Materie, gesammelt und, manchmal, geklebt, zusammengebaut, dem großen Ganzen beigefügt. Also ich arbeite jeden Tag ein bisschen. Manchmal schreibe ich auch in der U-Bahn, wenn ich zu Radio France Internationale fahre, wo ich als Journalist für die Rumänische Sektion arbeite ... Ein anderes Mal aber setzte ich mich in ein Café und notiere 2-3 Zeilen, Reflexionen, Bilder, Situationen ... Und ich bin auch noch ein großer Sammler von Alltagsgeschichten (natürlich auf die literarische Offenbarung wartend) ... Denn eine große Idee zu einem Theaterstück wird nicht mit Leichtigkeit geboren, wer kann diese Art der Eingebung öfter haben als ein- oder zweimal im Jahr? Die großen Inspirationsmomente sind eher selten. Ich meinerseits begebe mich sofort an die Arbeit, wenn ich die Kraft einer dramatischen Situation „verspüre“, oder eines Konflikts (denn ein Stück muss ein Konflikt sein und ein Werden, also das Werden von Personen), danach schreibt das Stück sich selber, doch mithilfe des Materials aus meiner Datenbank. Einige Stücke sind mir aber in einem Atemzug gelungen, wie aus einer Art Offenbarung. So ist es geschehen mit „Gut Mutter, aber die erzählen im zweiten Akt, was im ersten passiert ist.“

F.R.: Wo schreiben Sie am liebsten? Und wann?

M.V.: Ich schreibe auch heute in Cafés, aber besonders in denen aus meinem Viertel, mit weniger Touristen und nicht so arroganten Kellnern. Was mir auch weiterhin in den Cafés gefällt, ist das menschliche Schauspiel und ununterbrochene Ballett von Gesten und Worten. In einem Café, das Geschmack und Alter ausstrahlt, spüre ich sofort das Sammeln der Erinnerung und die Kunst zu leben. Die Geschäftigkeit im Café stört mich überhaupt nicht, sie ist sogar von Vorteil und hilft mir mich zu konzentrieren. Wenn ich von dort weggehe, nachdem ich einige Seiten geschrieben habe, fühle ich mich immer mit positiver Energie geladen: Ein Café schenkt dir eigentlich Eleganz auch mit seiner Poesie, seiner Geisteshaltung und seiner Geschichte. Wer in Paris am Place d’Italie vorbeikommt, dem rate ich ins Café de France zu gehen. Er kann mich vielleicht morgens um 10 Uhr dort antreffen. Ich schreibe gerne zu jeder Tageszeit, denn ich erlaube es mir nicht, aus Zeitnot, mich an gewisse Sonnenzyklen zu binden. Ich schreibe in jedem Augenblick des Tages, der Woche und des Jahres, obwohl die erste Jahreshälfte nie der zweiten ähnelt. Wenn es mir gelingt, ein gutes Stück bis zum 1. Juli zu schreiben, wird die zweite Jahreshälfte so etwas wie ein Preis für die geleistete Arbeit, ich fühle mich entspannt, ich habe den Eindruck, das Jahr ist gewonnen, und in den nächsten Monaten kann ich mir mehr Zeit zum Lesen und Reisen gönnen …

F. R.: Wurde die Intention des Dramatikers immer richtig erkannt, der Geist des Stückes? Kam es vor, dass die Vorstellung nicht den erwarteten Erfolg beim Publikum hatte?

M.V.: Es ist mir oft passiert, dass ich schlecht inszenierte Stücke von mir gesehen habe. Aber ich mache nie einen „Skandal“ daraus. Ich äußere mich nie gleich nach einem Stück, wenn die Schauspieler noch im Reich der Emotionen weilen, verschwitzt und müde, und wenn sie eher ein Lobeswort hören möchten. Es gibt manchmal Situationen, in denen Regisseure mein Stück genau umgekehrt entziffern. Ich sehe da sofort, dass dieser Regisseur meinen Text nicht besonders gut verstanden hat und großartiger als der Autor sein wollte. Wie auch immer, ich kann sagen, alle möglichen Situationen erlebt zu haben. Ich erschrecke nie, wenn ein Regisseur mir sagt, dass er ein wenig aus meinem Stück streichen will. Ich hatte hervorragende Vorstellungen mit meinen Stücken, in denen der Regisseur „geschnitten“ hat, und ich hatte schlechte Vorstellungen mit Stücken, in denen der Regisseur nichts geschnitten hat, ja sogar die Kommas respektiert hat. Das Verhältnis zur Regie und der Aufführung ist viel subtiler. Ich war noch nie Regisseur oder Schauspieler. Das ist einer der Gründe, warum ich jedem Regisseur, der meine Stücke inszeniert, absolute Freiheit gewähre. Für mich ist der Regisseur ein Künstler (meinesgleichen), der die ästhetische und moralische Verantwortung für meinen Text übernehmen muss. Wenn er den Text spürt und respektiert und mit mir im selben Sinne vorangeht, ist es perfekt! Wenn es nicht funktioniert, peitsche und schüttele ich, als Autor, ihn vergebens, das heißt, dass wir so und so nicht dazu gemacht wurden, uns zu begegnen. Wenn man mehrere Aufführungen zusammen betrachtet, werden die Verluste, Fehlschüsse unbedeutend, machen sie doch nur einen kleinen Prozentsatz aus diesem großen Abenteuer aus. Ich habe oft Stücke „auf Bestellung“ geschrieben. Manchmal kommen Regisseure oder Schauspieler und sagen, dass sie gerne mit mir zusammenarbeiten würden, sie bitten mich, für sie einen neuen Text zu schreiben. Manchmal bin ich angeregt, um es so zu sagen, und schreibe für die betreffenden Ensembles oder Regisseure, ein andermal, wenn mir ihre Arbeitsmethoden nicht gefallen und ich keine solide ästhetische Bindung mit ihrem Universum habe, lehne ich ab. Alles hängt von der menschlichen Beziehung und der Art meiner Empfindung ab, der Inspiration und der Freiheit, die man mir gewährt. Wenn man mir zum Beispiel ein Stück über Aids verlangt, mit drei Personen, zwei sollen Frauen sein, und das genau eine Stunde und 35 Minuten dauern soll, lehne ich ab ... Das sind zu viele Einschränkungen ... Ich hatte die Genugtuung, interessante Stücke zu schreiben, weil interessante Menschen mich dazu angeregt haben.

