Prärie spüren: Daniela Seels neuer Gedichtband
Lange kam ich bei Daniela Seels neuem, zweitem Gedichtband was weisst du schon von prärie nicht über die erste der unter insgesamt zehn Überschriften gesammelten Textgruppen hinaus. Das lag in keiner Weise an mangelnder Qualität sondern an deren Übermaß. Unter Territorium, flimmern, das ich, bevor ich zu den folgenden Kapiteln abheben konnte, immer wieder lesen musste, hatte ich so intensiv teil an einer Stimmwerdung, dass ich nachfolgend immer völlig erschöpft gewesen bin vom Mitvollzug des Prozesses, der sich zwar im Text ereignet, aber direkt mit Wucht auf und in meinen Körper gewirkt hat: „Eins heißt Jetzt rede ich“ (S. 9). Es spricht kein lyrisches Ich, keine vorgewordene, gebündelte Perspektive, die sich nun in einer wie auch immer befindlichen Stimmung ausdrückt, sondern es sagt sich im besten Sinne ein Textsubjekt aus: ein Ich, dass sich über ein immer wieder neu ansetzendes, manchmal zögerliches, manchmal vorpreschendes Sagen formiert, „Ich wurde geboren, ich strecke die Zunge durch eine Wand, zeige Welt an“ (S. 11), und so zum Körper und zur gegenüberstehenden Wirklichkeit kommt: „Zu Wänden sprechen, sich in Verhältnisse setzen“ (S. 9). Ein Ich, das sich nicht einrichtet in den kristallisierten Formen seiner Habitualitäten und gesellschaftlichen Rollenvorgaben, denn „Wann ist es warm genug in einem Nest?“ (S. 12), ein Ich, das sich seine stützenden Handreichungen selbst erspricht, das sich nur zeitweise als momentanes Ensemble in den Beziehungen zu fassen kriegt, um sich genau in diesem Ins-Verhältnis-setzen immer wieder neu zu verlieren. Identität als Ereignis, keineswegs voraussetzungslos, aber grundlegend offen durch das Abweichen, durch die Verbindung mit dem immer Anderen als Außer-sich-Stehen: „Ich passiere. Es im Umgehen, Umgang, zu pflegen“ (S. 13).
Dabei wurden die eigentlich anathematisierten Axiome meiner Lebensbewegung unsicher, immer fragiler mit nochmaligem Lesen: das identifizierende Erkennen von Dingen, die Vertrautheit meines Körpers werden fremder und fremder, als Eigenes bleibt nur das Aussprechen, das auf einem Mal in seinem ganzen Potential erscheint, alle Körper zu befragen und darin traulich zu machen. Und auch die ursprüngliche Leerstelle, das eigene Fleisch, wird auf einmal uneinheitlich, wird im Verbinden Teil einer parzellierten Wirklichkeit: „Von Ohren aus expandieren, sich schmiegen, da, um Gletscherwiesen“ (S. 11). Die große Stärke dieser Stimme ist, dass die Bedingtheiten unklar werden, dass nicht mehr auszumachen ist, was was wahrnimmt, versteht oder impulsiert: „Luft filtert ein, zeichnet Lungen“ (S. 11). Bewusstsein, Körper und Welt vernebeln sich in gemeinsamen Atmosphären, die sich verdichten ohne zu binden, ihre Teile wieder kondensieren lassen, um sich in neue Konstellationen zu begeben: das ist die große Freiheit, das Atmen-lassen dieser Texte, das sich mir überträgt. Auch dass sie offen sind, nichts verschließen sondern mir in meinem Herantragen, meinen verschiedenen Ansatzpunkten völlig vertrauen: schon entsteht diese flüsternde Nähe, die ich suche und die mich glücklich werden lässt, auch wenn ich mich aus ihr wieder ausnehmen muss. Die Gedichte führen niemals vor sondern aus. „pochende unruhe, beginnt was. impuls, der auf abstoßung dringt. dringlich. von etwas weg, auf etwas zu, auf der kippe“ (S. 71). Sie bringen zum Verstehen, dass Veränderung aus der Irritation von Gewöhnlichem entsteht, neue Erfahrungen aus der Ent-stellung: „Dann diese, die blattförmige Störung. Entfremdet meiner Versenkung“ (S. 14). Und dass Gedichte insofern ein utopischer Raum sein können, als sie Unsichtbares sichtbar, Lautloses hörbar, Ausdehnungsloses fühlbar zu machen in der Lage sind.
