Essay

Nachdenken über die Musik von Serres

Hamburg

Ein Blick zurück auf ein Buch, das ich nicht lesen wollte:

„Die Musik wird aus dem Rauschen geboren: das erste menschliche Lallen, die erste Information im Chaos. Aus seiner Quelle entsprungen, lässt dieser Strom der Arrangements und Kombinationen, der in Melodien und Harmonien zur Sprache hinabfließt, die Negentropie anwachsen. Je höher die Ordnung ist, die ein System aufweist, um so sparsamer an Signalen ist seine Beschreibung und umso mehr nimmt die Information zu. Kennen Sie etwas anderes von Menschen Gemachtes, das sich wirksamer der Unordnung entgegenstellen könnte, oder sie besser  aufnehmen, verwalten und schließlich verändern und beherrschen könnte?“ Michel Serres.

Dieser Satz erschlägt mich – nicht weil er ein umfassendes erklärendes Potential besäße, sondern weil er zeigt, wie unser Denken mit Begriffstiefen operiert, die anthropozentrisch sind. Wenn man über Serres Denken berichten will, muß man es hinterfragen, und tut man dies konsequent bis in die Begriffsbilder, zeigt sich, das sie sich aus konventionellen Elementen aufbauen, die nicht genug hinterfragt werden/worden sind, an der Grenze zu einer weiteren bloßen Behauptung.

„Die erste Information im Chaos“ - diese Darlegung geht davon aus, daß „erste“ Information etwas sein müsse, das vom Urgrund abweicht, der an sich chaotisch ist. Ich würde mir schwer damit tun eine Urszene, die ich nicht überblicken und erklären kann, als „chaotisch“ zu diskriminieren. Aus meiner Sicht muss alles Dasein auch im Durcheinanderzustand als speziell geordnet betrachtet werden, das heißt: auch der Durcheinanderzustand hat Formmerkmale, die erst das Entstehen anderer Formmerkmale ermöglichen oder zumindest begünstigen, also Informationen, deren Auslesung eine nächste Information herauslocken und ausflocken kann. Da ist Schwerwerden ein Beispiel, da gibt es Bewirken qua eigener Existenz, also ein Zungenschnalzer, der Luft anvertraut, dem Umgebungsmedium übergeben als Spur meiner Agitation.

Das Gleichsetzen von Rauschen mit Chaos und akustischer Information als „erster Information“ ist ein poetisches Bild, das ordnen und betonen will, Ton und Melodie als formale Offenbarung etabliert. Aber: Wenn ich über Menschen rede, die ihren ersten Laut von sich geben, dann rede ich von Wesen, die gerade dem Erstickungstod entkommen sind.

„Der Spalt, das ist der Ausgangsort, die Enge des Beckenrings der Durchgang, an dem sich der Kopf reibt, wenn der fötale Passagier die Frau verläßt. Vermutlich ist es dieser qualvolle Vorgang, auf den sämtliche Ängste des arrivierten Affen, wie Arnold Gehlen den Menschen nennt, einmal zurückgehn.“ schreibt Durs Grünbein in seinen Neun Variationen zur Fontanelle. Es ist mehr als ein Vorgang,  dieses getriebene Geschehen um eine Höhlung, das Klaffen und Wundsein eines Moments: aus einem Fisch muß jetzt ein Luftatmer werden, er reißt das Maul auf in Erwartung des nahrhaften warmen Fruchtwassers, das bislang die Lungen durchströmte und findet nichts. Statt dem zähen Öl, das seine Lungen fettete, ist plötzlich alles leicht und leer, ein grausames, unfaßbares Nichts antwortet dem Schluckenwollen, widerstandslos gleitet es in den Körper beim Versuch zu atmen, das gefühlte Fehlen wird zur Bedrohung, die Angst vor dem Ersticken wird zum Schrei, das grelle Milieu der Freiheit kühlt die Haut und fühlt sich an wie eine Katastrophe. Ab jetzt ist Schluß mit der Unsterblichkeit, wir sind gefragt und unser Überleben ist angesagt.