F.R.: Sie sind eine künstlerische Persönlichkeit, die konstant zu den bedeutendsten Theaterfestivals wie die von Avignon und Edinburgh eingeladen wird. Nicht nur physisch sondern auch mittels Ihrer Stücke. Sie gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Dramatikern – in über 30 Länder – wo sie lobende Kritiken erhalten. In Frankreich, wo Sie leben und arbeiten, sind Sie – nach Eugène Ionesco – der Autor mit den meisten Theateraufführungen. In Rumänien genauso. Obwohl sie sich einer Berühmtheit erfreuen, sind sie überall höflich, natürlich, ohne Starallüren. Auch im Foyer des Theaters, von dem wir vorher sprachen, haben Sie gelassen und lächelnd Autogramme gegeben und sich mit den Leuten unterhalten, die gekommen waren, Sie zu treffen und Ihnen zu applaudieren. 

Ich würde gerne wissen, ob Sie jetzt, auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes, noch immer von den Schatten alter Fragen und Dilemmas umgetrieben werden …

M.V.: Sogar heute noch, 28 Jahre nach meinem Weggang aus Rumänien, 26 Jahre nach dem Fall des Kommunismus, treiben mich einige Fragen betreffs meiner Möglichkeiten um. In dieser Hinsicht bin ich kein Feigling: ich habe meine inneren Unruhen nie verleugnet, ich trage sie weiter in mir und mit dem Alter verstärken sie sich, statt abzuflauen. Ich werde nie wissen, ob ich in jenen Jahren aufrechter hätte gehen können, tapferer sein, unnachgiebiger mit der Macht, der Dummheit, der Gehirnwaschmaschine, der alleinigen Ideologie und mit den ganzen Figuren um mich herum, die nur Unterwürfigkeit verkörperten, Komplizenschaft, Bosheit … Es war damals schon ein sehr gewagter Schritt, Freiräume in der Kultur zu suchen. Später aber sagte ich mir, dass der Machtapparat uns gerade so manipuliert und mit der Erlaubnis zur Kulturtätigkeit politisch lahmgelegt hat, da wir unsere Energie in die Poesie und Literatur investierten.

F.R.: Ist es jemals vorgekommen, dass ein Segment der eigenen Lebenswelt des Matei Visniec sich in die unverfälschten Rohfassungen von Szenarien, den der abwechslungsreiche Alltag einem Auge wie dem Ihren, das sehen und das dramatische Potenzial erkennen kann, einschleichen wollte?Oder in jene Szenenabläufe, die Ihnen wie ein Springbrunnen aus den Tiefen der Fantasie entgegenkommen, und aus denen sich dann die Idee dekantiert, der Kern eines Szenarios?

M.V.: Mit Sicherheit hätte ich „Herr K. Eliberat“ nicht geschrieben, wäre ich nicht geprägt von meiner Erfahrung aus Rumänien bis 1987, aber besonders von der Lektüre über die zwei Formen des Totalitarismus, die der Nazismus und Kommunismus waren. Was mich beim Schreiben dieses Fiktionsromans interessiert hat, war die psychologische Wirkung der Tatsache, dass die Gesellschaft dich abwechselnd in die Rolle des Opfers und jene des Peinigers schieben kann. Wie wirst du Wärter, nachdem du Gefangener warst? In einer Gesellschaft mit verschmelzenden Grenzen zwischen Gut und Böse zermürbt eine solche Welt die menschliche Persönlichkeit, nimmt sie auseinander. Der Roman, einige Monate nach meiner Ankunft in Frankreich verfasst, war für mich eine Übung der Geisteraustreibung, ich habe, eine extrem schwarze Geschichte schreibend, versucht mir das schlimmste Übel vorzustellen, das es zu vermeiden galt. Und für mich war das größte Übel der Verlust der Besonnenheit und des kritischen Geistes. Heute kann ich es kaum glauben, dass ich mich in den Jahren des Kommunismus vom System so lähmen ließ. Ohne dass es mir bewusst wurde, war ich mein eigener Gefängniswärter, ich habe zu meiner Haltung im Käfig selbst beigetragen. All diese Gedanken haben mich beschäftigt und beschäftigen mich, und ich habe sie als Roman weiterentwickelt, weil es mir interessanter schien, als eine Abhandlung zu verfassen, einen Essay oder eine Psychologiearbeit der Komplizenschaft. „Das Paniksyndrom in der Lichterstadt“ habe ich in sechs Monaten geschrieben, mit eiserner Disziplin, weil ich mich selber freuen und beim Schreiben amüsieren wollte. (Das Schreiben eines Romans ist wie eine Form der Disziplin und der Auseinandersetzung mit mir selbst auf einem anderen Niveau als dem Theater.) Ich habe auch über die Entstehungsmythen der Religionen nachgedacht, mit einem besonderen Akzent auf die Kreuzigung und Wiederauferstehung, die Fundamente des Christentums. Wenn ich jetzt denke, wie ich das Stück „Die Spinne in der Wunde“ in einem Atemzug geschrieben habe, merke ich, dass ich es in einer Art Trance zu Papier gebracht habe, als hätte ich es durch eine Erleuchtung geschrieben. Es gibt Momente großer Emotionen im Angesicht tiefgehender Themen, die solche Seiten produzieren … Mir gefallen Glaubenseiferer nicht. Ebenso wenig Menschen, die mich aufdringlich fragen, an wen und ob ich glaube.