Wie bereits in Daniela Seels erstem Band ich kann diese stelle nicht wiederfinden verbinden sich viele Texte thematisch durch ihre Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Raum, Orten, Landschaften und durch das Einlassen der Brüchigkeiten, die sich dabei einstellen. Die sich artikulierende Stimme ist unterwegs, reflektiert dabei aber durchgehend die Formfallen der Fremde und setzt sich dadurch von ihnen ab: Exotismus, entrückte Verzückung, Affirmation. An mehreren Stellen entsteht im Textsubjekt Unbehagen gegenüber der Kulturtechnik des Ausblicks, des panoramatischen Sehens: seine Machtstruktur als ästhetischer Kontrollversuch über eine unkontrollierbare Natur wird dann deutlich. Die Struktur des Anthropozäns, auch das menschliche Gewaltnehmen dringen durch, doch finden sich dort neue Möglichkeiten einer symbiotischen Beziehung von Mensch und Natur, wo das Menschliche fast zum Verschwinden kommt, seine Kulturreste eine unerbittliche Störung bilden: in den leergeräumten Landschaften der amerikanischen Wüsten (Aurora), der isländischen Vulkan- und Gletscherlandschaften (Saga), der Kälteschilden und Steppen (Fibel und was weißt du schon von prärie) und der verlassenen Industrieparks (von der Autorin aufgenommene Photographien machen diese Orte im Band auch visuell präsent).
„ […] Woran Fremde/mikroskopisch zerstiebt, schüttelt von Schultern Prärie, rippenlicht. Ihre/Muskeln prosodisch. Denk an frühe Nächte im Park. Kein Feuer machen./Kein Müll hinterlassen. Nicht innehalten angesichts solcher Landschaft.“ (S. 14)
Das Räumliche wird körperlich, das Körperliche räumlich, sie finden sich korrelierend zusammen in einem einzigen prekären Organismus der Wahrnehmung und des Verstehens, bei dem nicht klar ist, welcher Teil auf welchen achtgibt, von wo die Affektion ausgeht. „Und mit mir ein Schwindel von Leere, einer Welt, die nichts zurücknimmt“ (S. 17). Diese Form ist so beweglich, dass auch historisches und politisches Hintergrundrauschen integriert werden kann, ohne allzu gewollt oder herbeigesucht zu wirken: so gehen die Texte unter Saga vom Über-setzen auf die Insel aus („Ich kam durch sichere Drittstaaten, Sporen am Schuh“ (S. 18)) und bewegen sich über die Nennung der womöglich ersten Frau, die den Atlantik überquerte, Gudridur Thorbjarnadottir vom Snaefells, über den Sklaven Enrique Melaka aus der Flotte Magellans bis zu den politisch-ökonomischen Bedingungen von interkultureller Begegnung: „Keine Schifffahrt ohne Umsatz von Körpern in Arbeit, Ware, Schweigen, Mission, Kapital“ (S. 19). Seels Form kann so viel von der Welt einholen, kann so problemlos das Problematisieren der Trias race-class-gender im Gedicht platzieren, dass die englischsprachigen shots und eine Wendung wie „induzierte Mandelbrotdisziplin“ (S. 57) nicht ins Zeitgenössische oder Wissenschaftliche bemüht sondern begründet wirken, ein Zitat aus den Merseburger Zaubersprüchen nicht bildungsbeflissen sondern beschwörend wirkt. Die Sprache ist oft einsätzig, einsetzend, Notatstil, abgeschabt, aber klanglich fein ziseliert. Mehrmals musste ich an Gertrude Steins Tender Buttons denken (das Kapitel Rost Pfiff im vorliegenden Buch ist eine homofone Teilübertragung des Kapitels