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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Clemens J. Setz

Nach der Prosa
Hamburg

In der Sitzdusche sitzt von alters her im warmen Nieseldunst die Postmoderne und grübelt in ihrem abgründigen Bauchnabel, auf dass den Speckfalten doch noch einmal eine Gürtelrose entspringe. Ich steckte mir diese Rosen schon immer gerne ans Revers und parfümierte mir mit ihrem Öl die Perücke. Welch Freude also, vielleicht, dass der Duschvorhang erneut gerissen, erneut ein Ross entsprungen, usw! Ja, soweit teile ich den allgemeinen Enthusiasmus bez. des Advents von Clemens Setz’ neuem Roman, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Nur, pflegt zu Stunden des Vorhangrisses nicht stets auch jemand den Geist aufzugeben? Forschen wir nach.

Das Personal des Romans ist vielzählig, gruppiert sich aber um drei Hauptfiguren. Die erste, ein Nerd Anfang zwanzig, heißt Natalie und arbeitet frisch als Betreuerin in einem Behindertenwohnheim. Sie mag ihr i-phone besonders und hat große Freude an schlechter surrealer Alltagspoesie (Straßenlaternen: Lichtkneipen für Insekten etc). Zudem war sie als Jugendliche, treu der Familientradition, Mitglied einer Sekte, leidet unter Epilepsie und trinkt gerne den Lebenssaft ihr fremder Männer im Stadtpark. Die zweite Hauptfigur ist Rollstuhlfahrer und Stalker und, seit sich die Frau eines von ihm gestalkten Mannes seinetwegen umgebracht hat, Gast des erwähnten Wohnheims, betreut von Natalie. Die dritte Hauptfigur ist das Stalkingopfer, das seinem Stalker, aus zunächst dubiosen Gründen, regelmäßig Besuche abstattet. Der ganze Text besteht nun aus einem leichten Wabern dieses triadischen Beziehungsgeflechts. Die Unbekannte ist das Motiv für die Besuche des Opfers bei seinem Stalker, so dass in dem Maß, in dem sich Natalie das Motiv neu zurechtlegt, die Relationen zwischen den drei Figuren changieren. Das Umfeld, wie Natalies ehemaliger Freund oder die anderen Betreuerinnen, verändert sich entsprechend mit. Ansonsten ereignet sich über tausend Seiten nichts.

Es sind diese erzählerische Reglosigkeit und das dem Zeitgeist geschuldete Insistieren auf Zeitgeist, die die im Positiven bestimmenden Merkmale des Romans ausmachen: Der Verzicht auf den narrativen Vorwärtsdrang erlaubt es Setz, in Ruhe alle Winkel auszuleuchten, in die sich Natalie in ihren Handlungen und Gedanken verliert. Als hätte sie für ein Porträt Modell gesessen, ohne je länger aus dem vorgesehen Ensemble (Sessel, Gardinen, Vase) ausgetreten zu sein, erhalten wir ein penibel genaues Bild der Protagonistin. Die Genauigkeit dieser Darstellung verschafft schließlich einem obsessiven Welthaltigkeitsgestus Raum, der sich an Natalie entlädt. Die Nerdkultur ist der Mainstream des 21. Jahrhunderts, und die! Heldin steht wie ein Weihnachtsbaum geschmückt mit allen Gadgets dieses Mainstreams vor uns, eine App an jedem Zweig. Es vergeht keine Seite, auf der Setz nicht den Goldzauber der Netzamerikanismen vor unseren Augen gleißen ließe, dass man schon verschüchtert nach Omas Rayban greift. Das wäre sehr flach, wenn es nur darum ginge, den Zeitgeist zu schildern. Aber es geht Setz um mehr.