F.R.: Haben Sie auch noch Platz für andere Gedanken und Erlebnisse als jene für Ihre literarischen Gestalten, also einen freien mentalen Raum, ohne Repliken und Metaphern, frei für Schicksalsabfolgen? Wo die Nachrichten über die Apokalypse in Raten einer längst nicht mehr uns gehörenden Welt, die Sie als Journalist bei Radio France Internationale kommentieren und weiter senden, Sie nicht aufzehren wie Herrn Busbib (in einer fast hitchcockhaften Szene)?

M.V.: Es ist schwer, zugleich Schriftsteller und Journalist zu sein. Mir jedenfalls fällt es immer schwerer. Die Literatur gibt dir eine Hoffnung, hilft dir den Mensch in seinen Lauterkeits- und kosmischen Mysteriumzonen zu ergründen. Der Journalist verpflichtet dich, die Misere der Realität zu entdecken, das Fehlen einer realen Hoffnung in die Zukunft, die Tatsache, dass die Menschen seit jeher die gleichen geschichtlichen Fehler begehen und immer verhasst bleiben. Die Literatur bedeutet auch Poesie, Hunger nach Nuancen, Krönung des Menschen als ein Erfolg des Lebens, vielleicht des gesamten Universums. Der Journalismus legt dir täglich die Nachrichten vor, die nichts anderes als eine Liste von Gräuel sind – die letzte Liste der vom Menschen verursachten Gräueltaten auf dem Planeten. Manchmal erstickt mich die Aktualität und dann versuche ich, die gleichen Themen literarisch behandelnd, aus ihrem Zirkelschluss auszubrechen. So habe ich „Über den Sex der Frauen – Schlachtfeld im Krieg in Bosnien“geschrieben, überdrüssig der Nachrichten aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo der Bürgerkrieg den Tod von 200.000 Menschen verursacht hat, während Vergewaltigung zur militärischen Strategie wurde. Aus den gleichen Quellen (Journalismus und geschichtliches Delirium) ist das Stück „Das von Mutter gesagte Wort Fortschritt klang großartig falsch“ entstanden. Das Stück erzählt von der Trauer der Eltern, die ihre Kinder im Krieg verloren haben und sie nicht beweinen können, weil sie niemand zum Beerdigen haben. Inspiriert zu diesem Stück wurde ich von einem Vorfall, der sich vor einigen Jahren in Tschetschenien ereignet hat: Eine Mutter bekam von den Mördern ihres Sohnes einen Brief mit der Aufforderung, 2000 Dollar zu zahlen, damit man ihr den Leichnam schickt. Es ist eindeutig, dass in Sachen Abscheulichkeit die Fiktion von der Realität übertroffen wird.

F.R.: Gibt es einen Platz hinter der Stirn, wo die „aufgesaugten“ Erzählungen von der Tragik und Hässlichkeit der Menschheit keinen Zugang haben? Oder ist gerade das Schreiben Ihre Befreiung?

M.V.: Jeder Mensch birgt in sich Wesen, die „aktiv“ bleiben und ihm keine Ruhe geben. Auch ich trage in mir einige Wesen: ein erstauntes Kind (also ich mit fünf, sechs Jahren, als ich die Welt entdeckte, die Spiele, Märchen), ein von Büchern fasziniertes Kind (also ich mit elf, zwölf Jahren, als ich zu lesen begann und die Parallelwelt der Literatur entdeckte), ein begeisterter Teenager vor seinen ersten Gedichten (also ich mit dreizehn, vierzehn Jahren, als ich merkte, dass ich, Literatur schreibend, eigentlich Gott spielte); und ich trage in mir noch einen verrückten Jugendlichen, der nur einen Traum hatte, und zwar von Radautz nach Bukarest zu fliehen, wie auch einen jungen Mann, fasziniert von der Welt der Künste, mit dem Drang zum Weggehen im Blut und mit einer gewissen Schule des Verdrusses, die ich mir in meinen Bukarester Jahren von 1976 bis 1987 angeeignet hatte ...  Je älter ich werde, je mehr Personen versammeln sich in mir, in meinem Wesen, Personen, mit denen ich weiterhin kommuniziere, die lebendig bleiben und bei mir anfragen. Das große Problem mit ihnen ist eigentlich ein Bilanzproblem. „Hast du im Leben das gemacht, was du uns in der Jugend versprochen hast?“, fragen sie mich. Von der Antwort, die ich gebe, hängt die Rechtfertigung meines ganzen Lebens ab.