Erste Informationen sind in diesem Beispiel schon längst da und verarbeitet. Durch die Bauchdecke hat der kleine Mensch Musiken und Motorräder murmeln gehört und alle Welt als dumpfe Vibration erfahren. Bevor er lallt, weiß der Mensch schon Welt und kennt Musik, weil Hören ein spezielles Lesen ist, das er brauchen wird, sobald er eine eigene Adresse hat, entwickelt er es schon im Dunkel. Das Lallen ist ein andres Wunder, nämlich der Sprache, was meint: ich äußere mich, ich gehe nach draußen und die Luft trägt mich fort, obwohl ich daliege und nichts bin als ich selbst. Ich kann der Welt etwas sagen – ich muß nicht nur hören, ich kann ein- und sie überstimmen. Ich bin da.

*

Das Rauschen ist bereits Musik. Es teilt mit, daß eine große Menge von Dingen geschieht, und wenn wir fähig wären Elektronen zu hören, hörten wir ein ziemlich pfiffiges Konzert geschehender Welt. Es rauscht für uns, was für ein Atom ein konzertantes Opus magnum ist. Immer wieder verwechseln wir die von uns erfasste Perspektive mit dem Antlitz der Welt.

Wir reden von einer Fähigkeit der Welt Informationen abzulauschen, die es gibt, weil es Luft gibt. Wir hören weder Licht noch Elektrizität, sondern wir lesen Schallwellen, übersetzen bewegte Luft. Erstaunlich genug, wie komplex die Informationen beschaffen sein können, die in einer Schallwelle verbreitet werden und wie diese Informationen transformieren.

„Je höher die Ordnung ist, die ein System aufweist, um so sparsamer an Signalen ist seine Beschreibung und umso mehr nimmt die Information zu.“

Auch hier gibt es Einwände, vor allem bei feinkörniger Betrachtung. Wie mißt man die Ordnung eines Systems – an der Komplexität der Regeln, von denen es erzeugt wird? Am Aufwand, den man betreiben muß, um das System zu installieren und zu stabilisieren, oder am Aufwand, den man betreiben muß, die Regelhaftigkeit des Systems zu verstehen und zu beschreiben?

Funktioniert das System mit einem sehr einfachen Regelsatz und kann über wenige Parameter beschrieben werden, so ist deswegen das phänomenologische Resultat dieses Systems nicht unbedingt ein schwarzweißes, sondern es kann Geschehen aufzeigen, die nur sehr schwer im Detail zu beschreiben sind. Viele „chaotische Reaktionen“ entwerfen phantastische Muster und beruhen auf einfachsten Vorschriften.

Wir setzen jemanden an einen Tisch und sagen ihm, er soll dort sitzenbleiben und mit einer Hand, in der er einen Filzstift hält, direkt auf ein großes Blatt Papier die Bewegungen auf phantasievolle Weise „übertragen“, die er mit der anderen Hand macht, ob er sich an der Nase juckt oder vor sich hintrommelt. Eine sehr einfache Regel, die ein Gekritzel erzeugt, das vom unbewußten Verhalten des Probanden abhängt und das niemand wird deuten können, geschweige denn beschreiben, was genau alles passierte, als dieser oder jener Strich entstand. Das Resultat sieht aus als sei es rein vom Zufall bestimmt.

Ist es aber nicht. Es hat eine klare, aber eher kuriose Handlungsanweisung im Hintergrund. Hinter der chaotischen und vermeintlich geringen Ordnung der Striche vermuten wir ein geringes Regelmaß, was heißt: man wird das identische Resultat nicht ein zweites Mal erzeugen können. Aber:  insofern ist das Resultat auch ausgezeichneter und mehr besonders als ein anderes. Die Informationsmenge, die ich aufwenden müßte, um jemandem die genaue Lage, Länge, Dicke der einzelnen Striche mitzuteilen, ist sehr hoch. Und die Informationsmenge, die hinter den einzelnen Strichen zu erforschen wäre, warum sich der Proband so oder so verhalten hat, die feinkörnige Geschichte, ist noch sehr viel umfassender. Wir mögen diese Komplexität nicht. Sie sprengt unseren Zeitrahmen und hemmt unser Vorankommen. Also ersetzen wir sie mit dem Grobkorn Zufall, der zusammenfasst, was nicht als Regel kompaktifiziert werden kann.