Roast Beef aus Steins Band). Über die meisten Texte hinweg hat die Sprache, ohnehin aus der stimmlichen Haltung poetologisch gut begründet, bei mir großartig funktioniert, besonders weil der Rhythmus sich in harten Fügungen staucht, um sich dann wieder ins Losere zu öffnen. Gerade zum Ende des Bandes hin (z.B. an einigen Stellen im namensgebenden Kapitel was weisst du schon von prärie) wird er mir jedoch zu stottrig und schroff, scheint er mir in einen automatisierten Leerlauf zu geraten, hätte ich mir mehr Entspannungs- und Ankommensflächen gewünscht. So hat mich die Sprache an wenigen Stellen mehr ermüdet als getragen oder herausgefordert: dies mein einziger Kritikpunkt, der aber ja nun eine Stimmung ist, und sich bei anderen LeserInnen mit anderen Einstellungen und Voraussetzungen vielleicht nicht besonders bemerkbar macht:
„[...] jetzt die/fassung verlieren. und wiederfinden. sich umsortieren, wo/zugehörig, gestreut souverän. oder flocken, von eroberung//frei. soll das so kalt sein hier. das tempo anziehen. während wir springen, wechselt das wetter. sonnenflecken, durch flechten/steppe, unstete plätze, im flug zusammengesetzt. spukkraft,/verdacht auf. ich klopfe die wand ab. gedreht, gedreht, bis// was passt. [...]“ (S. 59)
Am Ende des Bandes finden sich zwei kurze poetologische Kapitel, Fuchsia und das amortisiert sich nicht, die Titel. In Ersterem findet Daniela Seel ein tolles Bild für die angezielte Form ihrer Gedichte: Mobiles, die in der Lage sind Gleichzeitigkeit, „mit-anwesenheit“ zum Entstehen zu bringen, ohne die Linearität des Textes zu verneinen.
„ich suchte eine form, die beweglich ist und trotzdem treffend und die denken kann. die vorstellungen freisetzt, statt durch zu viel beschreibung zu beschränken, die erfahrungen lieber bereitstellt, als sie mitzuteilen“. (S. 69)
In Letzterem beschreibt Seel Gedichte als Erkenntnisinstrumente und Orientierungshilfen für die Wahrnehmung, „Geländer“, die sich durch ihren Ort außerhalb jeglicher Verwertungszwänge, Rollenmuster und Gattungsvorgaben in ihrer „unaufdringlichen Dringlichkeit“ rezipieren lassen.
„Gedichte liegen offen da, zugriffsbereit. Sie stellen nicht nur aus, woraus sie gemacht sind, sie fordern auch auf, sich darin nach verschiedenen Seiten zu drehen und zu bewegen, nicht bloß nachzuvollziehen, sondern im eigenen Denken das Eigensinnige allererst zu vollziehen.“ (S. 74).
Durch ihre poetologischen Statements legt Daniela Seel den Anspruch ihrer Texte an sich selbst offen, so dass sich sagen lässt: ihre Texte halten ihn völlig ein. Die in diesem Band – für mich einem der Wichtigsten der letzten Jahre – gefundene Form des Sprechens werde ich noch lange, lange begleiten, mich immer wieder von ihr beraten lassen, sie heranziehen: die Form ist so gegenwärtig wie anthropologisch universal, sie lässt frei und fokussiert, sie ist beweglich und doch nicht beliebig, kann für den kleinsten Vorgang aufmerksam sein und schneidende Fragen stellen, kann sich dem Konkreten wie dem Abstrakten, dem Fremden wie dem Eigenen gleichermaßen öffnen. Dieser Band kann einfach alles, er ist unglaublich, seine Stimme „Ein Satz wie ein Seil“ (S. 14).
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