Denn der Welthaltigkeitsgestus selbst ist nicht nur Teil des Romans, sondern auch der Welt Natalies (meiner Welt), die das Update nicht nur vollzogen, sondern öffentlich, mit Hurra, vollzogen haben möchte, und so schildert der Roman nicht nur den Zeitgeist, sondern ist selber Zeitgeist, beschreibt ihn nicht nur, sondern vollführt ihn mit, um ihn dadurch erst richtig zu fassen. Nun ist der Zeitgeist zwar eine fürchterlich abgestandene Substanz, die gemeinsam mit ihrem englischen Vetter zeitgeist ihre intellektuelle Haltbarkeit längst überschritten hat; und der Grund dafür ist wohl nicht, dass es nicht vage so etwas wie einen Zeitgeist gäbe oder dass es nicht insgesamt wünschenswert wäre, dass ihn die Literatur einfange, sondern dass das Wort selbst alle Kraft verloren hat, sei es wegen der plattitüdenhaften Verwendung in halbgebildeten neobürgerlichen Haushalten oder der banalen Art und Weise wegen, in der sich die Literatur oft um den Nerv der Zeit, den Zeitgeist, den Geist der Zeit, den Zeitnerv reißt. Aber da all das bereits in den Gestus von Setz’ Roman eingebaut ist, entkommt er nicht nur der Banalität, sondern erreicht es tatsächlich, stringent zeitgemäß zu sein.

Meine Perücke duftet also, könnte man meinen, prächtig vom Öl dieser Rose, dass ich sie getrost auf meiner Glatze wippen lassen dürfte, um allen Landen einmal mehr die frohen Parfümnebel der Postmoderne zukommen zu lassen. So würde die olfaktorische Überrumpelung denn auch gelingen, wenn man die Setzschen Düfte nicht alle schon längst errochen hätte, wenn nicht schon seit den Fünfziger oder Sechziger Jahren die gleichen Noten den Cirrostratus des Literaturgeschäfts bildeten, wenn Natalies Cumcookies nicht so abgestanden wären wie das Sauerkraut unter den Würsten des Räuber Hotzenplotz. Um aber noch nicht zu weit vorzupreschen, sei erst zugegeben, dass Die Stunde zwischen Frau und Gitarre unter Clemens Setz’ bisherigen drei Romanen bestimmt der gelungenste, da fokussierteste und ausbalancierteste ist und neben dem Erzählungsband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes sein nachhaltigster Text. Es sei ebenfalls geschenkt, dass der Roman rein aus der deutschen Literatur heraus betrachtet neuartig usw ist. Aber Setz’ Vorbilder sind ja auch nicht primär in der deutschen Literatur zu suchen, sondern in der amerikanischen, aus deren Warte seine Romane nun epigonal wirken, ob die früheren oder der neueste.

Natalie ist ein postmoderner Schlehmil in der Tradition von Thomas Pynchons Benny Profane, die Versehrten im und ums Wohnheim sind wie dem Standardarsenal David Foster Wallace’ entnommen und vielleicht klingt im Hintergrund auch noch die klaustrophobische Aggression à la William Gass mit. All das ist per se natürlich nicht schlecht, könnte sogar sehr gut sein, aber es lädt die leidige Frage ein, was denn, fünfundfünfzig Jahre nach V., zwanzig Jahre nach Infinite Jest und The Tunnel oder zehn Jahre nach The Pale King, Die Stunde zwischen Frau und Gitarre noch groß beizutragen habe. Ich weiß darauf schlicht keine Antwort. Natürlich ist alles zeitlich angepasst, denn weder Benny Profane noch Räuber Hotzenplotz hatten ein i-phone. Natürlich wird ein anderer Zeitgeist eingefangen, denn wir leben und schreiben jetzt und nicht früher. Und natürlich ergibt all das einen durchaus interessanten Roman oder zumindest einen Roman, der sehr viel interessanter ist, als das meiste, was sonst auf den Markt kommt. Aber im Vergleich mit seinen Vorbildern, den Setz weder scheut noch scheuen kann, bleibt es doch sehr ungewiss, ob es sich hier um einen relevanten Roman handelt.