Wir setzen jemanden an einen Tisch und sagen ihm, er solle die Kerze abmalen, die im Unweit steht. Nun wird er einen großen Regelkatalog zur Beherrschung des Stifts abrufen, um etwas zu erzeugen, das dieser Aufgabe gerecht wird. Und die Einzelereignisse der Striche, deren „Gelingen“, werden ihn zusätzlich anleiten, weitere Striche auf bestimmte Art und Weise zu setzen. Das „geordnete“ Bild wird „konzentriert“ gefertigt, hat einen umfassenden Bestand an Regeln eigener Vorstellung und Fähigkeitsnutzung im Hintergrund, dem Resultat sieht man an, daß es nicht „zufällig“ entstanden ist. Wir sehen es als Beispiel hoher Ordnung.

Hinter hoher Ordnung steckt aus unserer Sicht hohes Regelmaß. Insofern ist das Resultat wiederholbarer, nachvollziehbarer als das geringgeregelte. Die pure Informationsmenge aber, die ich aufwenden müßte, um einem anderen die Lage, Länge, Dicke der einzelnen Striche mitzuteilen, ist genauso hoch wie beim ersten Beispiel, sofern der zeichnerische Aufwand vergleichbar ist in der Menge der Striche.

Die Vorschriftendichte, die die Anweisung: 'Male eine Kerze' aufruft, ist eine sehr hohe, automatisch begrenzende, und ich bekomme dann wahrscheinlicher für uns als „gleichartig geordnet“ ersichtliche Ergebnisse, als bei der kompaktifizierten Anweisung: Sitze am Tisch und male, was du mit der anderen Hand tust. Die eine Anweisung aktiviert ein scheinbar einfach strukturiertes Agieren, während die andere, das Kerzenzeichnen, komplexes zielbewußtes Agieren erfordert.

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Nun ist es kein Zufall, daß ich ein Beispiel gewählt habe, wo eine Person - von außen betrachtet - beinahe das Gleiche tut: am Tisch sitzen und den Filzstift auf dem Papier bewegen. Das System, das hier arbeitet, ist in nahezu allen Dingen identisch. Auch der Kerzenzeichner fasst sich an die Nase und kratzt sich am Kopf. Wo liegt der Unterschied?

Im unsichtbaren Zweck. Zweck erzeugt aus der Sicht des Bezweckenden eine höhere Ordnung als Zwecklosigkeit. Aus der Sicht eines Liebhabers des Abstrakten oder der écriture  automatique ist das Abbild aus Fall 1 jedoch womöglich wesentlich erregender als die olle abgemalte Kerze und in seinem Sinne eine präferierte Ordnung, die er spannender findet, weil sie von Erwartbarem abweicht.

Ordnung ist etwas Relatives. Der „geordnete Zustand“ ist der Zustand, dem wir die wahrscheinlichste Wiederkehr zuordnen, sobald es Regeln für ihn gibt (insofern ist der Durcheinanderzustand ein ordentlicher, seinen Regeln entsprechend!). Wir leben von der Regelerwartung. Der geordnete Zustand ist der von uns gewünschte, weil auf ihn Verlass ist. Ob Gezeiten oder Tag und Nacht-Zyklen, mit Regelhaftigkeit läßt sich nun mal rechnen, mit „ungeordneten Zuständen“ leider nicht. Wir können nun aber Gekritzel mit Kerzenbild nicht vergleichen, weil wir unterschiedliche Zwecke wirksam platziert hatten. Wir können ungeordnete Zustände niemals diskriminieren, sie gibt es, weil sie anderen Vorschriftenkatalogen entspringen und genau Resultat dieser Vorschriften sind, so genau wie ein Kerzenbild das Resultat einer Malvorschrift ist, ist Gekritzel das Resultat einer Malvorschrift oder eines Malvermögens.

Das Wort Ordnung referiert also dahin, daß wir die Komplexität von Anwesenheitsmodellen beurteilen, die unter Anwendung eines Vorschriftenkatalogs entsteht. Bestimmte Regeln erzeugen bestimmte Phänomene. Dabei ist das chaotisch Erscheinende das Ergebnis von wenig regelhaftem und das geordnet Erscheinende das Ergebnis von aufwendiger geregeltem Dasein.

