Unerbittlich gut
Zwischendurch stutzt man. Es ist nur ein Detail in dem als großer neuer amerikanischer Gesellschaftsroman gepriesenen Werk »Purity« von Jonathan Franzen. Aber es wirkt wie ein leicht schief eingesetztes Werkstück. Mittendrin in dem Buch gibt es einen Text im Text, knapp 200 Seiten lang. Andere machen aus so was einen eigenen Roman, bei Franzen ist es bloß ein Kapitel. Es geht darin um eine Ehe. Eine – gelinde gesagt – schlimme Ehe. Wir erfahren, daß die Frau deutlich neben der Spur ist, um nicht zu sagen: völlig durchgeknallt. Wir erfahren nicht, warum der Mann, aus dessen Perspektive erzählt wird, sich auf diese Frau eingelassen hat (den Aspekt, daß es in Beziehungen immer eine Entsprechung der Macken des einen im anderen gibt, unterschlägt der Autor an dieser Stelle). Aber wir erfahren, daß das böse Weib den armen Kerl zum Sitzpinkeln zwingt.
Kerl? Die Bezeichnung »Junge« wäre hier vielleicht angebrachter, auch wenn er erwachsen ist. Denn er berichtet, daß er, wenn sie ihn nicht hören und nicht sehen kann, ins Waschbecken pinkelt. Toll, nicht wahr? Welch eine Niederlage für den Feminismus. Welch grandiose Form der Rache. Und: Franzens Schilderung ist in diesem Punkt völlig ironiefrei. Was für den Rest des Buches Gott sei Dank nicht gilt.
Amerika, Deutschland, die Wiedervereinigung und die Vergangenheitsbewältigung, der Konsumterror und die allumfassende ökologische Gedankenlosigkeit, die Stasi und die Liebe, der Journalismus und der Größenwahn, das Internet und auch der Größenwahn des Internets – das sind, grob zusammengefaßt, die Themen von Jonathan Franzens Buch »Purity« (das im Deutschen eigentlich »Reinheit« heißen müßte, von Rowohlt aber aus unerfindlichen Gründen »Unschuld« genannt worden ist). Und noch etwas ist Thema: Schmerz, Schmerz, Schmerz.
Es gibt, neben einem ganzen Schwarm von Komparsen, drei Hauptfiguren: Purity, Tom, Andreas. Purity, genannt Pip, hat einen miesen Job und einen Haufen Studienschulden und keinen Vater. Jedenfalls verschweigt ihr ihre Mutter hartnäckig, wer der Vater ist. Also begibt sie sich auf die Suche und landet bei Andreas, der ihr dabei helfen soll.
Andreas ist in der DDR aufgewachsen und inzwischen ein weltberühmter und von der Welt auch hofierter Whistleblower, der irgendwo im bolivianischen Urwald sitzt, unerreichbar für die Strafverfolger. Er verfügt über eine Schar vorwiegend weiblicher Anhänger, die seinen Recherchestab bilden. Eigentlich aber ist der Begriff »Whistleblower« nicht zutreffend für Andreas. » Sexbesessener Egomane aus DDR-Parteibonzenfamilie mit ausgeprägter Beziehungsunfähigkeit, Geltungssucht und dunklem Geheimnis« – das wäre eine korrektere Berufsbezeichnung. Ja, wirklich: Berufsbezeichnung. Denn eigentlich befaßt Andreas sich den lieben langen Tag mit nichts anderem als mit sich selbst. Die Enthüllungen, der Ruhm – alles nur Staffage.
Pip landet im Fortgang der Geschichte auch noch bei Tom, der einen investigativen Onlinedienst betreibt und Andreas von früher kennt. Und es ist kein Zufall, daß Pip da landet – es war noch nicht mal Zufall, daß sie anfangs bei Andreas gelandet ist. Wie es kein Zufall ist, daß sie nicht nur ihren Vater, sondern auch die eigentliche Geschichte ihrer Mutter nicht kennt.
Ob Jonathan Franzen nun tatsächlich der von der Kritik vielfach gepriesene Erneuerer des klassischen Gesellschaftsromans ist, ist eigentlich unerheblich. Alle Erneuerung wird belanglos, wenn sie das Ziel des Schreibens ist. Denn dann kann man das Ergebnis nicht mehr lesen, das Produkt kehrt seine Absicht nach außen und verliert den Wert, den es für den Rezipienten hat. Also schreibt Franzen nicht, um den Roman zu erneuern, es passiert allenfalls nebenbei. Und das ist dann bloß von akademischem Interesse.
Was Franzen tut, ist: Er erzählt Geschichten von Macht und Ohnmacht, von Unterwerfung und Befreiung in gesellschaftlichen Systemen, ob das nun ein Staat oder die Familie ist. Meist dreht es sich bei ihm, wie in dem Weltbestseller »Die Korrekturen« (an den im Übrigen sein vielfach unterschätzter Roman »Schweres Beben« fast heranreicht), um die Familie. Es dreht sich in seinem Werk auch um den Kapitalismus und die Umweltzerstörung und die Globalisierung. Und in »Unschuld« dreht sich das halbe Buch um Sozialismus und das Internet. Aber am besten ist der Autor immer da, wo er seinen Figuren direkt auf die Pelle rückt oder gar unter die Haut schaut. Wenn er dahin vordringt, wo es wirklich weh tut. Da kann sich dann die ganze Tragödie einer nur noch aus Qual und Fassade und gnadenloser Liebe bestehenden Beziehung in dem kurzen Satz »Aber sie war unerbittlich gut zu ihm« konzentrieren. Was für ein Satz. Unschuldig ist in diesem Buch praktisch niemand.
Franzen beherrscht seine Erzähltechnik, anfangs völlig disparate Geschichten auch chronologisch durcheinandergewürfelt aufzudröseln und dann mit langem Atem zu einem Ganzen zusammenzuführen, mit erstaunlicher Leichtigkeit. Seine Kenntnisse der (ost-)deutschen Verhältnisse sind auch für einen Amerikaner, der lange in Deutschland gelebt hat, frappierend, und eine der treffendsten Charakterisierungen der spießigen, kontrollsüchtigen und tiefängstlichen DDR überhaupt ist Franzens Begriff von der Republik der Lächerlichkeit und des schlechten Geschmacks. Und wenn man an die Stelle kommt, an der er das Internet in Beziehung zum Sozialismus setzt, die gleichartigen Strukturen von Heilsversprechen und Totalitarismus seziert, das ist schon stupend – und nur ein ganz klein wenig belehrend.
Im Kern aber kreist Franzens neues Buch wie seine vier vorherigen und wie vier Fünftel der Weltliteratur um die Frage, wieso der Mensch ist, wie er ist. Tja, warum ist er so? Vielleicht, kann man bei Franzen zwischen den Zeilen lesen, weil Menschen einfach so sind? Obsessiv und liebevoll und verletzt und brutal und abhängig und voller Zärtlichkeit. Und einsam. Einsam mitten in einer Welt voller Menschen.
Oder auch: So einsam, daß sie sich lächerlich machen. Sie pinkeln in dasselbe Waschbecken, das sie höchstselbst zum Zähneputzen benutzen. Franzen hat angedeutet, daß die besagte Eheschilderung auch was mit seiner eigenen gescheiterten Ehe zu tun hat. Man kann das alles stundenlang analysieren. Warum Menschen sich gegenseitig kontrollieren und quälen und bevormunden. Man kann auch sagen: Manchmal tut einfach nur alles weh. Egal auf welcher Seite.
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