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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Andenken an eine mutige Frau

Hamburg

Allein dem Weg, der Paul Glaser in seine Vergangenheit führt, hätte er ein ganzes Buch widmen können. Wie zufällig stolpert er über ein Indiz, das auf ein Familiengeheimnis und ein großes Schweigen hinweist. Seine jüdische Identität offenbart sich ihm in Auschwitz, wo sein eigener Nachname auf einem Koffer geschrieben steht. Die Suche, die mit diesem Koffer beginnt, die Suche nach den Details der eigenen Familiengeschichte, die zugleich in die Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Schrecken verwoben ist, ist nur die Rahmenhandlung für „Die Tänzerin von Auschwitz“. In diesen Rahmen spannt Glaser ein plastisches Bild von einer jungen Frau, die er bis dahin als entfernte Verwandte und Tante kennt. Er bedient sich der literarischen Erzählung, um die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten und macht diese Geschichte in Form seines Buches öffentlich zugänglich.

Wenn Glaser aus seiner eigenen Perspektive spricht, haftet seinem Erzählen eine charakteristische Neugierde an. Es ist die Neugierde einer jüngeren Generation, die die Traumata der Elterngeneration verstehen will. Dabei trifft er immer wieder auf taube Ohren und rührt Erinnerungen auf, die in seiner Familie verscharrt wurden. Glasers Familie kann in dieser Hinsicht nur Beispiel sein, sie ist mit Sicherheit keine Ausnahme. Glaser lässt sich allerdings von diesem Trauma nicht unterkriegen - er bohrt weiter. Die Suche wird ihn am Ende nach Schweden und lässt ihn mit der Frau, deren Geschichte er uns erzählt, in Kontakt kommen. Dieser Kontakt ist das Ende des Buchs und zugleich dessen Grundlage. Geschickt wird von Glaser die Gegenwart mit der historischen Vergangenheit verwoben. Die Vergangenheit selbst ist in eine persönliche und eine historische Ebene gespalten. So dauert Glasers Suche selbst viele Jahre, lassen sich die Geheimnisse und Traumata der Familie nicht so leicht entstauben. Doch seine Tante Roosje, die Tanzlehrerin und Holocaust-Überlebende, hat selbst Buch geführt und ein Archiv aufgebaut. Sie selbst schaffte damit die Grundlage für ein Nacherzählen und Erinnern. Folgen wir dem, was die fiktive Erzählerin berichtet, dann war dieses Erinnern eine Art von Überlebensstrategie. Durch die verschiedenen Stationen in Arbeitslagern hinweg schrieb Roosje nicht nur Briefe, sondern auch Tagebuch mit Erinnerungen an die Zeit vor der Verfolgung der Juden.

Dieses Davor ist für die junge Roosje eine Zeit der Freiheit. Roosje lebt frei, in dem sie sich schon früh wirtschaftlich unabhängig macht und als Tanzlehrerin ideologisch und ökonomisch auf eigenen Beinen steht. Glaser zeichnet das Bild einer Frau, die in der Blüte ihres Lebens mehr Möglichkeiten genießt, als viele andere Frauen in ihrem Alter. Glaser legt damit in dieser Charakterstudie die Grundlage für das Narrativ einer Frau, die sich durch Nichts einschüchtern lässt. Ihre ausgelebte und auch gedankliche Unabhängigkeit bringt sie in Konflikt mit ihrem Schwager, einem frühen Sympathisanten der Nazis und Patriarchen, der kein Widerwort duldet, erst recht nicht von einer Frau. Schutz erfährt sie von ihrem Mann nicht und so ist die Trennung auch nicht mehr weit. Die Psychologisierung von Roosje aber auch die der anderen Figuren gelingt Glaser nicht immer plastisch. Dennoch legt er den Grundstein für das weitere Geschehen - sowohl lokal als auch historisch. In den Niederlanden, die Glaser darstellt, finden die Ideen der Nazis fruchtbaren Boden. Sympathisanten und Komplizen helfen das Unterdrückungssystem schnell durchzusetzen. Dass bis 1945 grausame 70% der niederländischen Juden umkommen sollen, schockiert nicht, wenn man Roosjes Geschichte als Beispiel nimmt. Im Laufe ihrer Flucht beschwert sich eine Mutter, die Roosjes Bruder (Paul Glasers Vater) Unterschlupf gewährt, dass ihr jetzt, da sie keine Juden mehr beherberge, Geld fehle, das sie dringend brauche. Hilfe ist keine menschliche Geste, sondern die pure Gier nach Geld. Dieser Wesenszug Hollands soll Roosje noch einmal später begegnen.

Die Stationen in den Lagern bis hin zu Auschwitz erzählt Glaser in der löblichen Absicht, die Schrecken zu psychologisieren und ihnen eine Stimme zu geben. Dabei gerät er fatalerweise zuweilen in einen Plauderton, der auch die tragischsten Momente so wirken lässt, als seien sie um Beschönigung bemüht. Jetzt soll man Glaser nicht an seinen literarischen Fähigkeiten messen, denn er ist kein Berufsautor, aber dennoch geht der Erzählung die Dringlichkeit ab. Allzu agitiert und gespielt wirkt, was historisch grausam war. Darin liegt das Risiko des Buches: Glaser gibt seiner Tante eine Stimme, leiht ihr damit auch seine und muss damit rechnen zu scheitern. Es ist das Überleben, das in die Zeilen eingeschrieben ist und ein unerschütterlicher Optimismus. Dennoch: Glaser serviert keine leichte Kost. Die Grausamkeit der Mitmenschen und die Widerlichkeit der Konzentrationslager brauchen nicht noch eine Erzählung, wir kennen sie bereits. Vielleicht ist es auch einfach die Banalität des Bösen, die uns hier einen Streich spielt.

Eine der grausamsten Szene spielt sich bereits nach dem Krieg ab: Roosje sitzt noch immer im Auffanglager in Schweden, als sie Post von der holländischen Botschaft erhält. Der Inhalt: eine Rechnung über einen Mantel, den sie zu Beginn der Zeit im Lager erhalten hat. Die holländische Regierung stellt damit einer mittellosen Auschwitz-Überlebenden einen Wintermantel in Rechnung. Die Fortführung des Antisemitismus im Nachkriegs-Holland ist funktioniert zugleich institutionell und in den Köpfen der Menschen. Nicht nur wurde mehr als die Hälfte der holländischen Juden ermordet (was ohne die bereitwillige Hilfe in der Bevölkerung so effizient nicht möglich gewesen wäre), die Überlebenden wurden systematisch weiter diskriminiert. Kein Wunder also, dass die Familie von Paul Glaser ein Familiengeheimnis so lange und gut hüten musste, einfach um zu überleben. Das Denkmal, das er seiner Tante Roosje setzt, ist ein Stück Familiengeschichte. Auch wenn es literarisch nicht überzeugt, sind es die Fakten, die für sich sprechen und sorgsam von Paul Glaser zusammengetragen wurden. Wie tief der Schmerz und das Trauma noch immer sitzen und wie viele Menschen davon betroffen sind: dadurch kann man sich nach der Lektüre dieses Buches in Ansätzen ein Bild machen.

Paul Glaser
Die Tänzerin von Auschwitz
Übersetzt von Eva Schweikart, Barbara Heller
Aufbau Verlag
2015 · 286 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-351-03587-7

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