Da das Einfachgeregelte eher unserer Vermutung eines Urzustandes entspricht, denken wir das Geordnete als Zustandegekommenes einer zusätzlichen, vom Einfachen wegwollenden Kraft, ob das im Vitalismus die Lebenskraft ist oder der ordnende Gott in den Religionen. Das Einfache wird zum bloßen Punkt und verliert alle Eigenschaften, diese kommen späterhin als Kräfte hinzu.

Was wenn aber das Einfache bereits Eigenschaften hat, die uns allerdings in den quantenmechanischen Ereignissen verborgen sind. Was, wenn bereits auf existentieller Stufe Eigenschaftlichkeit dadurch entsteht, daß in unserem Kosmoszusammenhang keine alternative Eigenschaftlichkeit würde überleben können und die „überlebenden Eigenschaften“ verantwortlich sind, für das, was wir Kräfte nennen. Das ist extrem dinghaft und prinzipiell reduktionistisch gedacht, aber woher sollen Kräfte kommen, wenn nicht aus der Tatsächlichkeit der Existenz und damit aus der Eigenschaftlichkeit?

So gibt es heute physikalische Überlegungen Licht nicht mehr als Welle zu denken, sondern als Schraube. Das öffnet viele gute Denkwege, beispielsweise wenn man Materie als ineinanderverschraubte Welt denkt.

Damit könnten wir auch den Zweckgedanken eleminieren (wenn wir das wollen): es entsteht genau das, was entsteht, weil Eigenschaftlichkeit regelt, was überlebt. Der mathematische Punkt gibt das nicht her, und die mathematische Null als seinem Partner auch nicht, weil wir uns hier zu einer rein quantifzierenden Betrachtung zurückziehen. Der Punkt benötigt Zusatzbedingen, die man ins Drumherum legt, damit etwas aus ihm wird. Er benötigt Kräfte. Wobei das aus unserer Sicht undeterminierbare Quant bereits als Ursache ausreicht mehr zu erzeugen als eine bloße Ansammlung von Punkten.

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Zurück: Was in unserem Zusammenhang wichtig ist, ist unsere Erwartung von Ordnung und unser Pochen auf Zweck. Hohe Ordnung macht wenig Musik.

Musik ist etwas, das genau die Regelerwartung durchbricht, das Freispiel und Schwebe erzeugt, wo sonst Ordnung (auch ungeordnete Ordnung) und Takt ist. Musik will Melodie und damit Unordnung, Singsang, versuchten Ton, subsong. Sie begeistert, wenn sie der Regelerwartung widerspricht und sich auf andere Weise schön zeigt, als wir es kennen. „Kennen Sie etwas anderes von Menschen Gemachtes, das sich wirksamer der Unordnung entgegenstellen könnte, oder sie besser aufnehmen, verwalten und schließlich verändern und beherrschen könnte?“ fragt Michel Serres. Kennen Sie etwas anderes ähnlich zweck- und erwartungsfrei Betriebenes als die Kunst, sollte er fragen.

Kunst allgemein ist nicht höhere Ordnung, sondern eigene Ordnung, erzeugt aus dem Willen zur Unordnung, der Freiheit zum Umordnen, der Absicht anders zu ordnen. Ein Klecksbild hat womöglich eine gleichhohe Informationsmenge wie ein Bild von Neo Rauch, wenn man die einzelnen Pinselsetzungen auflöst und per Koordinaten beschreibt, aber sie bedeutet etwas anderes. Und diese Bedeutung wird als Mehr an Ordnung interpretiert, obwohl es de facto nur eine „andere Ordnung“ ist.

Insofern kann – für mich -  die Bemerkung von Serres nicht stimmen: „Je höher die Ordnung ist, die ein System aufweist, um so sparsamer an Signalen ist seine Beschreibung und umso mehr nimmt die Information zu.“
Da ist der Laborgedanke. Was ich im Labor reproduzieren kann, hat weniger chaotische Grundbedingungen und kann einfacher beregelt werden, was dann im Hinterher auch als konkretere, „verwertbarere“ Information geschätzt wird.

