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Kritik

Der kreativen DNA auf die Sprünge helfen

Alan Rusbridger stellt die Medienwelt auf den Kopf und lernt nebenbei Chopin
Hamburg

Alan Rusbridger war von 1995 bis Mai 2015 Chefredakteur und Herausgeber des „Guardian“. Eine Aufgabe, die ihn, wie er selbst schreibt, fünf Tage in der Woche bis zu zwölf Stunden und mehr am Tag in Anspruch nahm. Darüber hinaus ist Rusbridger seit seiner Kindheit leidenschaftlicher Hobbypianist. Die Idee, sich binnen eines Jahres die Chopin Ballade Nr. 1 in g-Moll, Opus 23 anzueignen und öffentlich vorzutragen – ein selbst für Profis komplexes Stück –, kam ihm bei einem Klavierseminar im französischen Lot-Tal. Gary, ein Kneipenbesitzer und Taxifahrer aus Manchester, hatte die Ballade scheinbar ohne größere Anstrengungen aus dem Ärmel geschüttelt. Rusbridger fasste daraufhin den Entschluss, das Stück im nächsten Jahr selbst spielen zu können. Und, als sei das nicht bereits genug, ein Tagebuch über den Lernprozess zu führen. Das war im August 2010. Da wusste Rusbridger noch nicht, dass ihm dank WikiLeaks und der Enthüllungsgeschichte über abgehörte Mobiltelefone durch die Murdoch-Presse eines der turbulentesten Jahre der britischen Mediengeschichte bevorstehen würde. Sein Tagebuch ist somit nicht nur ein Werkstattbericht der eigenen musikalischen Bemühungen; es ist auch – und man könnte sagen: zuvorderst – eine Innenansicht des „Guardians“ sowie der gesamten Presselandschaft in Zeiten des tiefgreifenden strukturellen Wandels.

 

 

Rusbridger ist Medienprofi. Daher sollte man sich nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen. Sein sympathisches Streben, die eigene Kreativität jenseits der Treffmühle des Chefredakteurspostens zu fördern, kann zugleich als programmatische Ansage verstanden werden. Schließlich war es Rusbridger, der mit der Neuausrichtung des „Guardian“ die Verwebung von professionellem Journalismus und Amateurmeinung stärker als alle anderen Zeitungsmacher vorangetrieben hat. Mit der Einführung des Web-First-Prinzip, mit dem der „Guardian“ als erste renommierte Tageszeitung seine Beiträge zuerst online stellte, bevor sie in der Printausgabe erschienen, hat Rusbridger eine Plattform geschaffen, auf der die Trennung zwischen Meinungsmacher und Meinungsrezipient sukzessive aufgelöst wurde. Dahinter steht die Idee des Amateurs, der Großes leistet und so den Journalismus bereichert. Die Frage, ob dieser Transfer auch in der Musik funktioniert, ob professionelle Pianisten Rusbridgers Streben – wenn schon nicht nach Perfektion, so doch nach musikalischem Anspruch – anerkennen, ist ein Teilaspekt seines Balladenprojekts.

Dabei kommt Rusbridger seine herausgehobene Stellung zugute – und er scheut nicht davor zurück, reichlich Gebrauch davon zu machen. Mit Daniel Barenboim und Alfred Brendel diskutiert er die technischen Tücken der Ballade; mit Condoleezza Rice wird die entspannende Wirkung der Arbeit an einem komplexen Stück erörtert, wie hoch auch immer die Belastungen des Alltags gerade sein mögen; und führende Neuromediziner informieren über die positiven Auswirkungen der musischen Beschäftigung für das Gehirn, unabhängig vom Alter oder Bildungsstand der musizierenden Person. Eingeübt wird die Ballade Stück für Stück mit erfahrenen Konzertpianisten wie Murray Perahia, Lucy Parham oder Noriko Ogawa. Rusbridger bemüht sich erst gar nicht den Eindruck zu erwecken, hier versuche ein gewöhnlicher Musikinteressierter ein neues Stück einzustudieren. Vielmehr ist er stolz auf sein weitschweifiges Netz an Kontakten und Freundschaften, das er dem Leser nur allzu gerne vorstellt, selbst wenn der musikalische Bezug in manchen Fällen allenfalls indirekt ist („Ich sitze neben Cherie Blair und ihrem Sohn, der stolz erzählt, er lerne Geige, Klavier und Posaune.“). Rusbridger weiß, dass er klüger, begabter und schneller ist als die allermeisten seiner Mitmenschen. Natürlich würde er das so direkt nie sagen; so recht zu verbergen vermag er es aber auch nicht.