F.R.: Was wäre, wenn wir die Zeit zurückdrehen würden bis zu dem Tag, als Sie zum Bleistift griffen und ihr erstes Gedicht schrieben? Könnten Sie den damaligen und späteren Zustand beschreiben? Wenn wir in Der Romananfangshändler, I, Kapitel 43 lesen: „Noch bevor ich sagte Mama, Papa, Kacka, Pipi, Töpfchen, Nani und so weiter, hatte ich auf der Zunge, hatte ich im Gedächtnis dieses umfassendere, abstraktere Wort, stärker als alle, das mich in meiner Gesamtheit charakterisieren sollte: Genie“. Autobiographischer Bezug oder nicht, frühreife Offenbarungen oder nur Badinage, wir haben immerhin eine Antwort …

M.V.: Als ich im Alter von zehn Jahren mein erstes Gedicht schrieb, das eigentlich gar kein Gedicht, sondern eine Versifikation von La Fontaines Fabel „Der Rabe und der Fuchs“ war, merkte Mutter sofort, dass ich ein Genie war, was sie auch gleich der Nachbarin, die uns beim Gießen im Garten half, mitteilte. Seit damals habe ich mich immer selbst im Blick, schreibe Wort um Wort, darauf wartend, dass der Rest des Universums die Mutter ernst nimmt; aber leider waren die Dinge nicht so einfach. Und jetzt ist es zum Kämpfen schon zu spät, denn ich merke, dass mit fortschreitendem Alter die wesentlichen Antworten sich zerstreuen und ich nur mit den Fragen bleibe. Ich hatte genugtuende Augenblicke in meiner Laufbahn als Schriftsteller, so zum Beispiel als 1982 ein Schulinspektor mir einen offiziellen Brief an die Schule, wo ich Geschichte und Geografie unterrichtete, mit der Bitte schickte, patriotische Gedichte zu schreiben. Ich wurde mir damals bewusst, dass ich nicht allein auf der Welt war und meine beschriebenen Seiten direkt ins Ziel trafen, denn sie ärgerten das Regime ... Ich hatte dann noch einige außergewöhnliche Erlebnisse. Zum Beispiel auf der Bühne Schauspieler zu sehen, die vor dem Publikum genau die Worte sprachen, die ich zuvor in meiner Einsamkeit geschrieben hatte. Immer wenn sich diese Erfahrung wiederholt (zu deren Beurteilung mir die Worte fehlen), sage ich mir, schau her, ich bin trotzdem am Leben.

F.R.: Wie verstehen Sie diese Gabe zum Schreiben, mit der Sie so reichhaltig ausgestattet wurden? Als ein Privilegium oder eher als inneres Brennen und Verantwortung?

M.V.: Der Beruf des Dramatikers ist undankbar, denn von Beginn an ist der Dramatiker in der Position des Bettlers. Meine Worte betteln um Einverleibung und die Einverleibungskette ist lang: Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner  … wie viele Kettenglieder greifen nicht ineinander von meinem Schreibtisch bis zum Adressat, dem Publikum! Seit jeher war ich überzeugt, dass ich beim verfassen von Theaterstücken Literatur schreibe. Freilich, die Literatur, die von der Bühne verlangt wird, ist ein wenig anders als die für den einsamen Leser geschriebene. Der Roman behält in gewisser Weise seine Szenografie und der Autor bestimmt selbst alle Rollenspiele in der Handlung. Beim Stückeschreiben habe ich immer versucht Gestaltungsräume für die anderen Koautoren, Regisseur und besonders Darsteller, freizulassen. Ich bin in Frankreich einem Verleger begegnet, Emile Lansman, der mir erzählt hat, dass er die Ambition habe, Theaterstücke zu veröffentlichen für das große … Lesepublikum. Mit anderen Worten, Stücke für Theaterliebhaber, die sich ein Stück kaufen, um es in ihrer häuslichen Abgeschiedenheit, im Sessel zu lesen. Aber Verleger wie Emile Lansman gibt es nur wenige.

F.R.: Konnte ein literarisches Werk, eine Schrift jemals den Gang des Menschen und der Welt beeinflussen? Oder ist sie bloß ein Sisyphosstein?