Aber damit wird eine Bezweckung als Erhöhung ausgegeben, die Kryptizität verdreht wahrgenommen: die Signalzahl zur Systembeschreibung steigt auch bei abnehmender Regeldichte, sofern man die Laborsituation hinzunimmt (ich betreibe hohe Aufwände, um einfache Regeln überhaupt „sehen“ zu können), die Informationsmenge (wenn man die bloße mathematische Festlegung von Farbpunkten meint) ist identisch.

Wer von Negentropie, Ordnung, Information spricht, hat ein breites Feld anthropozentrischer Festlegungen vor sich, auf dem er sich zunächst positionieren muß. Das vermisse ich bei Serres. Immerwieder finden wir in den benutzten Perspektiven den alten Erhöhungsgedanken versteckt, Nivellierung, die so leicht zur Übertreibung und Anthropozentrik führt. Der Restwelt ist es absolut wurscht, ob ein Picasso mit 5000 Farbpunkten verrottet, oder eine von einem Schimpansen bemalte Leinwand mit gleichvielen Farbpunkten. Für den Wurm, den Springschwanz oder den Pilz ist eventuell das eine oder andere Element von größerer Bedeutung, das in der einen oder anderen Farbe chemisch verbaut ist, Kupfer oder Kadmium.

Und diesen Erhöhungsgedanken und diese Beweihräucherungsschriften, das Vergöttlichen und Indiehöhedenken ertrage ich nur noch schwer. Ich dachte als ehrfürchtig lauschendes Kind früher auch so und fühlte mich aber immer dann von diesem Denken erlöst, wenn ich gelungene Kunst genoß, bzw. wenn es mir gelang Kunst zu genießen, die mich nicht als eine ferne Landschaft erreichte, sondern als Regen im Gesicht. Das war meistens Musik. Sachen im Radio, wie Led Zeppelins „Whole lotta Love“. Das hat mich umgeblasen. Man kann sagen: gerade die Kunst befreite mich. Es ist toll Kunstwerke zu erzeugen, Bilder, Texte, Musiken, sie zu lieben, mit ihnen zu verschwimmen, poetisch unterwegs zu sein, selbstverloren oder ausgestellt, aber sie sind nichts Göttliches, nichts Außerordentliches, sondern eigenordentlich und damit eigentlich unordentlich.

*

Man sollte nicht allzuviele Rückschlüsse aus einem einzelnen Satz ziehen, aber etwas in mir klinkt sich (viel zu schnell) aus, sobald ich Hinweise finde, daß es dort ein Denken gibt, das  Begriffe und Formeln unreflektiert benutzt und mit ihnen jongliert.  Ich hör mir zu, wie ich nicht will: Spar dir dass, schalt ab, kuck weg! Hier gibt es keine Geschenke, nur Verpackungskünstler. So geht es mir mit Michel Serres' Musik.

Serres hebt ab auf den Gegensatz von hart und weich, und wie sich das in hard- und software verbindet. Die Welt wird auf dipolare Art und Weise konkret, Dinge sind da und informen, wenn man so will. Das Harte hat Aspekte, die als Form quasi eine Melodie schreiben, kein Dasein ist zu trennen in Fakt und Wirkung, sondern als Faktisches immer wirksam, formgebend, weil es ist, wie es ist, und damit als Ding an sich eine Legierung von Materie | Körper und Geist | Information.

Von diesen Gedanken kommend sieht Serres die auf Noten beruhende Musik mit der Informatik verwandt, als software des Körperlichen, als Handlungsbescheid oder Info über Vibration. Aber ich persönlich glaube, Musik ist mehr. Nicht erst seit ich field recordings von Bächen, U-Bahnfahrten und scheppernden Klima-Anlagen als Musik zu hören gelernt habe, weiß ich, daß Musik das ist, was ich als Musik empfinde genau dann, wenn die Außerordentlichkeit von Tönen und Geräuschen erkennbar wird, ihre Eigenordnung. Dann wird ihr formaler Aspekt für mich zum Schlüsselerlebnis. Musik ist das, was mich einlädt, von meiner Ordnung loszulassen = spielerisch andere Ordnung zu erleben.

