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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Auf leuchtenden Pfaden

Zwei fragmentarische Erzählungen aus dem Nachlass Raymond Roussels
Hamburg

„Beschäftigt man sich genauer mit der Geschichte der Texte, die nach Raymond Roussels Tod publiziert worden sind, so scheint es, als hätte sie denselben Gesetzen des Zufalls und Geheimnisses unterlegen, deren Logik sein Leben und Schreiben bis ins letzte bestimmt hat.“ Das war 1989, als man zufällig in neun verstaubten Kartons den Nachlass Roussels unter dem Dach eines Pariser Möbellagers entdeckte und der Bibliothèque nationale übergab. „Nur wenige Tage nachdem man dort den Nachlass Guillaume Apollinaires entgegengenommen hatte.“ Doch während die Werke Apollinaires nicht nur in seinem Heimatland schnell und umfassend aufgearbeitet wurden, ging die (Neu-)Edition seines Zeitgenossen doch eher schleppend voran.

Zugegeben, Roussels Romane und Erzählungen fordern ein spezielles Lesepublikum. Eines, dass in hohem Maße am Sprachspielerischen, Experimentellen, mitunter Bizarren interessiert ist. Zu Lebzeiten fand er dieses Publikum kaum. Oder muss man sagen, das Publikum fand ihn nicht? Seine Bücher, die er sämtlich auf eigene Kosten und ausschließlich im Verlag Alphonse Lemerre veröffentlichte, blieben weitgehend unbeachtet. Die Inszenierungen seiner für das Theater bearbeiteten Texte erregten hingegen die Pariser Gemüter. Bei einer dieser Skandalaufführungen im Jahre 1912 saß neben Apollinaire und Francis Picabia auch Marcel Duchamp im Publikum. Dieser zeigte sich tief beeindruckt, beschloss, mit dem Malen aufzuhören, und widmete sich fortan seinen heute berühmten Kunstexperimenten aus Material und Mechanik. Auch auf die Kerngruppe der Surrealisten um André Breton wirkte Roussel nachhaltig und gilt mit seinem auf assoziativen Gleichlauten basierenden Schreibverfahren als Vorläufer der écriture automatique.

Dennoch scheint Roussel bis heute nur einem relativ kleinen Leserkreis bekannt zu sein. In Deutschland ohnehin, wo sein Werk unter anderem in Kleinverlag zero sharp erscheint, der sich bisher ganz der vergessenen französischen Avantgarde widmet. Es tut sich also etwas. Nachdem hier im letzten Jahr bereits Roussels Chiquenaude und andere Texte aus früher Jugend erschien, macht Übersetzer und Herausgeber Maximillian Gilleßen jetzt zwei Texte aus Roussels Nachlass erstmals auf Deutsch zugänglich. Beide Texte dürften dabei vor allem für Kenner des exzentrischen Franzosen interessant sein. Die circa 80-seitige Erzählung Die Allee der Leuchtkäfer stammt von 1914 und schließt in seiner Entstehung direkt an Roussels großen Roman Locus Solus an, der bereits 2012 in neuer Übersetzung in der Anderen Bibliothek erschien.

Ähnlich wie Locus Solus beginnt die Die Allee der Leuchtkäfer in einer Parkanlage, die zum Schloss des verstorbenen Bibliophilen Flavier gehört. Dieser hat testamentarisch verfügt, dass ein Jahr nach seinem Tod ein Turnier abgehalten werden soll. „Jeder Wetteiferer durfte dort das Ergebnis einer persönlichen Arbeit präsentieren, deren Gebiet von ihm mit völliger Freiheit gewählt werden konnte.“ Der Gewinner des Turniers soll dann zum Erben der opulenten Bibliothek werden. Einer der Teilnehmer ist der Antiquar Lannoy, der im Besitz des Buches Die Allee der Leuchtkäfer eines gewissen Antoine Laurent de Lavoisier ist. Die Geschehnisse in diesem Buch führen den Leser wiederum in den Park von Sanssouci und damit an die gemeinsame Tafel Friedrichs des Großen und seines Hofphilosophen Voltaire. Ähnlich wie in Locus Solus werden hier allerlei mechanische Erfindungen ausgetüftelt und vorgeführt. Schon kann Roussels erzählerisches Mäander sich wieder voll entfalten und führt seitenweise durch verschiedene Erzählebenen und -zeiten, die abrupt im 12. Jahrhundert enden. Hier versucht ein spanischer Geschäftsmann dem Papst ein Haarwuchsmittel zu verkaufen und will dafür mit einem Adelstitel bezahlt werden.

Die Allee der Leuchtkäfer blieb ein Fragment, ebenso wie die zweite, wesentlich kürzere Erzählung Flio. Darin geht es, verkürzt gesagt, um die Niederschrift und Verbreitung zweier Gedichtbände. Einer ist den Göttern der Lust und Ektase, ein anderer den Göttern von Arbeit und Disziplin gewidmet. So einfach diese Ausgangssituation auch klingt, so schwierig ist der Text zu lesen, der eher aus einem kleinen Konvolut aus Notizen und vorbereitenden Skizzen besteht und durch zahlreiche Auslassungen – Roussel fügte z.B. Namen von Figuren und Orten erst kurz vor Erscheinen seiner Texte ein – den Lesefluss stark beeinträchtigen. (Das gilt leider auch für die merkwürdige Schriftart, in der das Buch gesetzt ist, was bei 150 Seiten jedoch zu verschmerzen ist.) Zudem erscheint es merkwürdig offensichtlich, dass die Verwechslung beider Gedichtbücher zu einer Katastrophe führt, was dem Aberwitz der vorangegangenen Erzählung nicht unbedingt gerecht wird.

Wer das bisher verfügbare Werk Raymond Roussels bereits zu schätzen weiß, wird mit diesem fragmentarischen Band seine Freunde haben, da er zum einen Einblick in Roussels Schreibprozesse gibt und zum anderen eine Art „Bonuserzählung“ für Freunde von Locus Solus bereithält. Zu entdecken ist Roussel nach wie vor eher mit dem bereits erwähnten  Chiquenaude und andere Texte aus früher Jugend.

 

Raymond Roussel
DIE ALLEE DER LEUCHTKÄFER / FLIO
Übersetzung und Textauswahl: Maximilian Gilleßen, Gestaltung: Anton Stuckardt
zero sharp
2015 · 144 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-945421-02-4

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