M.V.: Wenn Journalist und Schriftsteller sich gegenüberstehen, werfen sie sich gegenseitig vor, dass sie sich mit kaltem Wasser betrinken und sich während ihres Werdegangs manipulieren lassen. Und was heißt das schon, wenn es dir gelungen ist, in deinen Schriften die unerträglichen Gegensätze des Menschen festzuhalten – fragt der Journalist den Schriftsteller -, der Mensch wird keinesfalls besser, die Literatur zerstört keine Diktatur und legt keinen Konflikt bei. Und was heißt das schon, wenn es dir durch deine Informationen gelungen ist, die Dummheit, das Böse und Grausame bloßzustellen – fragt der Schriftsteller den Journalisten -, niemand beherzigt deine Wahrheiten, kein einziger Politiker wird seinen Platz, von Gewissensbissen geplagt, verlassen, kein Richter wird sofort aufgrund deiner Enthüllungen ein Verfahren aufnehmen. Besiegt, überbeansprucht, entmutigt stehen die beiden, Schriftsteller und Journalist, manchmal am gleichen Tisch, mit nur einem Glas Bier vor sich, und starren ins Leere. Jemand macht sich lustig über uns, sagen sie. Ich weiß, wer sich über mich lustig macht, sagt der Schriftsteller, es ist der Mensch, der Mensch allgemein, der stets jeder Definition abhold ist, der Mensch, der zu viele Gegensätze und Ambiguitäten hat, um ein definitives Bild zu akzeptieren. Wenn eine Maschine auch so viele Widersprüche in sich vereinen würde wie das menschliche Wesen, wäre sie auf keinen Fall funktionsfähig, sie würde rauchen, ihre Komponenten ausspucken und in einer Explosion enden. Auch ich weiß, wer sich über mich lustig macht, sagt der Journalist. Es ist der politische Mensch, generell der politische Mensch, der, der mich zusammen mit seiner Information manipuliert. Ich habe keine Beweise, weiß aber, dass alle politischen Menschen der Welt sich jeden Abend treffen und die Tagesbilanz machen: Haben wir es geschafft, fragen sie sich, die Zeitungsschreiber auch heute dazu zu bewegen, nur über uns zu schreiben? ... Diesem Dialog zwischen Schriftsteller und Journalist folgt gewöhnlich ein langes Schweigen. Wenn ich nur den Beruf des Journalisten ausgeübt hätte, wäre ich wahrscheinlich nach 25 Jahren der Beobachtung der Welt zu einer Art Seelensekkant verkommen. Es ist trotzdem unglaublich, zu beobachten, dass die Menschheit nie aus den Fehlern der Vergangenheit lernt und die Gräueltaten sich fast mit einer Art Schicksalszynismus wiederholen. Was wir heute Realität nennen, ist ein sich verschärfender Brand. Man kann sagen, die Hälfte des Planeten leidet und die andere Hälfte sitzt am Fernseher und schaut diesem Leidensspektakel zu. Die Information wird heute nach allen Regeln der Sensationskunst in Szene gesetzt, während der Zuschauer längst „hollywoodisiert“ ist. Und der Narzissmus der Millionen Menschen, die ihren Exhibitionismus in den „sozialen“ Medien ausleben, zerstört das Konzept der Information noch mehr, denn alles wird wichtig und eigentlich ist nichts mehr wichtig. Das sind also genau so viele Gründe (aber es gibt auch noch andere) für die ich dem Schriftsteller in mir dankbar bin, weil er den Journalisten zur Meinung ermutigt, dass doch noch nicht alles verloren ist.

F.R.: 1978 hat man Ihnen, als Sie eigentlich nicht mehr darauf warteten, ein Visum für Frankreich genehmigt. Sie sind dorthin lediglich mit einem Koffer gereist und haben erst beim Passieren der österreichischen Grenze realisiert, dass Sie wirklich in einen freien Raum eingetreten sind. In Paris angekommen und erfahrend vom Verbot ihres Stückes „Die Pferde am Fenster“ am Theater Nottara in Bukarest, haben Sie politisches Asyl verlangt,obwohl die Trauer Sie bedrückte, ihre Eltern nicht wiederzusehen und sich von der bukowiner Landschaft zu trennen, von allem, was Ihr Leben bis dahin ausgefüllt hat. Der einzige Reichtum, den Sie mit sich trugen, war, wie Sie es öfter sagten, die rumänische Sprache. Sie allein, aber welch ein Reichtum für einen Schriftsteller,in dessen Worte sich der Geist all dessen, was er zurückgelassen hat, bewahrt! Würden Sie bitte unseren Lesern nacheinander schildern, wie Sie es als Emigrant geschafft haben, sich in das intellektuelle und künstlerische Leben von Paris zu integrieren, um dann zu einer solchen Anerkennung ihres Talentes und künstlerischen Wertes zu gelangen.