„Ich höre in diesem Buch nicht auf zu sagen, dass die Musik, um geboren und vernommen zu werden, Praktiken benötigt, die den Algorithmen nahestehen, die das Funktionieren informatischer Maschinen erlauben, die selbst wiederum entfernte Verwandte der Musikinstrumente sind.“ schreibt Serres kurz vor seinem Resumée.
Eine Bemerkung, die das Instrumentale und Operationale betrachtet und m.E. nicht viel bringt, außer der Idee, daß wir Wirkungen mit Maschinen erzeugen = die verlängerte Hand der Technik nutzen. Ich kann nichts Sensationelle sehen, das Serres in dieser Feststellung betonen will. Und so geht es  mir in seinem Buch sehr oft. Ein kleines sprachliches Rendezvous, die Idee einer Analogie, die Ahnung einer Parallelität wird als Sensation abgefeiert, auch wenn es simple Konfigurationen sind. Sprachlich ist das oft schön, poetisch, fast altbacken, und dennoch reizvoll. Es fehlt mir das im Denken Neue, das Weiterführende, der Punk und der Jazz. Mir fehlen Begriffe wie Intuition, Spiel, Grenzüberschreitung, Kreativität. Es fehlt Revolution, denn es fehlt auch das ätherisch Weiche, das es noch gar nicht gibt (weil Zukünftiges herbeigespielt werden muß, nicht herbeigerechnet) und das wir für jede neue Musik brauchen. Notierte Musik oder aus Apparaten abgerufene Klanginformation gibt es nur, weil man diese komplette Weichheit konservieren will. Als Musiker weiß man um die Flüchtigkeit und, daß erst die überwundene Regel, die nicht erwartbare Wendung das Gefühl vermittelt, als Erzeuger vor allem Zeuge zu sein.

Als Hörer von field recordings kennt man auch das Rauschen, das für Serres durch ein Hinabsteigen erst erreicht wird. Alles Dezente muß erlauscht und damit durch „Eindringen in Tiefen“ erobert werden, obwohl es mehr ein Stillwerden und Gewahrwerden ist, ein Ankommen im verlängerten Moment. Hinabsteigen ins Rauschen – sich verlieren im Krisseln –  darin stecken Niveaus, „Herabstufung und Erhöhung“. Wenn es nur um Level ginge, aber es geht dabei immer auch um Segelboote.

So viele gefühlte Widerstände in mir, wenn ich Absatz für Absatz durchs Buch gehe. „Ich irrte von den menschlichen Sprachen zur Akustik und den vibrierenden Dingen, vom Weichen zum Harten. So gelangte ich zum Zauberklang der Dinge selbst.“ Michel Serres. Mag ja alles sein.

Serres' Philosophieren ist sprachgewürzt. Es kleidet wenig überraschende und wenig tiefe Gedanken in poetische Abhandlungen, ersetzt bekannte Begriffe mit Kuriositäten und unerwartbaren Zusammengängen. Richtig erregend ist das – für mich – dennoch nicht. Eher enttäuschend, weil oft in einer Grobkörnigkeit angelegt, die wir schon viel zu lange für ausreichend ok halten. Das ist schade.

Aus meiner Sicht kann die Poesie der Retter der Philosophie sein, weil sie a) keine Angst kennt und b) mehr als Bedenken. Etwas das zittert und spannend ist wie Jazz. Ein logisches Treiben konkret wie die Neue Musik, auch. Ein rauhes Anfassen von Wahrem, Punk, auch. Ich werbe dafür, daß wir freier werden in der Art unserer Notiz und springen können in jedes Dazwischen. Vielleicht sogar springen müssen, weil uns die Sprache selbst aufs Brett schickt und manchmal direkt über den Abgrund führt. Jeder riskierte Satz offeriert Chancen. Ein Formular reiht nur ein.

