Tausendundeine Seltsamkeit
Dass Salman Rushdie erzählen kann, wissen wir. Insbesondere wissen wir, dass er vom Einbruch des Irrationalen in den Alltag glaubwürdiger Figuren in einer Art und Weise erzählen kann, die über blind-blöde "Sehnsucht nach einfacheren, märchenhafteren Zeiten" hinausgeht. Seit "Grimus", seinem ersten Roman, sind die Wunder und Seltsamkeiten, die Rushdies Figuren erfahren, so kindermärchenhaft sie zum Teil erscheinen, stets firm in den realen Diskursen zwischen Religion und Aufklärung verankert. Dass Rushdie diesen Zusammenhang als welt- und kulturenumspannend kennt, statt ihn bloß als ein sogenanntes "abendländisches" Phänomen beschreiben zu können (rationaler Okzident vs. irrationaler Orient und so weiter), macht seine Eskapaden umso interessanter. Bei alledem wissen wir auch, dass Rushdies Romane stets dem ungefähr selben Schema folgen: Jemand erfährt eine unerklärliche Verwandlung, Gabe oder zumindest Konizidenz (letzteres etwa in seinem "realistischeren" Roman "Wut") und nimmt die Mühen des Gregor Samsa auf sich, das Zauberische in die eigene Wirklichkeit zu integrieren, wobei die Einzelheiten stets darauf hin konstruiert sind, "auch" als pop-bunter Metaphernsalat auf je bestimmte realweltliche, blutig-ernste Zusammenhänge gelesen werden zu können. Gegebenenfalls ließe sich Rushdies ganzes Werk als optimistischerer Kommentar zu Kafkas "Verwandlung" und den Schrecknissen von Ovids "Metamorphosen" verstehen. Drittens wissen wir noch, dass Salman Rushdie New York liebt.
Soviel zum Universum Rushdie. "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" - also, klar, tausendundeine Nacht - gehört in dieses Universum.
Der Einbruch des Märchenhaften erfolgt diesmal nicht in die Lebenswirklichkeit eines oder weniger Protagonisten, sondern in die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst, was bei Rushdie klarerweise heisst: New York. Die diskursive Einbettung erfolgt über einen Generationen überspannenden Disput zwischen zwei islamischen Philosophen - der erste Protagonist des Buches ist Ibn Ruschd, latinisiert Averroes, dessen Werk eine machtvolle Kritik an der Vernunftskepsis und Glaubensstrenge seines Vorgängers al-Ghazali darstellt. In diesen Disput, der "über das Grab hinaus" geführt wird, mischen sich mächtige Dschinni ein, was sich hunderte Jahre später - 2015 - als Krieg der Dschinni niederschlägt, der auf dem Schlachtfeld unserer Erde ausgetragen wird. Die Gregor-Samsa-Figur ist der New Yorker Gärtner indischer Abstammung namens Mr. Geronimo. Zum Tummelplatz der Großmetaphern wird das Buch, da jene Dschinn, die auf Seiten al-Ghazalis stehen, sich in Afghanistan niederlassen und ein Bündnis mit den Taliban eingehen, während die "Operationsbasis" der Dschinnprinzessin, deren Liebe zu Ibn Rushd den Stein ins Rollen gebracht hat, in New York (wo sonst?) ist. Der Titel, tausendundeine Nacht, bezieht sich auf der Ebene der Handlung darauf, dass die "Zeit der Seltsamkeiten", also der Dschinnkrieg, genau so lange dauert; programmatisch verweist er uns richtigerweise darauf, dass das Buch als eine Sammlung von lose verknüpften phantastischen Geschichten funktioniert ... die einige Male ihrerseits die Wirkung lose verknüpfter Geschichten zum Gegenstand haben. An einer Stelle kommt denn auch eine Zauberschachtel vor, in der, matrjoschka-mäßig, immer noch eine Schachtel steckt, und noch eine, und noch eine, jede Schachtel eine Geschichte, und jede Geschichte dazu da, den Empfänger der Schachtel zu lähmen, abzulenken, zu vergiften.
Alles das macht ausgesprochen großen Spaß beim Lesen. Ein "Roman" im Sinne einer an irgendeinem bestimmbaren, einzelnen Subjekt festzumachenden Erzählung wird nicht daraus. Rushdie scheint das zu wissen, denn er führt über alle "Seltsamkeiten" hinaus noch ein "Wir" ein, das, aus einer fernen Zukunft heraus, diese Seltsamkeiten in einer Art von Geschichtsschreibung schildert; dieses "Wir" spricht von der Warte der vollends rationalen, entzauberten Welt, welche erst nach und wegen der in dem Buch ausgebreiteten "Zeit der Seltsamkeiten" möglich geworden sei. Das ist natürlich eine absichtsvoll widersprüchliche Konstruktion: In einer Welt, die nicht glaubt, sondern weiss, dass "Dschinni", "Körperdiebe" und ein "Berg Qaf" objektiv existieren oder zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt existiert haben, wäre Rationalismus bestenfalls als trotzig-fundamentalistische Geste denkbar.
Viele der kleinen Geschichten aus diesen "Zwei Jahre[n], acht Monate[n] und achtundzwanzig Tage[n]" erwecken den Eindruck, es hätte sie ihr Verfassers sie nach Bedarf aus seinem Ordner "Romanideen, aus denen nichts wurde" hervorgeholt und eher grob ins Gesamtgebilde eingefügt. Das erschwert dann jedesmal für einen kurzen Moment die willing suspension of disbelief; aber auch diese Störungen darf man als legitimes Rezeptionsphänpomen verbuchen, lebt das ganze Buch doch von Strategien der Uneindeutigkeit. Selbst auf der allerallgemeinsten Ebene lässt sich fragen: geht es um das letzte Aufbäumen und den anschließenden Niedergang des Irrationalen, oder geht es im Gegenteil darum, dass "wir" (s.o.) das Irrationale, das Träumerische, das weltanschaulich folgerichtig Problemtische eh nie loswerden?
Kurzfassung: Wer noch nichts von Rushdie kennt, sollte vielleicht erst eimal eher "Wut" oder "Die satanischen Verse" lesen. Wer die aber schon intus hat, wird in "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Tage" alles finden, was ihm dort (mutmaßlich) gefallen hat.
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