Es ist aber nicht nur diese übermäßige Traditionalität, die dem Text schadet und durch die er sich negativ von den Texten derselben Tradition abhebt, sondern auch seine merkwürdig schwache Prosa. Teilweise ist der Roman sprachlich so abgedroschen, dass man sich schon auf das baldige Eintreffen Ron Weasleys oder Klößchens zu freuen beginnt. Die ?!Helden grinsen angesichts der Anführungszeichen häufiger als sie sprächen, der Duktus ist „genervt“ und leidet an Akne, und wäre die Handlung nicht gänzlich ohne Abenteuer, würde das Jugendbuch zur Gewissheit. Zum müden Ringelreihen der hohlen Phrasen gesellt sich schließlich eine poetische Einfallslosigkeit, die den Leser erschreckt wie der leere Blick eines Managers in der Midlifecrisis. Pynchon ist kaum in der Lage, einen Satz zu schreiben, der vor Witz keine Purzelbäume schlüge, Wallace besaß nie die Fähigkeit, einen Nebensatz nicht zum doppelten Boden werden zu lassen, und Gass müsste sich sehr anstrengen, um nicht jeder Präposition eine genau geschliffene Bedeutung zukommen zu lassen. Die Prosa dagegen, die uns Setz vorlegt, ist fahl, bleich, fahl.

Fast vermutet man, dass Setz den Kampf um die gute Prosa absichtlich aufgegeben hat! Die Zeit der schönen Literatur ist vorbei, ausgeläutet vom Campanile in Graz, jawohl, so muss es sein: Es ist Setz’ Projekt, die Prosa zu überwinden! Hiermit rettet das Feuilleton den Fish’n’Chips den Rang, denn es ist erst die losgelöste Druckerschwärze, die dem öligen Kabeljau die kulinarischen Höhen eröffnet... Nein, auch das ist kein Ausweg. Zunächst wäre die Prosa zu überwinden auch nicht der Beitrag, der den Roman aus der Epigonalität befreien würde, da die Prosa schon vielfach und erfolgreich überwunden worden ist, zuletzt besonders idealschön von Mark Leach in Marienbad My Love. Zweitens hat hier eher die Prosa den Autoren überwunden als umgekehrt. Denn man merkt den Sätzen an ihrer gutbürgerlichen Ungelenkigkeit an, dass es schon darum gegangen wäre, eindrückliche Mobiles zu konstruieren.

Ich kann nicht genug betonen, wie schade es um diesen Roman ist. Nun gut, er mag etwas epigonal sein, da er es nicht vermag, der hyperkomplexen postmodernen Literaturtradition besonders viel Neues zuzuführen. Aber Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ist keinesfalls obsolet. Vielmehr handelt es sich um den ersten wirklich ernstzunehmenden deutschsprachigen Roman der nicht nur auf diese Tradition reagiert, sondern fest in ihr verankert ist. Damit nimmt er in der zeitgenössischen deutschen Literatur eine Sonderstellung ein und hat alle Aufmerksamkeit verdient. Aber dass bei diesem Ereignis ausgerechnet die Prosa den Geist aufgegeben hat, das, mit Verlaub, verärgert mich. Wer so viel Zeit und Energie aufwendet, um einen Großroman zu schreiben, der sollte sich mehr um die Sprache kümmern, die zumindest überhaupt erst das Vehikel abgibt, das das literarische Unterfangen stützt. Andernfalls darf man, kann man, muss man das Unterfangen für zuletzt gescheitert halten. Auf diesem Standpunkt beharre ich, sei auch Sintflut, Donnergrollen und Pest und Cholera, Gez. Marquis Prosa.

Clemens J. Setz
DIE STUNDE ZWISCHEN FRAU UND GITARRE
Suhrkamp
2015 · 1021 Seiten · 29,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42495-7

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