Essay

Ochlokratie

Hamburg

Bei Aristoteles und Polybios findet sich ein Begriff, der die politische Misere des Rechtsrucks faßt: Ochlokratie. In der Demokratie ist das Volk – der demos – der Souverän. Ihm gebührt Respekt, seine Wahlergebnisse haben nicht nur formal eine Gültigkeit, die man nicht leicht verwerfen kann; und: wogegen würde man diese Legitimation von Macht denn tauschen? Kein Respekt aber gebührt dem ochlos, dem Pöbel. Man kann ihn zu integrieren versuchen, aber Kniefälligkeit oder seine Hinnahme als Parallelgesellschaft, deren Mitglieder eben auch wählen, wenn sie nicht in ostdeutschen Gebieten oder nun auch Provinzstädten Oberösterreichs als Bürgerwehr umherziehen, zu marodieren bereit, ist falsch.

Manche dieser Wähler genießen im Grunde die Zerstörung dessen, was sie überfordert – wie aggressiv werdende Schüler, denen die Begabung abzusprechen zwar keiner wagt, die ihnen aber so deutlich fehlt, daß sie ihnen auch keiner abzusprechen braucht. Dumpf ahnen sie es; und weil es doch nur diese dumpfe Ahnung ist, während sie sonst gehätschelt und penetrant wertgeschätzt werden, stellen sie die Maßstäbe in Frage. Vielleicht zurecht, wenn sie so versteckt werden – oder durch Kompetenzen ersetzt, die den Automaten zum Ideal nehmen, das Nachäffen der Handlung, worauf theoriefreie Mimesis zur Intelligenz verklärt wird..?

Andere Wähler haben auch Angst und irren umher, bis eine Führergestalt ihnen Antworten gibt. Sind die Antworten dumm, müssen die Fragen es auch gewesen sein, so suggerieren ihnen ihre Rattenfänger. Während die Destruktiven es genießen, wenn die Komplexität der Frage ignoriert wird, beruhigt es diese Klientel. Beim letzten Rechtsrutsch in Oberösterreich taten die Rechten so, als könnte man die Asylsuche verbieten, indem sie Flüchtlinge recht pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge denunzierten. Ferner sollte die Regionalregierung Agenden österreichischer und europäischer Ebene lösen, so suggerierten die Plakate, die Migration verdammten. Eine Lösung bot die Rechte nicht. Bloß Losungen. Aber das sedierte manches Gehirn.

Und natürlich gibt es schließlich die Profiteure: die, die nicht nur die Niedrigkeit dessen haben, der aus Sozialneid auf die Ärmsten herabsieht, um hernach sich mit diesen als wie sie Betrogener zu finden, sondern jene, die für Parteiförderungen, für das Geld derer, die an der rechten Idee der flat tax Gefallen finden, weil sie die Reichen begünstigt, und für jene, denen als Vertretern des Großkapitals laute Parolen gegen Ausländer allemal lieber als differenzierte Diskussionen über soziale Gerechtigkeit sind, immer wieder Logik und Anstand gleichermaßen verraten – wie auch ihre Klientel, die Zyniker des Großkapitals.

Selbst wenn man überzeugter Nationalist wäre, wäre doch eine Politik, die sich nationalistisch um globale Allianzen bringt, also lautstark zuletzt bagatellisiert, zuletzt das Ende des Politischen – und die vollständige Privatisierung... Hier endet die Lüge dieser Parteien immer. Der Betrug ist bestimmten Ideologien inhärent.

Man hört stattdessen aber die obszöne These, wonach die Asylanten den Druck auf das System so erhöht hätten, daß es zum Rechtsruck kommen mußte – eine Schuldumkehr, wie sie dümmer und eben auch unanständiger kaum denkbar wäre. In Wahrheit wäre dieses Symptom einer Politik, die zwar einerseits durch Waffenexporte Gewinne zu lukrieren gestattet, aber mit deren Folgen nichts zu tun haben will, eher Anstoß zu einem Denken über nationale und europäische Grenzen hinaus, wider das das rechte Ausspielen also Armer gegeneinander, die einander in den USA schon fast einen Bürgerkrieg liefern, während es hier die asozial Gewordenen sind, die man aufeinander und eben gegen Migranten aufhetzt, wiewohl die exportierte Gewalt sich natürlich woanders zuträgt, ebenfalls Menschenopfer auf dem Altar eines degenerierenden Kapitalismus.

