Drei Freunde und ein Todesfall
Eigentlich erzählt der Roman mehrere Geschichten. Sie spielen sowohl in China als auch in den USA und Yiyun Li weiß, wovon sie spricht, kennt sie doch beide Länder aus eigener Erfahrung. Die in Peking aufgewachsene Autorin lebt seit 1996 in den USA, wo sie für ihre literarischen Werke mehrere Preise, unter anderem den Pen/Hemingway Award erhielt.
Die Handlung des Romans spielt zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Da gibt es einmal das Jahr 1989 und die Neunziger, in denen die Teenager Boyang, Moran und Ruyu zusammen mit ihren Familien und der Studentin Shaoai in einem für Peking wohl typischen Wohnhof aufwachsen. Zum anderen beschreibt die Autorin das spätere, bewusst räumlich getrennte Leben der drei Protagonisten. Denn während Boyang als gutverdienender Entwickler von Immobilienprojekten in Peking bleibt, übersiedeln die beiden Frauen u. a. mit Hilfe zielstrebiger Heiraten bald in die USA, wo die in Chemie promovierte Moran in Wisconsin bei einem Pharmaunternehmen angestellt ist und Ruyu sich in Kalifornien mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. In seiner Struktur pendelt der Roman abwechselnd zwischen der Jugendzeit in China und dem späteren Leben der Erwachsenen. Aber deren scheinbar getrennte Handlungen laufen alle auf einen Fluchtpunkt zu, der in einem Ereignis aus der gemeinsamen Vergangenheit liegt. Denn obwohl Ruyu weder Moran noch Boyang nach ihrer Abreise noch einmal gesehen hat
wusste sie instinktiv, dass die zwei sie nicht vergessen hatten. Wäre es ein Trost für sie, wenn sie wüssten, dass auch sie sie nicht vergessen hatte?
Anlass für Ruyus Gedanken ist eine Mail des inzwischen vierzigjährigen Boyang, dass Shaoai gestorben sei, die Frau, die während der ganzen letzten Jahre die geheime, unausgesprochene Verbindung zwischen den dreien gewesen ist, deren jahrelanges Dahinsiechen sie verband und auf deren Tod alle gewartet haben.
Nur das Warten hatte sie zusammengehalten, das jetzt vorbei war und sie in eine Leere entließ, in der nicht einmal das schärfste Ohr hören würde, dass sie einst wie drei unverbundene musikalische Phrasen zum selben Stück gehört hatten.
Das wenig melodiöse Stück in der Realität war die Tatsache, dass die aufsässige und wegen ihrer Teilnahme an den Studentenunruhen am Tiananmen-Platz exmatrikulierte Shaoai vergiftet wurde und die drei Freunde, die Frauen mehr als Boyang, Schuld an dieser Vergiftung hatten.
Die Folge des von der Polizei nie ganz aufgeklärten Falles, in dessen Zusammenhang von Mord, Totschlag oder sogar Unfall gesprochen wird, ist für die Freunde ein Leben, bei dem sie in unterschiedlichen Nuancen die Einsamkeit als einziges Lebensmodell für sich sehen. So ist es nur logisch, dass alle ihre Ehen scheitern.
Vielleicht gab es in jedem Leben eine Grenze, die einen, einmal überschritten, eine Wahrheit sehen lässt, für die man zuvor blind gewesen war, und die die freiwillig gewählte Einsamkeit in die einzig mögliche Existenz verwandelt.
Dies denkt Moran, die wegen ihrer Freundlichkeit und Loyalität Ruyu gegenüber schuldig wird. Obwohl sie weiß, dass Ruyu eine Substanz aus einem Chemielabor entwendet hat, gesteht sie dies der Polizei erst dann, als die Spritze gegen das Gift Shaoais Gehirn nicht mehr retten kann. Die Folge ist ein totaler geistiger und körperlicher Verfall der jungen Frau.
Ruyu, die von sich selbst als geborene Mörderin spricht, hatte auch durchaus ein Motiv, Shaoai den Tod zu wünschen. Sie ist die nicht unbedingt sympathischste, aber gleichzeitig interessanteste und rätselhafteste Figur des Romans. Als Waisenkind von alten Tanten erzogen, glaubt sie anfangs eine von Gott erwählte Person zu sein und erlaubt niemanden, ihr nahe zu kommen. Während Moran sich verzweifelt um ihre Freundschaft bemüht, Borang sich in sie verliebt, will die ebenso von sich eingenommene Shaoai Ruyus zur Schau getragene Hochnäsigkeit brechen, indem sie sie, mit der sie ein Bett teilt, regelmäßig missbraucht.
Sie empfand ein seltsames Gefühl bei dem Gedanken, dass Shaoai damals eine junge Frau gewesen war; unschuldig sogar, aber war es wahre Unschuld, wenn sie dazu benutzt werden konnte – und dazu benutzt worden war -, eine andere Person zu beschmutzen? Und die schlimmsten Schlachten, dachte Ruyu, werden zwischen Unschuldigen geschlagen: Da sie nicht wissen, wie sie sich selbst schonen können, kennen sie keine Gnade mit anderen.
Aber auch die hartherzige Ruyu merkt, gewisse Dinge kamen unangekündigt wie Grillen. Sie entschließt sich, nach China und zu Boyang zurückzukehren. Als sie ihn fragt, ob sie seinen Frieden gestört habe, schüttelt Boyang den Kopf. Frieden sei das letzte, was er sich in diesem Moment wünschte. Auch Moran zieht zu ihrem schwerkranken Exmann zurück und will sich um ihn kümmern. So scheint es am Ende doch Schöneres zu geben als die Einsamkeit.
Die komplexe Handlung mit zahlreichen Figuren (sowohl das Umfeld im Wohnhof als auch die verschiedenen späteren Bezugspersonen bilden ein beachtliches Ensemble) wird von einem auktorialen Erzähler berichtet, wobei man als Leser manchmal nicht weiß, ob nun die Figur spricht oder es sich um einen Kommentar des Erzählers handelt.
So heißt es beispielsweise, als Moran rückblickend über die Liebesgeschichte zwischen Boyang und Ruyu nachdenkt:
Die erste Liebe ist manchmal gefährlich, reißt in einem Herzen einen Abgrund der Unsicherheit und Verzweiflung auf, oder sie wird nicht erwidert – wer kann schon auf die erste Liebe zurückblicken, ohne über die eigene Dummheit zu lachen oder angesichts der eigenen Gefühllosigkeit zusammenzuzucken?
Obwohl durch Shaoais Vergiftung der Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt ist, gibt es zwischen den beiden Teilen den Unterschied, dass das Leben der drei, mit Shaoai vier, Jugendlichen zusammenhängend beschrieben ist, während die Kapitel über die Erwachsenen immer vereinzelt dastehen. Daher sind für mich die Beschreibungen der Jugendlichen, ihr Leben zwischen Unschuld und Verfehlung, mit Schule und Freizeit, mit den wirtschaftlichen Sorgen ihrer Eltern und den geschickt und dezent eingestreuten Informationen über die damalige politische Situation in China der schönere und literarisch dichtere Teil des Romans.
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