Die Musik von Serres spaltet mich. Auf der einen Seite bin ich positiv den Inhalten gegenüber und auch der prinzipiellen Methode, auf der anderen Seite ist mir alles zu sehr Orpheus und weiß-ich-schon, zu sehr symphonisch und aus klassischen Etüden gewonnen, deren Triumph die Routinen sind. Wahrscheinlich liegt es an mir, daß Poesie für mich etwas anderes ist, als Orpheus zu bemühen. Es gibt in mir kein Interesse Bildungsbürgertum nachzoovollziehen. Vollzug? Sowieso nicht. Zoo nicht.

Ich glaube, daß der Punk und der Jazz poetischer Philosophie ein gangbarer Weg ist und vielleicht sogar der notwendige, weil Poesie es schafft, Dinge in Kontexte frei zu stellen und nicht ins Labor. Dennoch gibt es die Gefahr, daß Philosophen durch hinzugewonnene Freiheitsgrade Texte verdichten, die nur noch in elitären Zirkeln akademisch verwurstet oder vertortet werden. Das halte ich für eine reale Gefahr. Man kann sich in Bedeutungsvielfalt verlieren, in der nur noch das Fragen eine Rolle spielt, Antworten aber verpönt sind, weil sie der unverbindlichen correctness des immerwährenden Rätselns ein Ende setzen würden. Man bleibt auf halber Strecke stehen, verliert sich im Offenen und scheut die Entscheidung.  Die Soziologin Maren Lehmann schreibt: „Entscheidungen – heikle Ereignisse – sind Zuspitzungen des Möglichen im Kontext des Unmöglichen.“ Vorhandene Ordnung wird riskiert, sobald ich neue Wege nicht nur sehe, sondern sie auch gehe.

*

Ich muß nicht studiert haben, um tanzen zu können. Dance as if you are alone. Mit dem Körper, mit dem Kopf, mit Worten und Farben, mit Klängen und Noten. Womit wir beim Bruder der Musik wären: Tanzen ist eigenschaftlich und es darf aussehen, wie es aussieht. Es muß nicht den Beifall der Umstehenden finden. Je mehr wir es beregeln, umso mehr Vorschriftenkataloge wir einführen, um so mehr zerstören wir es hin zum Erwartbaren. Der Tanzende ist in der Musik ein Antworter und kein Prediger, er ist ein Durchflußding, während der Bescheidwisser die Resultate kennt und ihnen die Kanäle baut.

Der Produzent an den Reglern des Mischpults ist der Manipulator und der Tanzende sein anvisiertes Ziel. Das ist in weiten Teilen die Musik unserer Zeit: aufs Maul geschaut und ausgerechnet, Fastfood am Drive-In, Muzak ausm Wummerkasten.

Poetische Menschen hören andere Musik. Freie Menschen hören und spielen Musik anders, als maingestreamt – aus freien Stücken, und merken es nicht einmal. Sie leben und lieben das Heikle, weil Neues riskiert und Altes geopfert wird, also auf Verläßlichkeit verzichtet wird, ohne ein sicheres Wissen um das Gelingen der Alternative. Es ist gerade diese Ausgesetztheit und Zerbrechlichkeit, das exponiert ausprobierte Bestehen, das uns erlöst vom Kreuz der Überlieferung und des Stillstands. Ohne den Mut zur Vagheit kann keine neue Konkretheit entstehen. Leben kann gelingen. Das ist eine wichtige Erfahrung, die sich intensiv unterscheidet von der Erfahrung: Leben trottet daher. Und genau diese Freiheitsmomente eröffnet die angewandte Poesie: es dürfen Dinge gelingen, die nicht vorhergewußt, vorherbestimmt und beschlossene Sachen sind seit je. Damit hält sich die Poesie dort auf, wo die Philosophie noch hin muß, nicht im unbestimmten, sondern im unbestimmbaren Bereich, der den Großteil seiner Eigenschaften verliert, wenn wir ihn (über ihn) bestimmen wollen. Das hat sie mit der Musik gemein. Errechnete Musik ist Muzak, nicht ohne Reiz, aber ohne Zier.