M.V.: Obwohl ich bis 1982 nicht die Absicht hegte wegzugehen, hatte ich trotzdem mehrere Stücke mit dem Thema Freiheit und besonders zum Verhältnis Eingesperrter und sein Aufpasser geschrieben. Zum Beispiel in meinem Stück „Artur, der Verurteilte“ begehrt die zum Tode verurteile Hauptfigur Artur keine Sekunde gegen das Urteil auf, kämpft aber entschieden für eine nach allen Regeln der Kunst organisierte Hinrichtung, mit Schafott, Trommlern, Publikum, rotem Teppich usw. Ich beschäftigte mich also schon in Rumänien mit der Komplizenschaft zwischen Henker und Opfer. Als ich mit 31 Jahren nach Frankreich kam, hatte ich die Kraft, mich aufs Lernen zu verlegen. Ich habe etwa fünf Jahre mit Papier und Bleistift gearbeitet, um wie ein fleißiger Schüler Französisch zu lernen. Ich hatte über 1000 Seiten in Rumänien geschriebenes Theater bei mir und habe mit Hilfe einiger Freunde begonnen, Stücke wie „Die Pferde am Fenster“ oder „Der zum Tode verurteilte Zuschauer“ zu übersetzen. Dann merkte ich, dass ich auch direkt auf Französisch schreiben könnte, trug aber immer Sorge, dass meine Texte von einem unabhängigen Auge korrigiert wurden (ich kannte schon eine Menge befreundeter Schauspieler und Regisseure). Paris wurde ab 1987 die dritte Stadt meines Lebens nach Radautz und Bukarest. Etwa die Hälfte meines aktiven Lebens als Erwachsener verfloss in Paris, nachdem ich die andere Hälfte in Rumänien verbracht hatte. Ich ging weg, als am rumänischen Horizont nichts Gutes zu sehen war. Natürlich hätte ich 1989, nach dem Fall des Kommunismus zurückgehen können. Ich hatte aber diese Chance, in Paris ein neues professionelles Abenteuer als Journalist und eine Karriere als frankophiler Schriftsteller zu starten. Durch meine Tätigkeit bei RFI habe ich meine Bindung zu Rumänien bewahrt. Gleichzeitig hat mir die rumänische Sprache Flügel verliehen. Heute habe ich Übersetzungen in über 30 Sprachen und alle aus dem Französischen. Sehr stolz bin ich auf die Übersetzungen ins Persische, Arabische und Japanische ... Aber auch die ins Lettische, Isländische oder Türkische ...  Eine Sprache mit internationaler Zirkulation ist wichtig ...Aber ich glaube nicht, dass mein Weg ein Rezept für jemand sein könnte. Jeder hat sein Schicksal.

F.R.: Bei all dem Erfolg, dessen Sie sich in Frankreich und der Welt erfreuen, sind Sie der Muttersprache und ihrer Heimat treu geblieben. Sie sind ein Schriftsteller, der zwischen zwei Kulturen lebt, mit den Wurzeln in der Heimaterde und den Flügeln unterm französischen Himmel. Es gefällt mir, wie Sie sich definieren. Die Idylle von Radautz, die Sanftheit der Umgebung, Ihr Zimmer im Elternhaus, wo Sie sich in den Ferien einrichten, als „einzigem Ort, an dem Matei ein wenig durchatmet, entspannt vom Blumengarten und dem reichhaltigen Essen der Mutter“, kommt Ihnen als Kontrapunkt zum unruhigen, beschleunigten Leben im Adoptionsland entgegen. Ich denke, dass dieser Tapetenwechsel immer wieder wohltuend und energiefördernd ist. Nicht alle Exilanten hatten so viel Glück. Glauben Sie, dass ich übertreibe, wenn ich Sie unter diesem Gesichtspunkt als einen überaus glücklichen Menschen, natürlich im profanen Sinn des Wortes, einschätze?

M. V.: Ich denke nicht. Eine große Freude im Schriftstellerleben: Auf den Spuren meiner Stücke durch verschiedene Städte und Länder zu reisen. So entdeckte ich viele Regionen und Städte Frankreichs, die ich nicht unbedingt besucht hätte, wären meine Stücke mir nicht als Inszenierungen oder Lesungen vorausgegangen. Ich bereiste auch die Welt um meine Stücke zu sehen: Deutschland, Niederlande, Schweiz, Griechenland, Portugal, Spanien, Türkei, England, USA, Kanada, Japan, Marokko, Iran ... Ich wurde bestimmt unter dem Fernwehzeichen geboren. Es sind Reisen, gekennzeichnet auch von interessanten menschlichen Begegnungen, wahre Quellen geistigen Reichtums. Denn es ist eins, durch die Welt als Tourist zu reisen, und etwas anderes, Schauspieler, Regisseure und Zuschauer verschiedener Nationalitäten zu treffen. Französisch und Englisch haben es mir ermöglicht, überall in der Welt zu kommunizieren und die Intensität der Gespräche zu spüren.

F.R.: Ein rumänischer Kritiker der jüngeren Generation hat eines Tages auf Facebook aus Walt Whitman wie folgt zitiert: „Damit große Dichter existieren können, braucht man große Leser.“ Ich lasse ihn vorläufig unkommentiert, stelle ihn aber in Zusammenhang mit dem Textfragment auf der Rückseite Ihres beim Verlag Polirom in Jassy erschienenen Bandes „Der Romananfangshändler“: „Niemand wird noch an den Büchern anderer interessiert sein, wir werden unsere eigenen Romane lesen, bestellt bei den Self-Publisher-Verlagen. Wir werden alle Schriftsteller sein.“ Oder noch weniger, würde ich hinzufügen, nur Show-konsumenten. Bei der ersten Lektüre entlockt das obige Bild uns ein Lächeln, wir kosten die Ironie aus, dann aber beunruhigt uns die prophetische Fracht. Scheinbar sind wir schon im Sternzeichen der leserlosen Schriftsteller angelangt.