Ebenfalls hört man, die anderen Parteien hätten das Desinteresse an sich verschuldet, das aber nicht Nichtwähler, sondern diese politische Rechte generiere. Chantal Mouffe sagt im Standard-Interview, das „There is no alternative”-Thatchers (und man darf Merkels „Alternativlosigkeit” ergänzen) habe dazu geführt, daß viele nur rechts vom System noch Bewegung erkennen wollen:

„Da gibt es zwei mögliche Reaktionen: Entweder verlieren sie das Interesse an Politik, oder sie fühlen sich von Rechtspopulisten angezogen. Denn die sagen: Ja, es gibt eine Alternative.”1

Sie konzediert: „Was eigentlich nicht logisch war.” Doch Bewegungen wie Occupy in New York attestiert sie, daß diese „nichts mit Politik am Hut haben.” Dieser Politikbegriff ist verengt; aber noch kurioser ist, daß die (Partei-)Politik also zum Vorwurf gemacht bekommt, daß sich Menschen nicht mehr für sie interessieren, als wäre es nicht das politische Interesse, das sich in alten oder neuen Parteien kanalisiert und artikuliert. Fehlt es – oder wird erdrückt von Psychopathologien wie irrationaler Angst oder soziopathischen Zynismen verschiedenen Zuschnittes –, so ist das nicht so unmittelbar die Schuld der Großparteien, die erodieren.

Es ist hier wie mit dem dritten Gerücht. Denn man hört nun schließlich allerorten, daß die Wähler zu schlecht informiert würden. Zum Beispiel hierüber, daß den rechten Ideologien eine Lüge inhärent ist. Stimmt nicht. Doch viele lügen lustvoll weiter, sagen, was die Rechten verbreiten, als Mantra für die allzu fragile oder aber einfach verkommene Seele auf. Manche profitieren schlicht. Oder: Stimmt. Aber es stimmt nur für manche. Jene, die aus Unwissen „falsch” wählen, kann man aber nur bedingt umerziehen. Und es wäre vielleicht ein weiterer Schritt von der Demo- zur Ochlokratie. Demokratie impliziert vielleicht, daß Wähler sich selbst informieren. Können oder wollen Sie dies nicht, muß man konstatieren: Einer Demokratie, in der man Wählern Information hineindrücken muß, ist der Souverän abhandengekommen.

Es wird vonnöten sein, den Menschen wieder als Handelnden – und zwar verantwortungsvoll Handelnden – zu entdecken. Vielleicht an Illusionen gekoppelt, an Narrative wie jene der Bibel. Denn der Mensch „geht zugrunde, wenn [...] (er) immer zu den Gründen geht”, wie just Nietzsche schrieb; es mag gerade für das zoon politikon gelten, für den Menschen, der ohne Illusion zum Soziopathen werden kann. „Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils (,) wer sie sind” (Hannah Arendt) – nicht als sprachlose Objekte einer Zurichtung zu dieser oder jener Kompetenz. Doch wo sind diese Handelnden und Sprechenden, diese Protagonisten, die nicht in angeblichem Informationsmangel oder den beschriebenen Psychopathologien nachgerade verschwinden?

Der Souverän, der das Volk (demos) sein kann, ist womöglich in großen Teilen einem ochlos gewichen. Wenn dem so ist, schafften wir der FPÖ und ihresgleichen zuvorkommend in den letzten Jahren oder Jahrzehnten die Demokratie womöglich zum Teil bereits ab. Vor rund 50 Jahren sagte Günther Anders, daß eine orale Phase es sei, die unsere Gesellschaft ereilt. Mündigkeit wäre wieder zu advozieren – die politische Krise als eine der Intelligenz, der Bildung wahrzunehmen. Heute infantilisiert sich die Gesellschaft, man kann Adornos Erziehung zur Mündigkeit  leicht als verstaubt denunzieren und Postmans Buch Wir amüsieren uns zu Tode schrecklich plakativ finden, sein Duktus zeigt, daß es Klage und Symptom ist, wo Adorno symptomatisch nicht verstanden würde; doch die These ist stichhaltig: Unsere Gesellschaft gibt das preis, was die Aufklärer erstritten. Und zwar, obwohl diese zugleich bewiesen, daß Aufklärung nicht (nur) eine Sache des Systems ist, sondern derer, die es gestalten wollen, aber sich gegenwärtig in es fügen, als könnte man in kurzen Nachrichtensendungen zwischen soap operas und Werbeblöcken (oder wird bei Nachrichten wie Werbung switching betrieben?) aufklären sich lassen...

 

 

Was fehlt? – Provokation. Woher sie kommen wird? Wird sie kommen? Müssen wir sie nicht leisten?

Wer indes rechts wählt, vor dessen geheiligtem Wählerwillen muß und darf man nicht buckeln. Den Respekt, den die angeblich ausgegrenzten Rechten einfordern, verdienen sie nicht – jedenfalls nicht als Rechte. Mitleid, Nachhilfestunden oder Verachtung für ihre Verachtung, dies schon eher. Und Einspruch, unermüdlich. Wer nicht widerspricht, bleibt ungehört, während das zu Beeinspruchende unerhört ist.

„Ruf’s, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.” (Paul Celan)

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