Einige Gedanken zu Schestows Apotheose der Grundlosigkeit
Astrologie und Alchemie haben ihre Zeit gehabt und sind eines natürlichen Todes verschieden, haben aber eine Nachkommenschaft hinterlassen: Die Chemie, die Farbstoffe entwickelt, und die Astronomie, die Formeln anhäuft.
Das schreibt Schestow im zweiten Teil des Buches und macht damit seinen Gegenstandpunkt zum europäischen Wissenschafts- und Aufklärungsmythos deutlich. Gleichzeitig aber verweist er damit auf die Grundlagen des kapitalistischen Rationalisierungsprozesses.
So manche Dissertation scheitert an der Form. Das liegt unter anderem daran, dass die deutsche akademische Praxis einem Wissenschaftsideal folgt, das sich letztlich schon im neunzehnten Jahrhundert als obsolet erwiesen hat, und das dem alchimistischen Gedanken folgte, dass die Welt auf eine einzige Formel, auf einen Punkt zu bringen sei. Das Überstehende, das Nichtidentische, wie Adorno es nannte, wurde kurzerhand weggeschnitten, Gedanken wurden passend gemacht.
Natürlich regte sich dagegen von Anfang an Widerstand, aber Arbeiten von Wissenschaftlern, die sich dagegen stemmten, wurden schnell für unwissenschaftlich erklärt und solche, die eine entsprechende Wissenschaftlichkeit simulierten, wie zum Beispiel die nationalsozialistische Rassenlehre galten lange Zeit als seriös, auch noch, nachdem sich der Nationalsozialismus in seiner ganzen Barbarei gezeigt hatte.
Felix Philipp Ingold ist es zu verdanken, dass nun so nach und nach die wichtigsten Texte des russischen Philosophen Lew Schestow in den deutschen Sprachraum dringen und in Apotheose der Grundlosigkeit wird sichtbar, wie sich ein Schestowsches Gedankenspiel konstituiert. Es sind nicht Grundgedanken, das würde dem Vorliegen widersprechen, sondern es ist ein Denken in Bewegung.
Der Autor, als Jehuda Leib Schwarzmann 1866 in Kiew geboren, starb 1938 im Pariser Exil, nachdem er 1921 geflohen war, um der Verfolgung durch die damals noch junge Sowjetmacht zu entgehen.
Schestow schrieb an einer Zeitschwelle in verschiedenster Hinsicht. Einerseits im Moment, da sich Europa am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in dramatischen und kriegerischen Prozessen anschickte, eine Gestalt zu geben, die den entfesselten kapitalistischen Produktionsprozessen entsprach. In eruptiven Entladungen schufen sich Erfindungen vom Dynamit über die Radiotechnik bis hin zu Kernspaltungstechnologien Raum und Beachtung.
Gleichzeitig mit dem, was forcierte Naturbeherrschung schien, entluden sich gesellschaftliche Destruktivkräfte wie Rassismus und Nationalismus. Was fest und beherrschbar schien, stellte sich als fluid und unbeherrschbar heraus.
Dennoch hielt zumindest die akademische Philosophie an der überkommenen Vorstellung fest, und sie tut es vielerorts noch heute, die Prozesse systematisch auf einen Punkt bringen zu können. Am meisten vielleicht in der immer wieder fast manisch betriebenen Rezeption der klassischen deutschen Philosophie, namentlich der Kant und Hegels.
Was aber lebenspraktisch nicht leistbar war, suchte sich einen Ausdruck in der Form und in den Institutionen wie Universitäten und Hochschulen. Dagegen formierte sich etwas, das aus akademischer Sicht als Versagen wahrgenommen werden musste. Nur ein Beispiel ist wohl Walter Benjamins gescheitertes Projekt einer Habilitation. Gedanken, die sich formal nicht bändigen ließen. Beredter Ausdruck dessen war sicherlich die Philosophie Nietzsches. Aber eben auch Denker wie Lew Schestow trieben über das Tradierte hinaus. Angesichts ihrer Arbeiten verloren Begriffe wie Wahrheit ihre angestammte Aura.
Im Vorwort zur Apotheose der Grundlosigkeit heißt es:
Die Gewohnheit konsequenter und systematischer Darlegung hatte sich auch bei mir schon weitgehend eingebürgert, und ich begann meine Arbeit in etwa nach dem Verfahren zu schreiben, dem ich schon bei der Abfassung meiner früheren Werke gefolgt war, schrieb sie sogar zur Hälfte aus. Doch je weiter die Arbeit voranschritt, desto unerträglicher und qualvoller wurde mir die Fortsetzung.
Was sich einer systematischen Abhandlung endlich entzog, wurde zu einer Ansammlung von Aphorismen und aphoristischen Artikeln, die hier nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.
Ingold schreibt in seinem Nachwort mit dem treffenden Titel Schwindelfrei zum Ende hin:
Mit Aphorismen im üblichen Verständnis haben die Schestowschen Kurztexte – ob sie nun ein paar Zeilen, oder ein paar Seiten umfassen – nichts zu schaffen, … – die Pointe soll der Leser selbst erwirken, und statt einem blossen Aha! wird ihm konzentriertes Nachdenken abverlangt.
Allerdings sollte man sich davon nicht abschrecken lassen. Man lernt in der Lektüre einem schwankenden Untergrund, sei es Lektüre, sei es Erfahrung, mit einem schwankenden Gang zu begegnen.
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