M.V.: Uns gefällt die Umwandlung vom denkenden ins absorbierende Gehirn, vom Erbauer zum Nachahmer …  Ich bin mir nicht sicher, dass der Aufruhr noch möglich ist in einer Welt, in der die Hirnwäsche immer effizienter wird und die zu dieser „Mutation“ eingesetzten Instrumente immer sophistischer werden, einfallsreicher, subtiler … Die Mediendiktatur hat der Diktatur des Showgeschäfts die Hand gereicht. Auf meinen Fiktionsseiten halte ich fest, dass nach einigen Jahrzehnten ein Dostojewski lesender Mensch, es riskiert zum Lobotomiepatienten gestempelt zu werden. Denn ein Mensch, der liest, schaut nicht mehr fern, wird also resistent, ein indirekter Oppositioneller des Medienimperiums. Mein letztes, bei Cartea Românescă veröffentlichte Buch „Der Mensch, aus dem das Böse extrahiert wurde“ enthält drei Stücke, die eine Analyse der Art und Weise, wie der Mensch Schritt für Schritt seine Werkzeuge zum Verstehen der Welt, aber auch die seiner Zukunftssicherung zerstört, sind. Ich will nicht pessimistischer als Cioran sein … Wer konnte sich aber beim Fall des Kommunismus vorstellen, dass die folgende große Gefahr der Menschheit der Integralismus sein wird. Es gibt Lösungen, damit wir uns nicht von Moden verblöden lassen, von Modellen, zahlreichen Formen des Dilletantismus, die nicht nur in der Politik gedeihen, sondern auch in der Kunst. Wenn ich dem Menschen nicht zutrauen würde, dass er sich über die Mittelmäßigkeit erheben kann, würde ich keine Literatur mehr schreiben. Übrigens sage ich bei Gelegenheit den Jugendlichen von heute, sie sollen zu den großen Werken der Weltliteratur greifen, klassisch oder modern, wenn sie etwas von dem menschlichen Abenteuer und der Psychologie des Menschen verstehen wollen: Wenn Ihr etwas von der amerikanischen Gesellschaft verstehen wollt, lest Philipp Roth oder Jonathan Franzen. Um den Puls der englischen Gesellschaft zu spüren, muss man Johnatan Coe lesen.

F.R.: Also Literatur als Rettungssteg des Rattenmenschen, der appetitlich in den Sümpfen des Bösen herumwühlt. Einige Titel Ihrer Poesiebände sind selbst ein Verheißung: „In der Nacht wird es schneien“, „Die Stadt mit einem einzigen Einwohner“, „Der Weise von der Teezeitstunde“...

M.V.: Mathieu Caratin, der Held meines Romans „Die vorbeugende Unordnung“ gesellt sich zu den Studenten des Konservatoriums aus Avignon, die lernen wollen, wie man Gedichte liest: „Lernen, wie man Gedichte liest, heißt nicht nur, ein Gedichtbuch zu öffnen und daraus zu lesen … es bedeutet, dich selbst dem Gedicht zu öffnen, dich von ihm überfallen zu lassen, aber es auch dort zu suchen, wo es sich versteckt, in deinem Umfeld, aber auch in deinem Wesen …, ja, die Poesie lebt überall, in Gegenständen und in unseren Gesten …, weil wir aber blind sind, verpassen wir diese Perlen, dieses Fragilitätsglitzern, diese Schwärme poetischer Zeichen, diese Konstellation natürlicher Poeme …“

F.R.: Auf der Theater-Europabiennale in Bonn hat sich Ihr Stück „Petit boulot pour vieux clown“ eines bemerkenswerten Echos erfreut, sowohl in den Medien als auch beim Publikum; Ihr Name stand auch auf dem Plakat des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin. Vor wenigen Jahren haben Sie an einem internationalen Tanz- und Musikfestival „Fadjr“ in Teheran teilgenommen, wo Sie ihre Werke „Die Frau wie ein Schlachtfeld“, „Drei Nächte mit Madox“ und die Inszenierung von „Die Pferde am Fenster“ in einem Underground-Stil gesehen haben. Die Geschichte des Kommunismus, erzählt für Geisteskranke wurde am Nationaltheater in Bukarest, aber auch in Deutschland, Frankreich, Italien und den USA gespielt. In Japan waren Sie öfter. Über ihr Stück „Die Pferde am Fenster“, in welchem Sie „die Manipulation des Individuums mittels der sogenannten großen Ideen – Vaterland, Patriotismus, Heldentum, Nation, Opferbereitschaft, Pflicht etc. - thematisieren“, haben Sie dort ausführlich mit dem Direktor der Truppe „Kaze“, Yoshinari Asano, diskutiert. Und erst kürzlich sind Sie vom gut bekannten Theaterfestival von Avignon zurückgekehrt, wo verschiedene Truppen vier Ihrer Stücke gespielt haben, unter ihnen auch Okzidentexpress. Sie wurden tatsächlich mit Fernweh geboren … Wie sehen Sie die Zukunft der Literatur, besonders der Dramatik und einschließlich des Theaters. Quo vadis ludus theatralis?