„Das nennt sich Musik, dieses immense Mehr, das die Welt umfließt und überschwemmt, die wimmelnden Lebewesen schaukelt, die Menschen erschüttert ...“ ziemlich angetrunkene Argumente, die Serres abschließt mit dem Hinweis: Die Philosophie singt den alltäglichen Skandal --- was ihn mir wieder sympathisch macht: die Philosophie liest dem Singsang des Daseins die Melodien aus und trägt sie musikalisch vor.

Und da liegt Serres Hauptunterscheidung zwischen hart und weich nicht weit von einem anderen, für das Outfit des Daseins wichtigen Gegensatzpaar, dem zwischen leicht und  schwer. Während das Davonfliegen als Licht ein ziemlich leichter Job ist, der mit der Unendlichkeit belohnt, braucht das Existieren als Masse einiges Mühen und das Überleben als Leben erst recht. So schaffen wir uns hardware, die uns das softe Überleben erleichtert. Die Moderne hat den anstrengungslosen Erwerb von Versorgtheit im Angebot und läßt sich das auch einiges kosten. Früher war das Fingerschnippen die Maximalgeste des Wohlstands, heute ist es ein Fingerwischen. Jeder Zeitreisende fiele auf die Knie vor Ehrfurcht, auf welche Weise der westliche Mensch seine Alltagszustände im Griff hat. Das Leichte hat das Schwere auf eine Weise ersetzt, die mich ausrechnet und überstimmt, ich werde rausgehalten, das Auto fährt bald von alleine. Ich werde zum komplett Autonomen durch Erleichterung, nicht durch Können und Beherrschung (und so verliere ich auch, während ich an Leichtigkeit gewinne, leider auch Können, Zuständigkeit, Verstehen, Widerstständigkeit). Der singende, jubilierende, erleichterte Mensch, der als lebender Engel Gottesglanz teilt, ist seit je der erstrebte: der in lichtvollen Sphären davonfliegt. Der Bodenständige, von der Schwere im Leben gehaltene, der die Wetter aushält, ist ja nur die hardware für den späteren Engelsgesang.

Eine riskante Äußerung würde jetzt sagen: ähnlich wie wir die Ausstattung unserer Geräte aufs letzte Gramm herabspecken, das in Kabeln oder Platinen oder Kunststoffgriffen verbaut ist, rechnen wir die Zuständigkeit der hardware Mensch herunter, sodaß es noch für Chorgesang reichen mag, aber für die große Oper des Lebens selbst nicht mehr. Die Musik der Moderne bedient sich der Schmusesongs und der Körperbeats, soft- und hardcore,  durch Klischees aufgeweichte Gehirne. Das Harte, das Widerständige, das sonst auch dem krassen Anblick widersteht, verkommt zum Füttertier, das in Spielen lebt. Das Weiche ist hier eigentlich Stroh und wir sind die Esel.

„Schreiben und Sprechen haben nur einen Wert, wenn sie mit einem Schlag wie eine festgezogene Segelleine jene Sprachschicht erfassen, deren Tiefe sich bemisst vom unwahrscheinlichen Sinn, der auf akustischem Fleisch, Konsonanten, Rhythmen, Zahlen und Bewegung abgelegt ist, bis hin zum Tiefstliegenden, wo dieses Schreien den Musikstamm berührt, aus dem sich die Äste aller Sprachen verzweigen, die brummenden Lebewesen und die Dinge selbst.“ Michel Serres (S.74)

Ich könnte mir vorstellen, daß dem Schreien ein „b“ fehlt.

Schreiben und Sprechen machen nur Sinn, wenn sie die Schichten des Unwahrscheinlichen berühren, in denen die Musik sich artikuliert als Daseinspuls. Wenn sie sich einlassen auf das Erzeugen von Melodie. Alles andere ist Text. Serres taucht hier ganz tief, bis zum Vibrieren der Dinge selbst, ins Plancksche Meer, um zu zeigen: es gibt eine Urmusik, wenn Musik das ist, was abweicht, spielt, überrascht, Unerhörtes tut. Die Welt selbst ist nicht nur fähig der Musik, sondern ist Musik - sie spricht und singt seit je.

Ein typisch philosophischer Wohlfühlgedanke. Ich laß ihn stehen und geh erstmal fort. Frühstücken und vielleicht eine Runde durch die nasse Kälte der Weinberge.

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