Wenn es möglich ist, versucht Rusbridger in seinen vollgepackten Arbeitstagen 20 Minuten für das Üben an der Ballade freizuschaufeln. Immer gelingt ihm das freilich nicht. Zu dringlich ist das Tagesgeschäft beim „Guardian“, wo sich die Ereignisse im Verlauf des Jahres 2011 überschlagen. Mit Julian Assange gilt es die Details der Veröffentlichung der WikiLeaks Dokumente zu koordiniere (zusammen mit „Spiegel“ und „New York Times“). Parallel arbeitet die Zeitung mit Hochdruck an einer der größten Enthüllungen der britischen Mediengeschichte, den illegalen Abhöraktionen von unzähligen Mobiltelefonen durch Reporter der „News of the World“, die am 10. Juli 2011 – nach 170 Jahren Zeitungsgeschichte – ihr Erscheinen einstellen muss („Das ist einer der stärksten Momente meiner Chefredakteurslaufbahn.“). Hinzu kommen Vorträge auf der ganzen Welt sowie unzählige Strategiesitzungen zur digitalen Zukunft des „Guardian“.

Ganz zu schweigen von den außenpolitischen Krisenherden. 2010/11 war ein Jahr der Revolutionen, Kriege und Aufstände im Nahen Osten, welche von einer allzu optimistischen Presse schnell mit dem Begriff des „Arabischen Frühlings“ tituliert wurden. Im März 2011 erreichte Rusbridger die Nachricht, dass ein Mitarbeiter des „Guardian“, Ghaith Abdul-Ahad, in Libyen entführt worden sei. Kurzentschlossen reiste er über Kairo nach Tripolis, um mithilfe diverser Vermittler – inklusive einer suspekten PR-Dame aus den USA, die im Auftrag des Gaddafi-Clans agiert – die Freilassung des Kollegen zu erwirken. Das gelang, und in letzter Minute vor Einsetzen der Luftangriffe gegen die libyschen Stellungen wurde der Trupp nach Istanbul ausgeflogen – in der Privatmaschine des türkischen Präsidenten, wie Rusbridger nicht zu erwähnen vergisst.

So spannend der Bericht der Befreiungsaktion auch ausfällt, hier stößt Rusbridgers Projekt der Vernetzung von „Noten und Nachrichten“ an Grenzen. Die Darstellung der eigenen Person, die im „leergefegten Restaurant“ im vom Bürgerkrieg zerstörten Libyen die ersten Seiten der Chopin-Ballade spielt, wenige Stunden vor Beginn der Luftangriffe, mutet befremdlich an. Es riecht nach Inszenierung. Es ist die Pose des unheroisch Heroischen, in der sich Rusbridger zu gefallen scheint, die befremdet. Und es wird nicht besser, als Rusbridger wenige Zeilen weiter eine Verbindung zu Roman Polanskis Film „Der Pianist“ herstellt, in dem Władysław Szpilman in einem verlassenen Haus inmitten des zerstörten Warschauer Gettos die besagte Chopin Ballade anstimmte.   

Unnötig zu erwähnen, dass Rusbridger nach 16 Monaten (ja, er hat ein wenig überzogen) die Ballade beherrscht und in einer Weise vorzutragen vermag, die auch ein Kennerpublikum beeindruckt. Unter welchen Bedingungen er sich das beigebracht hat, nötigt Respekt und Anerkennung ab. Und gibt Anlass darüber nachzudenken, ob man die eigene Zeit, die man Tag für Tag mit den unzähligen kleinen Sinnlosigkeiten des Alltags verplempert, nicht besser nutzen könnte. Doch so bemerkenswert das alles ist, die Zusammenführung von Chefredakteursalltag, Zeitungsvisionär, Abenteuerjournalist und Chopin-Liebhaber in einem Buch funktioniert am Ende nur bedingt. Und hinterlässt beim Leser das Gefühl, dass sich hier einer in der Pose des Dauerproduktiven (und Kreativen) ein wenig zu sehr gefällt.

 

 

 

 

Alan Rusbridger
Play it again – Ein Jahr zwischen Noten und Nachrichten
Aus dem Englischen übersetzt von Simon Elson
Secession
2015 · 480 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-905951-69-1

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