M.V.: Ich erinnere mich an den Besuch Eugène Ionescos vor langer Zeit in Teheran und an seine denkwürdige Aussage: „Wir müssen Theater dem Theater zuliebe machen.“ Wenn ich bedenke, welche Einstellung ich all die Jahre zum dramatischen Text als eine literarische Basis des komplexeren Phänomens der Aufführung hatte, wird mir bewusst, dass ich unwiderruflich ein Autor alter Mode geblieben bin. Ein altmodischer Autor glaubt wie ein Verrückter an die Kraft des Wortes, in die von einer Erzählung ausgestrahlte Botschaft und an die ästhetische Emotion. Schon seit Längerem stelle ich aber fest, von Mal zu Mal mehr, dass die Kunst des Theaterspielens sich von seinen literarischen Wurzeln löst. Wir werden bald zugeben müssen, dass der Theaterautor alten Stils und der Regisseur neuen Stils (genauer Bildregisseur) zwei verschiedene Berufe ausüben. Der Bildregisseur benötigt für seine Inszenierung keine Worte mehr, ja nicht einmal eine literarische Basis. Auf jeden Fall erzählt er keine Geschichte mehr, und wenn das Wort in der Aufführung vorkommt, ist es nicht mehr als billige Belustigung, Stammeln, Klangpretext, Anspielung an die artikulierte Sprache und an das Falliment des Denkens. Ich muss aber zugeben, dass ich oft emotional berührt war von ausschließlich auf Klänge, Bewegung und Bild setzende Vorstellungen. In einigen dieser Aufführungen existiert eine starke viszerale Botschaft. Ich war beeindruckt von diesen Energieausbrüchen, so wie wir in der Natur manchmal beeindruckt sind von einem Sturm, einem Erdrutsch oder einem Hagelregen. Es gibt Schauspiele, die daran erinnern, dass der Geist der Avantgarde nicht gestorben ist, das sind Aufführungen die eine Suche, eine Unzufriedenheit, einen Misserfolg erzählen …  Am Ende ist Platz für alle auf der großen Bühne der Theater- und Bildexperimente. Die einzige Philosophie besteht darin, nicht zu vergessen, dass … am Anfang war das Wort.

F.R.: Welcher Schriftstellerweg wäre weniger verschlungen, der des unabhängigen Einzelgängers oder der des einer Gruppe, einer Bewegung, literarischen Schule oder einer Strömung angehörenden Schriftstellers? Kann man im aktuellen Kontext von einer größeren Erwartung an die Schriftsteller, besonders die jungen, sprechen, sich politisch zu engagieren, Präsenz in der Agora der streitbaren Literatur zu zeigen, wie es Grass, Aragon oder Cardenal getan haben?

M.V.: in der Literaturbeilage des Le Figaro konnte man diesen Satz eines Kritikers lesen: „Es ist nicht gut, ein unbekannter Autor oder Debütant in diesen Zeiten zu sein und mit einem Buch auf den Markt zu gehen.“ Jeder Verlag setzt nur auf zwei oder drei Autoren, obwohl er viel mehr veröffentlicht. Dann folgt die Sarabande der Literaturpreise (sehr zahlreich in Frankreich). Für die Verlage ohne Preisträger droht die Saison zum Fiasko zu werden. Was benötigt ein Schriftsteller also noch außer seinem Talent? Vieles: Er soll im literarischen Leben aktiv sein, auch ein wenig Glück haben, er soll wenig schlafen, um gleichzeitig an drei Orten sein zu können, soll an Festivals und Kolloquien teilnehmen, wenn möglich auch geistreich sein, intelligent ohne Prahlerei, es schadet auch nicht rasiert zu sein, er muss unbedingt gebildet sein, muss sich mit allen Neuigkeiten in der Welt auf dem Laufenden halten, soll zumindest eine Sprache mit internationaler Zirkulation fließend sprechen und sich nicht entmutigen lassen, soll Schritt für Schritt den medialen Raum ausnutzen (sonst machen es die Schamlosen), er darf sich weder politisch noch ästhetisch einordnen lassen, sollte nicht wie ein Narr saufen, sich aber die Zeit gut einteilen, er soll keine moralischen Konzessionen machen, wie groß sein Wunsch zum Gelingen auch sei, und sich schrittweise einen inneren Kompass bauen, der ihm anzeigt, wenn ihm ein Kapitel, ein Theaterstück oder ein Gedicht gut gelungen ist … Ich höre hier auf, da ich die jungen Schriftsteller nicht erschrecken will.

F.R.: Was liegt zurzeit auf ihrem Schreibtisch? Oder sind auch auf dem Tisch Ferien? Und welche Schreibpläne haben Sie, was wollen Sie noch unternehmen und wohin wollen Sie noch fahren, durch welche Gewässer segeln? Wohl nicht auf dem gleichen, mit Zweifeln befrachteten Schiff, dessen bevorstehender Schiffbruch immer wieder aufgeschoben wurde: „Es sinkt so langsam / so dass wir nach einem menschenleben / immer noch einer nach dem anderen hinaustraten  / und den himmel betrachteten und das wasser maßen und mit den zähnen knirschten / und sagten das ist kein schiff / das ist ein … / das ist ein …“

M.V.: Ich glaube, einen gewissen Ausgleich gefunden zu haben, und schreibe weiter Theater in Französisch und Romane in Rumänisch. Mein nächster Roman wird wahrscheinlich geprägt sein von der Faszination, die der Süden Frankreichs, besonders die Provence, wo ich seit 25 Jahren hinpilgere, um zu schreiben, und speziell das Festival von Avignon auf mich ausüben. Ich will auch ein Stück mit asiatischem Thema schreiben. Vorläufig versuche ich, meine Eindrücke und Emotionen absetzen zu lassen, mich eben von diesem wundersamen Japan zu distanzieren, um mich nicht selbst vom Schein trügen zu lassen ...

F.R.: Ein treffendes Innehalten auch für unser Gespräch. Ich danke Ihnen, Matei Visniec!

(Aus dem Rumänischen von Anton Potche)

 

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